Das Altpapier am 03. Juni 2020 Ist gesharetes Leid halbes Leid?
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03. Juni 2020, 11:00 Uhr
Oder wird es bloß (mindestens) verdoppelt? Nur eine von vielen Fragen zu den Protesten in den USA und dem Video von George Floyds Tod, das sie auslöste. Führende Facebooker twittern Zuckerberg-kritisch. Und das deutsche NetzDG reitet wieder. Die Bundesjustizministerin hofft auf eine Viertelmillion beim BKA gemeldete Hass-Kommentaren. Außerdem: Die Presse nennt das neue Rezo-Video "methodisch fadenscheinig", und noch neuere Rezo-Videos sind auch schon online. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
- Gewalt nicht nur, aber auch gegen Journalisten
- Eher wichtig? Eher schlimm? (Das Video von George Floyds Tod)
- Das deutsche NetzDG reitet wieder
- Argumentiert Rezos Video "fadenscheinig" (und ist Rezo jugendlich)?
- Altpapierkorb (Medienwächter gegen Pornoportale, maltesischer Mordfall, Kritik der Lisa-Eckhart-Kritik, deutsches App-Datenleck, "Dieser Versuch ist gescheitert")
Gewalt nicht nur, aber auch gegen Journalisten
Achtung, hinter den ersten beiden Links verbergen sich blutige Bilder, die sensible Menschen nicht unbedingt anklicken sollten, obwohl es sich nicht um die wesentlich fürchterlicheren Bilder handelt, die zeigen, wie George Floyd ums Leben gebracht wird. Hier bei vox.com (nicht der gleichnamige RTL-Fernsehsender) wäre bloß ein blutiges Gesicht mit nicht mehr weißer oder hellblauer Mund-Nasen-Bedeckung zu sehen. Hier auf nytimes.com blutet das Gesicht nicht mal; allerdings hat die Fotografin Linda Tirado ihr verklebtes linkes Auge für immer verloren, nachdem sie, ebenfalls in Minneapolis, von einem von der Polizei abgefeuerten Gummigeschoss getroffen wurde.
Bebilderte Überblicks-Artikel über Gewalt gegen Journalisten, die über die US-amerikanischen Demonstrationen berichten, gibt es seit Tagen viele, etwa den englischsprachigen pressfreedomtracker.us oder bei der taz. Etwas zu dokumentieren und zu verbreiten, ist eines der geringsten Probleme. Eine Einordnung liefern, ebenfalls mit weiterführenden Links, die deutschen Reporter ohne Grenzen. Deren Christian Mihr sagt:
"Es war vorauszusehen, dass die Art von Präsident Trump, die Medien zu dämonisieren und ein klares Feindbild aufzubauen, tatsächlich zu Gewalt führen würde. Die beispiellose Brutalität, mit der sowohl die Polizei als auch Protestierende in den vergangenen Tagen auf Reporterinnen und Reporter losgegangen sind, ist das Ergebnis dieser feindseligen Rhetorik."
Das heißt, in den eingangs gezeigten Fällen ging die Gewalt von Seiten der US-amerikanischen Polizei aus, was nicht bedeutet, dass Gegenseiten, die offenbar auch unter falschen Flaggen agieren ("Rechte geben sich als Antifa aus, um Gewalt in USA zu schüren", übersetzt futurezone.at eine verlinkte NBC-Quelle) grundsätzlich gewaltlos agieren. Recht klar ist, wer die Situation, auch den Medien gegenüber, eskaliert hat. Unklar ist, wohin es eskaliert.
Medien, insbesondere bild-bestimmte, spielen eine große Rolle dabei. Das ikonisch gemeinte und gewiss so oder so (oder am ehesten: je nach Filterblase, so und so) bereits ikonisch gewordene Trump-Bibel-Bild, das heute etwa FAZ- und taz-Titelseite zeigen, und dessen gut dokumentierte Produktionsbedingungen, werden sicher noch lange eine Rolle spielen.
Eher wichtig? Eher schlimm? (Das Video von George Floyds Tod)
Der Frage, was all die Bilder, die in Echtzeit um die Welt gehen, auslösen, widmet sich mit gewohnter Wortgewalt Samira El Ouassil in ihrer uebermedien.de-Kolumne (€). Unter der Überschrift "Not sharing is also caring" geht es vor allem um die fürchterlichen Bilder:
"George Floyd ... stirbt vor der laufenden Handykamera der 17-Jährigen Darnella Frazier, die alles online veröffentlicht. Dadurch konnte sein Tod nicht in einer Polizeistatistik verschwinden. Das Video wird seither immer weiter geteilt. Immer wieder der Moment repliziert, in dem der weiße Polizist in den Nacken seines schwarzen Opfers kniet; immer wieder sein Sterben retweetet. Es sind unschaubare Bilder der Agonie, von unaushaltbarer Brutalität. Es ist wichtig, dass dieses Video öffentlich gemacht wurde, aber gleichzeitig kann, werde und darf ich es nicht teilen. Es ist retraumatisierend für Opfer rassistischer und/oder körperlicher Gewalt und reduziert George Floyd auf eine afroamerikanische Leiche, wie es in der amerikanischen Ikonographie schon viel zu oft der Fall ist ..."
Bilder, längst vor allem bewegte, werden geteilt, was das Zeug hält. Das wirkt sich unmittelbar und kurzfristig aus. Wie es sich mittel- und langfristig auswirkt, ist eine weitere Frage. Gegen Ende ihrer auch nicht kurzen Kolumne steigert El Ouassil sich in eine Ratgeberinrolle rein, was am besten in den sog. soz. Medien geteilt werden sollte:
"Teilen Sie Inhalte, die ihre Werte und Ideale vermitteln, machen Sie Akteure groß, die sich groß verhalten, geben Sie den Anständigen mehr Präsenz. Zeigen Sie zum Beispiel die Demonstranten, die verhindern, dass Geschäfte geplündert werden ..."
Nun ja, Facebook ist gleichgültig, was genau geteilt wird. Hauptsache, es ist viel. Das, was die meisten Interaktionen erzeugt, wütende oder affirmative, am beste beides, weil es sich gegenseitig hochschaukelt, erscheint am sichtbarsten in den meisten Timelines. So funktionieren sogenannte soziale Medien. Oder ändert sich bei Facebook etwas? "Zuckerbergs Umgang mit Trump löst Aufstand aus", berichtet in angesichts sonstiger Ereignisse wohl leicht übertriebener Metaphorik die Süddeutsche.
Während der zwar ebenfalls schwerreiche Chef der allerdings deutlich kleineren Plattform Twitter, Jack Dorsey, sich bekanntlich durch kleine blaue Ausrufezeichen (Altpapier gestern) gegen den Präsidenten positionierte und so eine Gesetzesänderung-Iniative mit ungewissem Ausgang auslöste, biedert Facebook-Chef Mark Zuckerberg sich bei Donald Trump weiterhin an. Daher "rebellieren" nun Facebook-Mitarbeiter, etwa indem sie Zuckerberg-kritisch twittern. "Teils anonym und teils namentlich bezogen sie Stellung gegen ihren Chef. Berichtet wurde auch über koordinierte Arbeitsniederlegungen in den Home Offices. Intern dürfte Feuer am Dach sein" (Standard). Es gehe, so Simon Hurtz in der SZ,
"um eine grundsätzliche Haltung: Will Facebook eine Plattform sein, auf der Politiker fast alles sagen können, egal welche Konsequenzen es haben könnte? Oder gelten Facebooks eigene Regeln auch für Politiker, egal welches Amt sie innehaben?"
Nun ja, da könnte ein bisschen viel Digital-Sozialromantik noch aus der Zeit mitschwingen, in der viele an die "Don't be evil"-Phraseologie des Silicon Valley geglaubt hatten. Dabei haben sich Facebook, Google und Co. schon immer mit den Mächtigen der für sie relevanten Märkte arrangiert, wie es Manager von, zum Beispiel, Autokonzernen ja auch tun (bloß dass deren Konzerne niemals vergleichbar exponentielles wachsen konnten).
Das deutsche NetzDG reitet wieder
Sollte Trumps Regierung sogar nach der nächsten Wahl im Amt bleiben und am US-amerikanischen Providerprivileg drehen, könnte das ähnlich globale Auswirkungen haben wie de Erlass dieses Privilegs in den 1990ern. Oder gelingt es europäischen oder deutschen Gesetzgebern, sich davon etwas unabhängiger zu machen? Wie praktisch, dass die taz just die Bundesjustizministerin dazu interviewt! Es geht gleich groß los. "Frau Lambrecht, Sie wollen soziale Netzwerke verpflichten, rechtswidrige Hass-Postings dem Bundeskriminalamt zu melden. Wo in der Welt gibt es so etwas?", fragt Christian Rath.
Christine Lambrecht: "Eine solche Meldepflicht für strafbaren Hass gibt es unseres Wissens bisher nirgends. Deutschland wird Vorreiter sein."
Die Sozialdemokratin, die seit einem Jahr im Amt ist, noch nicht arg viel Profil entwickeln konnte (allerdings auch keine sehr große Fußstapfen ausfüllen muss), will durchs neue "Gesetz zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes" "soziale Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern in Deutschland", die bereits unters von ihren Vorgängern gemachte NetzDG fallen, dazu verpflichten. Das sind Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und TikTok. Lambrecht rechnet mit zunächst 250.000 solcher Meldungen pro Jahr, die zu "rund 150.000 zusätzlichen Ermittlungsverfahren bundesweit" führen könnten, die dann 517 neue Mitarbeiter bei Bundeskriminalamt, Staatsanwaltschaften und Gerichten bewältigen sollen.
Auf die Beachtung, die Deutschlands Vorreiterrolle international erfahren wird, darf man gespannt sein. Und auf die Datenbanken, die auch die IP-Adressen enthalten sollen (Rath: "Wenn alle Meldungen zunächst beim BKA zusammenlaufen, entsteht dort nicht eine riesige Querulanten-Datei?" – Lambrecht: "Nein. Das BKA darf die von den Providern übermittelten Daten nur unter engen gesetzlichen Vorgaben speichern und weiterverwenden. In der Regel hat das BKA die Daten zu löschen...").
Argumentiert Rezos Video "fadenscheinig" (und ist Rezo jugendlich)?
Wie gut klickt der neue Rezo (Altpapier gestern)? Am Norgen hat er die Zwei-Mio.-Klicks-Marke noch nicht überschritten, dürfte es im Lauf des Mittwochs aber tun.
Und die von "Die Zerstörung der Presse" angesprochene "Presse" hat reagiert. Der BDZV hat nicht etwa ein PDF gefaxt, sondern einen Tweet des (sich von Rezo zurecht geschmeichelt fühlenden) Deutschen Presserats geteilt. Während elektronischere Medien lauthals ("ein Stück Medienkompetenz, wie sie in dieser Zeit mehr denn je not tut", meint Daniel Bouhs auf rbb24.de) oder zumindest nett ("solide Medienkritik, passabel strukturiert und verargumentiert", findet meedia.de) loben, äußern sich print-basierte Medien kritischer: "Schulfernsehen für die 2020er-Jahre. Eine plakative, damit sehr deutliche Erinnerung – für Publikum und Medienmacher", schreibt der österreichische Standard – was freilich nicht so negativ gemeint ist, wie es noch vor wenigen Monaten geklungen hätte. In pandemischen Zeiten wäre wirklich gutes Schulfernsehen ja wieder wichtiger geworden.
Rezo "erläutert seiner Community gute, wenn auch altbekannte Gedanken zur Verantwortung von Publizierenden", formuliert es die SZ-Medienseite. Da hat Aurelie von Blazekovic dann auch ins Kleingedruckte geschaut:
"Als Beleg für die Behauptung, 34 Prozent der Texte enthielten Falschbehauptungen, führt er eine von ihm selbst durchgeführte Faktenprüfung von Artikeln über ihn selbst an. Um darüber hinwegzusehen, dass das methodisch ganz schön fadenscheinig ist, muss man schon beide Augen zukneifen. Beispielsweise blendet er mehrere 'Unwahrheiten' ein, die höchstens streitbare feuilletonistische Diagnosen sind, sprich Meinung. Wer im verlinkten Excelsheet nachsieht, wie eine Textstelle faktisch falsch sein kann, in der steht, dass Rezo sich als Jugendlicher von nebenan präsentiert, liest Rezos Entgegnung: 'Nein, ich habe mich niemals als Jugendlicher dargestellt.' Mit der Wahrheit und wer über sie entscheidet, ist es vielleicht doch nicht ganz so leicht; der Aufruf an Journalisten, es besser zu machen, ist natürlich dennoch und immer richtig."
Gerade kommt auch noch Steffen Grimbergs taz-Kolumne rein ("Die eigene Zielgruppe zu unterschätzen trägt mittlerweile sportliche Züge") und es gäbe dann noch diverse Journalisten-Tweets wie diesen zu zitieren.
Doch sind, schwups, schon wieder die nächsten Rezo-Videos draußen, nicht direkt von, aber jedenfalls mit dem Youtuber. Markus Beckedahl hat ihn im Rahmen der "re:publica im virtuellen Exil" befragt. "Mit einem Bein im Journalismus" lautet die hübsch treffende Überschrift über zwei Videos (deren eines die "extended version" des anderen ist). Ich habe nur das kürzere, 26-minütige gesehen und würde sagen: Für Menschen, die schon lange in der Mediennische stecken, ist es deutlich interessanter als z.B. "Die Zerstörung der Presse".
Altpapierkorb (Medienwächter gegen Pornoportale, maltesischer Mordfall, Kritik der Lisa-Eckhart-Kritik, deutsches App-Datenleck, "Dieser Versuch ist gescheitert")
+++ Medienwächter haben es auch nicht leicht im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Selbst der Satz "Der Jugendschutz macht keinen Sinn, wenn jedes Kind vom Kikaninchen zu Pornhub wechseln kann", den Tobias Schmid von der Düsseldorfer Landesanstalt für Medien im April sprach, drang kaum durch. Nun analysiert Volker Nünning (Medienkorrespondenz), was dahinter steckt: ein konzertiertes "Vorgehen der deutschen Medienaufsicht gegen ausländische Porno-Portale". Vor allem im Blick hat die Jugendmedienschutz-Kommission von Zypern aus betriebenen Portale eines luxemburgischen Konzerns. Spannend könnte werden, ob deutsches Recht gilt oder eher, dem "Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie der EU" entsprechend, zypriotisches.
+++ Von einer "aufsehenerregenden Zeugenaussage" im Mordfall der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia berichtet die FAZ-Medienseite.
+++ Was bei epd medien inzwischen online steht: der am Freitag hier erwähnte Leitartikel "Der Wissenschaftsjournalismus muss gestärkt werden" von Annette Leßmöllmann vom Karlsruher Institut für Technologie, sowie die im Mai erwähnte Kritik der Lisa-Eckhart-Kritik.
+++ Eine deutsche App, der ein großer techcrunch.com-Artikel gewidmet wird? Jawohl, um tvsmiles.tv aus Berlin handelt es sich. Allerdings ist der Anlass kein positiver: eine entdecktes Leck, durch das persönliche Daten von Millionen Nutzern zugänglich waren.
+++ Und "Ich sehe jetzt: Wenn man (wie Alexis Mirbach) über Bill Gates und die WHO schreibt, ist es klug, auf das Problem des strukturellen Antisemitismus hinzuweisen und klarzumachen, dass man um die Gefahren weiß, die mit öffentlicher Elitenkritik verbunden sind. Wenn man über KenFM schreibt, sollte man die hegemoniale Diskursposition zitieren, die dieses Portal und seine treibende Kraft für 'rechte Verschwörungstheoretiker' hält (...). Als Sozialwissenschaftler kann und darf man diese Position auf der Basis von empirischem Material selbstredend in Frage stellen (...), sollte dabei aber ebenfalls die Ängste adressieren, die gerade in Deutschland historische Wurzeln haben ... Unsere Vorfahren haben zwischen 1939 und 1945 die Welt in Schutt und Asche gelegt und dabei vor allem dem jüdischen und dem sowjetischen Volk unvergleichbares Leid zugefügt. Aus dieser Schuld erwächst eine Verantwortung – auch und gerade mit Blick auf Männer, die in der Öffentlichkeit omnipräsent sind", schreibt Michael Meyen unter der Überschrift "Kontroverse um 'Medienrealität'" im gleichnamigen Blog (medienblog.hypotheses.org). Um diese Kontroverse ging es auch in diesem Altpapier. "Wenn zu ahnen gewesen wäre, welche Folgen die Veröffentlichung nach sich zieht, hätte ich ihn", Mirbach, "davor beschützt. Hier habe ich meine Fürsorgepflicht nicht erfüllt", schreibt er später, und noch später: "'Medienrealität' war ein Versuch, die unterschiedlichen Wissensbestände zusammenzubringen. Dieser Versuch ist gescheitert". Am besten lesen Sie selbst, es ist ein langer Text, der sehr nach Abschied klingt.
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
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