Das Altpapier am 27. Mai 2020 “The Rise of the image, the fall of the word“
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27. Mai 2020, 09:10 Uhr
Von Bleiwüsten, Studiosystemen und einer Kulturberichterstattung, die zwangsweise Retro wird. Was die Spanische Grippe mit dem Aufstieg Hollywoods zu tun hat. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Corona-Tote als Cover
Von vielen besonderen war das schon eine extrem besondere Ausgabe der New York Times, die da am Sonntag neben den Hash Browns und den “Sunny Side Up“-Eggs auf den Eichen-Frühstückstischen in den weitläufigen Apartments der Brownstone-Gebäude Manhattans landete (so stelle ich es mir immer vor, mir ist klar, dass die NYT erstens nicht nur in New York, zweitens nicht nur von den reichen Manhattanians und drittens überhaupt nur noch selten als Printausgabe gelesen wird. Aber die Szene ist einfach schöner.)
Die Idee, auf dem Broadsheetformat-Cover (ca. 30 x ca. 58 cm) in langen, kleingedruckten Spalten die Namen von Corona-Toten aufzulisten, ab und an unterbrochen von ein paar kurzen, freundlichen, beschreibenden Halbsätzen, erinnert an ähnliche Aktionen in Bezug auf politisch motivierte Morde. Etwa auf der Titelseite der taz vom 22.2., auf der die Namen der neun bei einem rassistischen Massaker in Hanau getöteten Menschen genannt wurde. Der dazugehörige Artikel berichtete von einer Demonstration gegen den rechten Terror unter dem Slogan “Say their names!“.
Wort schlägt Bild
Und jetzt, auf der Titelseite der renommiertesten, mit 17 Pulitzer-Preisen ausgezeichneten überregionalen US-amerikanischen Tageszeitung, sind es nicht die Opfer von politisch motivierten Hass-Morden, derer man fröstelnd gedenkt, während man ihre unbekannten Namen liest. Sondern Hunderte von bald 100 000 Opfern. Die NYT hat sich entschieden, dass das Wort – trotz großartiger Fotos ihre Kernkompetenz – das Bild schlägt. Denn bei der Frage, wie man das Eingeständnis diese grausigen “Milestones“ der 100 000 (so nannte es ein Redaktionsmitglied) angemessen begehen könne, stand lange auch die Idee im Raum, eine Collage mit unzähligen kleinen Fotos der Toten anzufertigen.
Im Endeffekt hat sich das Team unter Chefredakteur Dean Baquet und den verantwortlichen Lay Outer Tom Bodkin aber doch für den Text, für das “all-type“-Konzept entschieden – und damit bewusst an das Aussehen ihrer Zeitung in deren Anfängen erinnert: Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es bei der NYT lange Zeit keine modernen “Headlines“ mit dazugehörigen Bildern gegeben. Und die Ausgabe vom letzten Sonntag ist die erste seit 40 Jahren, sagt der Chef-Lay Outer, die ohne Bilder auskommen musste.
Hintergrundinfos in der Kunstpause
Es ist, als ob die Krise gerade die tagesaktuelle Berichterstattung tatsächlich in vielerlei Beziehung zurückschauen lässt. Auf das, was tatsächlich relevant ist (wie erst recht unwichtig erscheinen seit ein paar Wochen die “bunten“ News , die traditionell auf den letzten Seiten von Printprodukten erschienen, um den oder die Leser*in gutgelaunt zu entlassen); auf das, was Tageszeitungen einst liefern sollten (und es immer noch vielfach tun): Solide Hintergrundinfos. Im Rahmen der “Kunstpause“, wie der Zwangsstopp der Kultur vielerorts genannt wird (zum Beispiel in einer monothematischen Reihe in der Augsburger Allgemeinen), bekommen die wenigen stattfindenden Ereignisse (Serien- und Filmstreaming, Bücher, langsam wieder Ausstellungen) mehr Platz. Momentan sind sämtliche Tageszeitungen im Durchschnitt dünner – aber die Feuilleton-Texte sind länger. Wunderschöne, informative und umfassende Bleiwüsten erblühen nicht nur mehr in der FAZ, sondern auch bei taz und Tagesspiegel. Ich fände es eigentlich herrlich.
Spanische Grippe als Covid-Modell
Wenn die Zukunft der Kultur nur nicht so bedrohlich wäre. Unter anderem in der Welt wurde vor ein paar Tagen darauf hingewiesen, inwiefern der Ausbruch der Spanischen Grippe 1918 direkt mit dem Entstehen des Hollywood-Systems zusammenhing. Die Parallelen zur aktuellen Situation sah bereits Ende April auch die Tagesschau. (Wer den Originaltext zur Spanischen Grippe lesen möchte – er erschien am 8. April auf der Film- und Fernsehwebsite Deadline.)
Danach habe erst der Zusammenbruch der damals blutjungen Filmwirtschaft durch das Virus, das sämtliche Kinos zur Schließung zwang, die Dream Factory-Fabrikanten, die Blockbuster-Urväter und Star-Erschaffer möglich und groß gemacht, mit dem größten aller Strippenzieher Adolph Zukor, dem Paramount-Gründer, der angeblich konsequent und publikumswirksam nach dem Motto “famous players in famous plays“ handelte. Was, unfassbar passend zum Anlass dieses Textes, genauso in “The rise of the image, the fall of the word“, einem 1999 erschienenen Sachbuch des New Yorker Historikers, Publizisten und Journalismus-Dozenten Mitchell Stephens über Journalismus, und dessen Veränderungen vom Wort zum Bild, steht. Das Nachsehen hatten die Independent-Filmemacher und -Filmemacherinnen, die andere, sperrigere, mit unbekannten Talenten und Gesichtern besetzte Geschichten erzählen wollten, denen es nicht möglich war, opulent in großen Studios zu produzieren.
Da hat sich nicht viel geändert: Das Star-System ist auch noch in Deutschland aktiv - erstaunlicherweise gehen sehr viele Menschen gern in Jürgen Vogel-Filme, obwohl der Mann, bei aller Liebe, tatsächlich noch nie einen Film inszeniert hat. Wie denn auch, bei den vielen Jobs als Schauspieler. Ähnlich ist es selbstredend bei Robert de Niro- oder, noch schlimmer, Lady Gaga-Filmen.
Nochmal kurz zurück zu der Spanischen Grippe: Eine Sache, die Heuschrecke Zukor damals ebenfalls angeleiert hat, ist die (teilweise erfolgreich durchgeführte) Kontrolle der Filmstudios über die Kinos. Und ich setze meine Hoffnung stark darauf, dass das hier bei uns schon immer anders war, und noch immer anders ist, stärker, unabhängiger, kulturell freier: Hier gibt es unabhängige Arthouse-Lichtspielhäuser mit ebensolchen Kuratorinnen und Kuratoren. Die momentan zwar alle bangen, dass die neuen Hygieneregeln und der unordentliche, föderale Öffnungskuddelmuddel ihnen schwer zusetzen, sie gar vernichten wird. (Hier berichtet der Deutschlandfunk darüber.) Aber das ist eine andere Geschichte, und soll, nur wenn es nötig ist, ein anderes Mal erzählt werden.
Altpapierkorb (Schröder-Podcast, Ostfriesenwitz, neue Zeitschrift)
+++ Wieso ist das ein komisches Gefühl, dass jemand einen Podcast macht, der sich bislang noch nie als in irgendeiner Weise radioaffin herausgestellt hat? Weil es stark nach Narzissmus riecht, tut mir leid. Aber hören Sie selbst: Der Ex-Kanzler Gerhard Schröder in his own speech.
+++ Und es ärgert mich ja schon, dann ausgerechnet bei den Ostfriesen diese blöde Alle-Anstecken-Nummer gelaufen ist... im Landkreis Leer... wo man immer schon am Freitag sieht wer am Sonntag zu Besucht kommt... kann man dann nicht auch rechtzeitig die Maske... auf der anderen Seite ist das purer Zufall. Hier zur Ablenkung ein Ostfriesenwitz, der zu unserem Oberthema passt: Warum tragen Ostfriesen beim Zeitungslesen einen Sturzhelm? Weil sie Angst vor den Schlagzeilen haben. Süß.
+++ Lustigerweise hat die Burda-Gruppe gerade jetzt ein Heft herausgebracht, das sich im weitesten, affirmativsten, verkaufsförderndsten Sinne mit dem Thema “Socialising“ beschäftigt. Genuss & Stil. Hihi. Erinnert mich an die momentanen verzweifelten Versuche der Werbetreibenden, in ihren Clips das Zusammentreffen verschiedener Menschen ohne Maske möglichst zu vermeiden – übrig bleiben Spots für Staubsauger, Homecooking und Süßigkeiten, die man sich “ganz allein“ gönnt. Auf Dauer fällt das auf.
Das nächste Altpapier kommt am Donnerstag.
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