Teasergrafik Altpapier vom 08. Mai 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 08. Mai 2020 Fundament aus Gummi oder Meinungsbildung bei Facebook

08. Mai 2020, 11:58 Uhr

Online-Plattformen brauchen eine Entgiftungskur für ihre Algorithmen, fordern Mediziner und Gesundheitsexpert:innen in einem Offenen Brief. Facebook bastelt sich ein eigenes Verfassungsgericht, aber was kann man davon wirklich erwarten? Eine Digitalkonferenz digitalisiert sich und Mediennutzer:innen darf mehr zugetraut werden, als Informationshäppchen in homöopathischen Dosen. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Algorithmen entgiften, geht das?

Offene Briefe werden schon seit dem Mittelalter genutzt und erfreuen sich in aktuellen Pandemie-Zeiten besonderer Beliebtheit: Eltern- und Lehrerverbände schreiben welche an Ministerien (Schulöffnungen), Digitalverbände an die Bundesregierung (Tracing-App), you name it…

Ein weiteres Exemplar ging nun an Facebook und andere Tech-Konzerne:

"Berichte, in denen behauptet wird, dass Kokain ein Heilmittel sei oder dass COVID-19 von China oder den USA als biologische Waffe entwickelt wurde, haben sich schneller verbreitet als das Virus selbst. Technologieunternehmen versuchen zu reagieren, indem sie bestimmte Inhalte, wenn sie gemeldet werden, löschen und es der Weltgesundheitsorganisation gleichzeitig erlauben, kostenlose Anzeigen zu schalten. Diese Anstrengungen sind aber bei weitem nicht genug",

schreiben Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen und Gesundheitsexpert:innen aus verschiedenen Ländern in dem von der NGO Avaaz unterstützen und in der New York Times als Anzeige erschienenem Brief. Aus Deutschland haben etwa die Virolog:innen Christian Drosten und Melanie Brinkmann unterschrieben. Sie fordern zwei Dinge:

1. Menschen, denen Falschinformationen angezeigt wurden, solle Facebook Faktenchecks mit Richtigstellungen anzeigen.

"Facebook beruft sich bei seinem eher zurückhaltenden Umgang mit Desinformation auf Studien, die zeigen sollen, dass bei Nutzern der Glaube an falsche Inhalte verstärkt wird, wenn man diese in einer Richtigstellung wiederholt: ein Phänomen, das von der Psychologie ‚Backfire-Effekt‘ genannt wird. Einige Forscher, auf deren Studien sich Facebook dabei bezieht, haben jedoch mittlerweile mitgeteilt, Facebook habe ihre Erkenntnisse falsch verstanden",

heißt es dazu auf der Medienseite der Süddeutschen. Deutschlandfunks "@mediasres" hat eine von Avaaz in Auftrag gegeben Studie ausgegraben, die zu dem Schluss kommt, dass es im Gegenteil sogar hilfreich sei, Nutzer im Nachhinein auf geteilte Falschmeldungen hinzuweisen. Im Durchschnitt habe so etwa die Hälfte der Befragten aufgehört, an die falsche Information zu glauben.

2. Die "gefährlichen Lügen" sollten Nutzern nicht mehr so prominent angezeigt werden, fordern die Gesundheitsexpert:innen. Sie nennen das "Algorithmen entgiften". Die Verbreitung von Falschinformationen müsse gedrosselt, statt gepusht werden damit Nutzer:innen nicht in Empfehlungsstrudel von Verschwörungstheorien und Fakes geraten. "Die Algorithmen konzentrieren sich derzeit mehr darauf, die Benutzer online zu halten, als ihre Gesundheit zu schützen", heißt es in dem Brief.

Die Pandemie und ihre Begleiterscheinungen verleihen der Debatte um die Gewichtung von Social-Media-Inhalten eine neue Dringlichkeit. Nur hat man das spätestens sei 2016 irgendwie jedes Jahr schon gedacht.

Facebooks selbstgeschaffenes Verfassungsgericht

Yikes, awsome timing, dachte man sich bei einem Blick auf den Offenen Brief wohl bei Facebook. Denn der Veröffentlichung kam dem Social-Media-Giganten mit einer beschwichtigenden "Aber wir bemühen uns doch nach Kräften"-Nachricht zuvor. Als hätte man es gewusst kündigte Facebook an, das schon 2018 angedachte Oversight Board werde bald seine Arbeit aufnehmen und nannte den ersten Schwung der 40 geplanten Mitglieder.

Zu dem Gremium gehören u.a. der frühere Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger, die ehemalige dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt, die Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman, der kenianische Menschenrechtsaktivist Maina Kiai und viele Juristen. Was dieses Aufsichtsgremium tun soll, ist zum Beispiel bei Zeit und Spiegel übersichtlich zusammengefasst.

Einerseits soll Facebook selbst das Board bei verschiedenen Fragen zum Umgang mit Werbung, Gruppen oder einzelnen Seiten um eine Einschätzung bitten können. Andererseits sollen Nutzer die 40 Facebook-Weisen einschalten können, wenn sie gegen ungerechtfertigte Löschungen vorgehen wollen. In einer späteren Phase soll sich das Gremium auch über Forderungen nach Löschung von Inhalten anderer Accounts oder mit Fragen rund um gelöschte Gruppen und Seiten bei Facebook und Instagram beschäftigen. Seine Entscheidungen soll das Gremium auf einer Website veröffentlichen, Facebook muss dann öffentlich darauf reagieren. Bei netzpolitik.org spricht Alexander Fanta von einer

"Art Verfassungsgericht, das viele der tückischen Fragen grundsätzlich entscheiden soll, die Facebooks Moderator:innen täglich im Sekundentakt lösen müssen."

Und damit bekommen die Juchei- und Juchee-Reflexe über Facebooks Weiterentwicklung und Annahme von Kritik auch direkt einen Dämpfer. Denn ob dieses hochkarätig besetzte Gremium in der komplexen Realität des Netzwerks überhaupt nachhaltig und grundsätzlich etwas ausrichten kann/darf oder doch eher eine kosmetische Maßnahme ist, bleibt abzuwarten.

Entscheidungen über kritische Fälle sollen innerhalb von 90 Tagen gefällt werden. Angesichts der mehreren Petabytes an Daten, die Facebook pro Tag generiert, erscheint das irgendwie suboptimal. Naja, das Gremium entscheidet natürlich auch nicht über jeden kleinen digitalen Gartenzaunkampf, sondern über Fälle "die potenziell viele Nutzer beträfen, von entscheidender Bedeutung für den öffentlichen Diskurs seien oder Fragen zu den Richtlinien von Facebook" (Zeit Online) aufwerfen.

In der New York Times warnen die Board-Mitglieder Catalina Botero-Marino, Jamal Greene, Michael W. McConnell und Helle Thorning-Schmidt dementsprechend vor:

"We will not be able to offer a ruling on every one of the many thousands of cases that we expect to be shared with us each year. We will focus on identifying cases that have a real-world impact, are important for public discourse and raise questions about current Facebook policies. Cases that examine the line between satire and hate speech, the spread of graphic content after tragic events, and whether manipulated content posted by public figures should be treated differently from other content are just some of those that may come before the board."

Facebook schränke das Board allerdings von vornherein an entscheidenden Stellen ein und erhalte sich ausreichend Spielraum, um unliebsame Entscheidungen im Zweifelsfall umzubiegen, kritisiert Fanta:

"In Artikel 4 der Charta zur Umsetzung von Entscheidungen heißt es, Facebook werde diese prompt umsetzen, es sei denn, die Umsetzung könnte gegen Gesetze verstoßen. Das gibt dem Konzern Spielraum bei der Interpretation der Vielzahl an Rechtsnormen, denen Inhalte auf Facebook in verschiedenen Jurisdiktionen der Welt unterliegen. Bedeutend ist auch die Einschränkung, die die Charta bei identischen Inhalten macht – also bei der Frage, inwiefern Entscheidungen einen Präzedenzfalles (sic!) schaffen. In der Charta heißt es dazu, Facebook ‚wird Maßnahmen ergreifen, indem es analysiert, ob es technisch und operativ machbar ist, die Entscheidung des Gremiums auch auf diesen Inhalt anzuwenden‘."

Das Vorhaben scheint eher in einem Fundament aus Gummi zu stecken, als in einem aus Beton und Stahl.

Der ehemalige Guardian-Chefred und Oxford Principal Alan Rusbridger setzt sich bei One Zero mit verschiedenen Ansatzpunkten von Kritikern auseinander und räumt ein, es sei völlig vernünftig, erst mal skeptisch zu sein:

"It’s entirely reasonable to be skeptical, while also holding out hope that this new entity might have a real effect. (…) Will it work? Let’s see. There is, in my view, no excuse for not trying. The balancing of free expression with the need for a better-organized public square is one of the most urgent causes I can imagine."

Ob solche für digitale Öffentlichkeit und Meinungsbildung elementare Fragen von einem privatwirtschaftlich finanzierten und berufenen Gremium entschieden werden sollten (zwar bekommt das Oversight Board Mittel aus einer Stiftung, das Geld stammt aber letztendlich von Facebook), darf weiterhin diskutiert werden.

Der Digitalkongress, der sich digitalisiert

Und weiter geht‘s mit Digitalthemen, weil die Netzgemeinschaft sich gestern im Internet traf. Nix Besonderes, sollte man meinen. Irgendwie ist es das aber doch, weil die bisher noch weitgehend analoge Digitalkonferenz re:publica in diesem Jahr pandemiegeschuldet erstmals komplett digital stattfand. Dass das zukunftsweisend sein wird, ist nicht abwegig, berichtet "@mediasres":

"Ob die re:publica auch in Zukunft zumindest in Teilen rein digital stattfindet, steht noch nicht fest. Grundsätzlich ist das aber nach Ansicht von Gebhard allein aus ökonomischen Gründen denkbar, ‚weil die Lage für große Veranstaltungen ja erstmal unübersichtlich bleibt‘."

Aber kommen wir zu den Inhalten: Einen Überblick gibt‘s z.B. beim Tagesspiegel, beim RBB und bei Heise (Schwerpunkt Verschwörungstheorien).

Eine Erkenntnis für Medienmenschen aus den Talks: Redaktionen sollten ihren Nutzer:innen ruhig mehr zutrauen als kurze, leicht konsumierbare Informationshäppchen. Die Mahnung ploppt immer mal wieder auf. Grade jetzt, angesichts viele umfangreicher Wissenschaftsformate zeigt sich aber, wie begierig auch umfangreiche, hintergründige Formate aufgesogen werden:

"Wir haben eine Durchhörquote von 80 Prozent. Die Leute haben Lust auf so komplexe Inhalte",

sagten Korinna Hennig und Katharina Mahrenholtz im Talk mit Markus Beckedahl über ihren NDR-Podcast "Das Coronavirus-Update".

Dass das vor allem im Podcast-Bereich funktioniert zeigen auch andere Formate mit langen, sehr langen Interviews ("Deutschland300", "Hotel Matze", "Alles gesagt") und umfangreichen Reportagen (z.B. "Geschichten gegen den Hass"). Auch für unser Orchideenfach, den Medienjournalismus, gäbe es da sicher noch einige bisher unausgeschöpfte Ansatzpunkte.


Altpapierkorb (Angriff auf Kamerateam, Stellenabbau und Sparmaßnahmen, steigende Zahlen bei Digitalabos)

+++ Erneuter Angriff auf Kamerateam in Berlin: Bei einer sogenannten Hygienedemo wurde ein ARD-Tonmann getreten, berichtet die FAZ.

+++ Stellenabbau: Bei APA Protestiert die Betriebsversammlung gegen die Streichung von 25 Stellen, berichtet der Standard.

+++ Sparmaßnahmen und Werbeeinbußen: Auch bei ProSieben wird gespart und gebangt (nochmal Standard). Die Werbeeinnahmen beim Fernsehen seien um 40 Prozent gesunken, 500 Mitarbeiter:innen stünden auf Kurzarbeit.

+++ Die NYT hat im ersten Quartal 2020 mehr als eine halbe Million Digitalabonnenten hinzugewonnen, erwartet bis zur Jahresmitte eine Halbierung der Werbeeinnahmen, berichtet W&V.

+++ Das einst verlässliche Magazin Futurezone setze mittlerweile gern auf apokalyptische Astrovorhersagen, kritisiert Stefan Niggemeier bei Übermedien.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Montag.

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