Teasergrafik Altpapier vom 15. April 2020: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 15. April 2020 Locken Lockdown-Lockerungen?

15. April 2020, 11:01 Uhr

Am heutigen Mittwoch wird's spannend in den Corona-Livticker-Blogs. Damit wissenschaftliche Forschung spannender rüberkommt, kann journalistisch angehauchte PR helfen. Das ist nun sozusagen erwiesen. Immerhin sitzt die Wissenschaft nicht mehr im Elfenbeinturm. Können Anglizismen helfen, damit "Kontaktverfolgung" sympathischer klingt? Außerdem: Die taz-Chefetage wird weiblicher. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Wissenschaftler sind Medienstars fast wie Politiker

Heute Mittag wird es besonders spannend in den vielen Corona-Live-Ticker-Formaten: wenn sich die Bundeskanzlerin-Ministerpräsidenten-Schaltkonferenz mit der "Frage aller Fragen im Frühjahr 2020" oder "einer der schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens", um nur zwei Einschätzungen zu zitieren, befasst.

Außer Politikern, die rund um die Uhr medienöffentlich auftreten (und dabei schon mal Renommee, das sie eben noch im US-amerikanischen Fernsehen aufbauten, im mittelhessischen Klinikums-Fahrstuhl wieder verspielen, oder war's umgekehrt? Oder macht zupackendes Fehlereingestehen doch wieder vieles wett?)  ... Außer auf die schon lange aus der Berichterstattung bekannten Politiker bekannter Parteien, die ohne Virus jetzt halt andere Themen beackern würden, richten sich immer mehr Blicke auf immer mehr Wissenschaftler. Und unter denen stehen außer den Virologen,

"... Christian Drosten, der vertrauenswürdige Antidramatiker. Alexander Kekulé, der sinistre Dramatiker. Hendrik Streeck, der gut aussehende Karrierist. Lothar Wieler, der Besorgte mit der brüchigen Stimme. Melanie Brinkmann, die Frau mit dem elegischen Filmdiven-Appeal, oder Marylyn Addo, die beharrliche Optimistin ..."

wie Torsten Körner bei epd medien zusammenfasst, längst auch Vertreter weiterer Wissenschaften aus zunehmend bekannter werdenden Institutionen wie Koch-Institut, Helmholtz-Gemeinschaft und der gemessen an ihrer Altehrwürdigkeit bislang besonders selten im Medien-Strom aufgetauchten Leopoldina im Blick- bis Brennpunkt der Diskussionen.

"Auf 19 Seiten können zwei Dutzend noch so kluge Köpfe nicht die Welt retten – auch wenn, wie in den vergangenen Wochen häufig gefordert, statt der Virologen nun auch Sozialwissenschaftler, Psychologen und Ethiker zu Wort kommen",

nimmt Patrick Illinger auf der SZ-Meinungsseite (€) diese Leopoldina ein bisschen in Schutz. Deren Äußerung wurde u.a. zum Vorwurf gemacht, dass im 26-köpfigen Team, das die genannten 19 Seiten veröffentlichte, "mehr Männer mit dem Vornamen Jürgen oder Thomas als Frauen" mitwirkten (im selben Blatt).

Immerhin sitzt die Wissenschaft nicht mehr im Elfenbeinturm; an diese "abgegriffene Metapher" erinnert Illinger auch. Dass spätestens jenseits der Elfenbeintürme die Mechanismen der Medien zu wirken beginnen, wie zuerst Christian Drosten erfuhr und beklagte (Altpapier), ist kein Wunder.

Braucht Wissenschaft PR?

Aufmerksamkeit auf Drosten-Niveau erhält und verdient sicher auch Hendrik Streeck, der seit Herbst 2019 auch dessen Nachfolger als Virologie-Professor  am Universitätsklinikum Bonn ist. Im Artikel "Streeck, Laschet, StoryMachine: Schnelle Daten, pünktlich geliefert" der Riffreporter – also der per Crowdfunding finanzierten, genossenschaftlichen Wissenschaftsjournalismus-Plattform – blicken Christian Schwägerl und Joachim Budde weit und geduldig zurück: zunächst auf Äußerungen Streecks zum Corona-Virus vom Anfang dieses Jahres. Die müssen inzwischen wohl als Fehleinschätzungen gelten, was dann freilich für die allermeisten Äußerungen zum Thema aus derselben Zeit gelten dürfte. Streeck äußerte sich in Tweets in seinem Account, dann im Fernsehen bei "Markus Lanz" und in Interviews etwa des Stern –  also da, wo Boulevard und Information sich zumindest gelegentlich begegnen und Reichweite erzeugen.

Wie dieser nicht eingebettete, bloß verlinkte Tweet dann zeigt (der dafür, dass er eine der globalen Medieninhalte-Sympathieträgerin zeigte, eine Katze, erstaunlich wenig Herzchen erntete ...), trat dann noch etwas in Streecks Kommunikationsverhalten.

Bis schließlich im Kontext des Twitter-Accounts @hbergprotokoll/ "Heinsberg Protokoll" der Name der (sonst vor allem durch Geheimnistuerei bekannten) PR-Firma Storymachine fällt, und noch später der ihres Mitgründers Kai Diekmann, der als langjähriger Chefredakteur der Bild-Zeitung einer der umstrittensten, nun ja, Journalisten ist (und, "was Wissenschaft betrifft, nicht unbedingt für taugliche Stories bekannt", wie die Riffreporter mit Blick auf und Link zum Heidelberger Uniklinikum-Skandal schreiben), dauert es dann noch eine ganze Weile. Der Text ist ein veritabler Longread. Dass sie Streeck immer mal wieder als Armin "Laschets Kronzeugen" oder "Galionsfigur des Widerstands gegen einen verlängerten Lockdown" bezeichnen, zeigt schon, dass die Riffreporter Streecks Haltung für rasche Lockdown-Lockerungen nicht teilen. Von Streecks Heinsberger Studie sind sie bislang zumindest nicht überzeugt, aber von der Storymachine-Arbeit:

"An Schnelligkeit hat es nicht gemangelt, alle Botschaften wurden rechtzeitig vor den Bund-Länder-Verhandlungen über die Zukunft von Corona-Deutschland an diesem Mittwoch gesendet und verbreitet. Die Republik redet jetzt über Lockerungen statt darüber, wie der Lockdown durchzuhalten ist. Es ist Laschet, Streeck und StoryMachine gelungen, in der politischen Themen- und Prioritätensetzung neue Fakten zu schaffen und Aufmerksamkeit vom Lockdown auf den Exit umzulenken."

Ob der PR-Erfolg gegen die Studie selbst spricht, ist eine andere Frage. "Hier werden PR und Journalismus extrem geschickt vermischt", sagt im selben Text die Karlsruher Wissenschaftskommunikations-Professorin Annette Leßmöllmann. Das ist keine sehr scharfe Kritik. "Nicht grundsätzlich verwerflich" findet in Deutschlandfunks "@mediasres" der Dortmunder Wissenschaftsjournalismus-Professor Holger Wormer, dass Wissenschaftler PR-Agenturen einschalten:

"'Das Wichtige dabei ist aber, dass der Kern der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Aussagen und Arbeiten dabei nicht verloren geht', stellte der Journalismusforscher klar. Ob das in dem konkreten Fall gelungen sei, ließe sich jetzt noch nicht beurteilen."

Differenzierte Äußerungen, die nichts vorwegnehmen, bevor es sich mit Sicherheit sagen lässt, wirken oft recht langweilig und werden daher selten zitiert. So lautet eine der, leider, verlässlichsten Mechanismen des Medienbetriebs, der Typen wie Diekmann dann ihre Erfolge verschafft. Ob sich im Zuge der Corona-Krise daran etwas ändern wird?

Tracing? Tracking? ... Kontaktverfolgung!

Ein bisschen zumindest verteidigt Patrick Illinger im oben erwähnten SZ-Leitartikel die Leopoldina. Deren Stellungnahme enthalte "durchaus begrüßenswerte Empfehlungen, zum Beispiel zu Contact Tracing (mehr davon) sowie besseren Daten über die Infektionslage und den Immunzustand der Bevölkerung (viel mehr davon)."

"Tracing" klingt jedenfalls attraktiv-interessant – sicher auch deshalb, weil es ein frischer Anglizismus ist. Insbesondere beim Setzen von Trends, das zum Verkaufen journalistischer Medieninhalte längst dazu gehört, dienen Anglizismen auch dazu, in kurzen Begriffen attraktiv anzudeuten und damit auch: zu verschleiern, um was es geht. 

Das zeigt sich schön im netzpolitik.org-Beitrag, in dem Alexander Fanta und Chris Köver die Vor- und Nachteile der gemeinsamen Contact-Tracing-Software-Standards, an denen Google und Apple – also quasi die beiden einzigen Anbieter von Betriebssystemen für mobile Geräte – nun arbeiten. Zunächst ist eher von "Contact Tracing" und "Contact-Tracing-Apps" (was ein bisschen nach Tinder klingt ...) die Rede. Im Verlauf des Textes erscheinen dann häufiger umso die Begriffe "Kontaktverfolgung" und sogar "Kontaktverfolgungsapps". Das klingt nun bürokratisch-kompliziert – und lädt eher nicht dazu ein, sich sowas auf dem Smartphone zu installieren, oder?

Ob und wie diese Frage sich allerdings stellen wird, ist eine andere Frage. "Die auf Bluetooth basierende Technik kommt per Software-Update auf iPhones und Android-Geräte", meldet heise.de in einem neueren, technisch orientierten Beitrag, der "Kontaktverfolgung" bereits in der Überschrift verwendet. Von "Corona-Warn-Apps" und "Corona-Tracking-Vorhaben" schreibt Christiane Schulz-Haddouti, die ebd. über Warnungen der Wissenschaft, in diesem Fall der Informatik (bzw. des "Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)") berichtet. Zusammengefasst: Aus der Perspektive des Datenschutzes warnt die Wissenschaft vor "Corona-Warn-Apps". Wobei es natürlich abweichende Meinungen gibt ...

Wie gründlich sich Kanzlerin und MPs heute darüber austauschen, wird sich zeigen. Jedenfalls dürfte das Thema durchaus ... schreibt man noch: virulent? bleiben, zeigt ein Blick in Berliner Lokalmedien. Über einen "mutmaßlich linksextremen Anschlag auf Stromkabel" – der sich genau gegen solche Apps bzw. konkret gegen das an deren Entwicklung beteiligte Heinrich-Hertz-Institut gerichtet habe, berichtet Tagesspiegel. Das verlinkte "langatmige", Bekennerschreiben auf dem "linksextremen Internetportal de.indymedia.org" trägt die Überschrift "Digitale Zurichtung sabotiert".

Die taz wird weiblicher, das Hörspiel auch

Rasch zum Non-Corona-Thema des Tages: Wer grundsätzlich immer gendert (was der Autor dieser Kolumne nicht tut), muss bei der taz künftig nicht mehr Chefredakteur*innen oder :innen schreiben und braucht nicht mal mehr ein großes Binnen-I. Denn "die taz wird demnächst redaktionell von einer weiblichen Doppelspitze geführt", meldet der Hausblog des Blattes.

Nachfolger Georg Löwischs, der dieser Tage zur Wochenzeitung Die Zeit wechselt und dort das "Christ und Welt"-Ressort übernimmt, wird zunächst die bislang schon stellvertretende Chefredakteurin Barbara Junge, zu der sich mit Ulrike Winkelmann im Sommer "ein taz-Eigengewächs" (taz), das zum zweiten Mal zurückkehrt, nun vom Deutschlandfunk, gesellen wird.

Dass vom Deutschlandfunk auch die bislang eindrücklichste Gender-Wortschöpfung des Jahres kommt ("Einwohnende"), sei nur am Rande erwähnt. Wer sich dafür interessiert, könnte sich dann auch für Jochen Meißners Medienkorrespondenz-Artikel über Forderungen, dass auch "das Hörspiel weiblicher werden soll", interessieren. Vor allem nimmt Meißner luzide die diesbezüglichen "Karlsruher Postulate" aufs Korn:

"Eine ... auffällige Leerstelle ... kann man im Forderungskatalog lesen: 'Spitzenpositionen / Moderationen / Interview- und Gesprächsrollen / Sendeminuten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk paritätisch besetzen und verteilen, gemäß der paritätisch bezahlten Beiträge'. Ausdrücklich nicht gefordert wird die paritätische Besetzung von Redaktionen und Dramaturgien, obwohl man das in der sicheren Erwartung, dass es nie dazu kommen wird, locker hätte tun können. Denn öffentlich-rechtlich bestallte Dramaturginnen und Dramaturgen sind durch ihre eigenen Produktionsetats des prekären Projekt- und Förderungsantragswesens des Kulturbetriebs enthoben – und das ist auch gut so. Bis die gegenwärtige Dramaturginnengeneration in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren verrentet wird, wird sich also nur wenig an der Besetzung der Dramaturgien ändern – und die ist alles andere als divers oder wenigstens paritätisch. Schon heute sind in den meisten Dramaturgien die Frauen in der Überzahl".

Was Meißner in Details belegt – und natürlich damit zusammenhängen könnte, dass Dramaturginnen und Dramaturgen, innerhalb der Anstalten nicht zu den Topverdienerinnen und -verdienern gehören. Übrigens geht Meißners Artikel von der Preisverleihung zum "Hörspiel des Jahres" 2019 aus, die am 22. Februar stattfand – in einer Zeit, in der es noch Publikumsveranstaltungen gab, einer völlig anderen also...


Altpapierkorb (So geht Feuilleton. "Die Getriebenen". Jugendmedienschutz hinkt. Medienkompetenz fehlt. "Tagesthemen" werden länger)

+++ "Einmal las der Soziologe Niklas Luhmann lächelnd einen Vortragstitel, den ein zur Theorie der rationalen Akteure entlaufener Schüler für sein Kolloquium eingereicht hatte: 'Endlich ist er geständig.' War der Schüler aber gar nicht. Luhmann hatte 'Akteurstragödien' gelesen, wo tatsächlich 'Akteursstrategien' stand. Der Spielfilm 'Die Getriebenen' handelt von beidem ..." So geht Feuilleton. So leitet Jürgen Kaube in der FAZ seine Besprechung des heutigen ARD-Films "Die Getriebenen" (um den es hier im Altpapier schon ging) ein. +++ "Zumindest ist das ein Fernsehfilm, über den man streiten, diskutieren kann. Ein konsequenter, komplexer Versuch!", meint der bereits erwähnte Torsten Körner, Kenner der Spielfilm-Protagonistin Angela Merkel, im Rahmen einer sprachlich schönen Tagesspiegel-Kritik (die etwa den die ARD-Pressearbeit schön kennzeichnenden Begriff "selbstbegeisterungsbesoffen" enthält.

+++ Der Jugendmedienschutz in Deutschland "ist längst nicht mehr zeitgemäß", u.a., weil er "Veränderungen in der Medienwelt hinterherhinkt und identische Inhalte je nach Ausspielkanal unterschiedlich bewertet", bringt Dominic Lammar bei netzpolitik.org auf den Punkt.

+++ Dass die gern beschworene Medienkompetenz vielen Journalisten abgeht, sagt ungefähr Dan Gillmor, der dieselbe in den USA lehrt, im Standard-Interview.

+++ "Ich finde, wir als Branche machen gerade einen ziemlich guten Job. Ich sehe kaum Panikmache, wenig Verharmlosung, viel Ringen um den richtigen Weg ...", sagt Mathias Döpfner im Interview (€) im aktuellen Spiegel.

+++ "Nach Corona wird nichts mehr so sein, wie es war. Wenn das dann als Startschuss für eine echte gesellschaftliche Debatte über die Rolle von Medien und Journalismus an sich und des öffentlich-rechtlichen Systems im Besonderen wird, haben wir erstaunlicherweise fast alles richtig gemacht. Wenn sich ARD, ZDF & Co. ihre neue Kreativität und Flexibilität erhalten, müssen sie davor nicht mal Angst haben", heißt's gegen Ende eines Ruckreden-Appells in der taz von Steffen Grimberg u.a. an Ottfried Jarren, an die Medienpolitik an sich und an die Öffentlich-Rechtlichen. +++ Es handelt sich aber nicht um die "Flimmern und Rauschen"-Kolumne. Die erschien separat und befasst sich mit dem Corporate Publishing-Geschäftszweig des Bauer-Verlags

+++ Wie perfekt "das bemerkenswerte und vor allem auch zeitlich sehr ausführliche 'Tagesthemen'-Interview mit Bill Gates ... am Ostersonntag" die Sendezeitenverlängerung des ARD-Nachrichtenmagazins einläutete, schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel.

Neues Altpapier gibt es am Donnerstag.

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