Das Altpapier am 03. April 2020 Die haben aber angefangen
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03. April 2020, 11:30 Uhr
Der Virologe Christian Drosten wehrt sich dagegen, wie Medien ihn darstellen. Können daraus vielleicht auch Medien etwas lernen? Vielleicht sogar die Gesellschaft? Und wie viel Hoffnung darauf, dass das gelingen könnte, ist angebracht? Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Der journalistische Verteidigungsreflex
Dass der Virologe Christian Drosten nun in der Kritik steht, war im Grunde der notwendige nächste Schritt, wenn man ausschließlich auf die Dramaturgie der Erzählung schaut. Eine Geschichte braucht hin und wieder einen neuen Impuls, einen Wendepunkt. Sonst plätschert alles nur so dahin. Im Journalismus entwirft diese Dramaturgie die Gesamtheit der Menschen, die Beiträge zu einem Thema veröffentlichen.
Ein neuer Impuls wird spätestens dann nötig, wenn zu einem Aspekt alles gesagt ist. Die Geschichte vom Forschungsmessias etwa, der einem ganzen Land eine Krankheit erklärt, stand in irgendeiner Form wahrscheinlich schon in jedem Medium, für das dieses Thema in Frage kommt.
Eric Wallis schreibt für die taz:
"Es gibt in der Tat eine Medienlogik, die immer fragt, wie die Story weitergeht, wie sich die Dramatik der Geschichte steigern lässt. Dieser Impuls trifft jetzt auf einen gewissen Corona-Ermüdungseffekt, eine Gesellschaft im Wartemodus. Eine Gesellschaft, die natürlich weiter unterhalten werden will."
Nun wäre nach dieser Logik als Impuls vieles denkbar gewesen. Es hätte sich herausstellen können, dass Drosten ständig Fehler mache, ohne sie eingestehen zu wollen. Er hätte in einem wesentlichen Punkt falsch liegen können. Kollegen hätten seine Expertise anzweifeln können. All das hätte sich als Wendepunkt geeignet. Doch Drosten hat nun selbst einen Impuls geliefert, indem er angefangen hat, sich gegen das immer weiter zugespitzte Konflikt- und Helden-Narrativ zu wehren. Er hat Medien kritisiert, oder eigentlich "die Medien", er hat in seiner Kritik keine Unterschiede gemacht. Das wird ihm nun vorgeworfen, allerdings auch wieder in sehr pauschaler Weise.
In einem Beitrag für den Deutschlandfunk schreibt Antje Allroggen:
"(…) dadurch, dass wir Christian Drosten unterstellen, seine Medienkritik sei viel zu allgemein gehalten, müssen auch 'wir Medien' uns den Vorwurf gefallen lassen, viel zu pauschal auf seine Kritik zu reagieren. Und wenn es dann von Journalisten sogar heißt, Drosten könne keine Kritik verstehen, dann entlarven 'wir Medien' uns einfach als eine Berufsgruppe – ganz pauschal –, die unmittelbar zum Gegenschlag ausholt."
Der journalistische Reflex ist eine Verteidigung. Warum ist das, was "wir Medien" machen, gerechtfertigt? Dafür kann man Gründe finden. Und es ist möglich, diese Gründe zu erklären, sie gleichzeitig aber auch kritisch zu sehen. Die Dramaturgie ist ein notwendiges journalistisches Funktionselement, etwas, das gebraucht wird, um für eine Information Aufmerksamkeit zu finden.
In einer Welt mit nur einem journalistischen Format für alle könnte man darauf vielleicht verzichten, weil das Publikum keine Wahl hätte. Aber selbst in dieser Welt bestünde die Gefahr, dass dann niemand zuhört. Dieses dramaturgisches Werkzeug kann allerdings auch missbraucht werden, um die Geschichte immer besser und im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit immer durchsetzungsstärker zu machen – bloß dann eben um den Preis, dass sie mit der Realität kaum noch in Einklang zu bringen ist. Es gibt Boulevard-Medien, die daraus ein Geschäftsmodell gemacht haben.
Antje Allroggen bringt die vernünftig, aber für alle mit dem journalistischen Geschäft vertraute Menschen auch unwahrscheinlich erscheinende Möglichkeit ins Spiel, auf Drostens Kritik zuallererst mit der Frage zu reagieren, inwieweit sie denn richtig ist. Das sieht sie im Moment nicht.
"Kein Gedanke dazu, ob 'wir Medien' uns nicht auch einmal in Frage stellen könnten und bereit sind wie er als Wissenschaftler, Gesagtes zu revidieren",
schreibt sie und fordert:
"Die Zeit journalistischer Eitelkeiten und Zuspitzungen sollte jetzt wirklich einfach mal vorbei sein."
Für mehr Wissenschaftskompetenz
Das klingt, als müssten alle vernünftigen Menschen sich sofort darauf einigen können, aber gleichzeitig klingt es auch so unerreichbar wie der seit der Geburt der Politik herbeigewünschte Zustand, in dem es "vor allem um Sachthemen" (Zitat eines imaginären Politikers) geht. Das Problem: Es sind Menschen beteiligt.
Auch Drosten ist einer davon. Johannes Schneider schreibt in einer Analyse für Zeit Online:
"Wenn er (Drosten, Anm. Altpapier) aber nun befindet, es sei mit der in Medien wiederholt gestellten Frage, ob Virologen gerade das Land regieren, ein Punkt erreicht, wo nicht nur er selbst, sondern die Wissenschaft als Ganzes 'in geordneter Weise den Rückzug antreten muss, wenn das nicht aufhört', dann ist auch er längst Teil des medialen Zusammenhangs, den er zugleich kritisiert."
Im Grunde sehen wir hier innerhalb des Systems einen Machtkampf um die jeweiligen Interessen, also etwas sehr Menschliches. Auf der einen Seite die von Drosten pauschal zu einer homogenen Einheit gestempelten Medien, von denen ein Teil vor allem auf schnelle Aufmerksamkeit aus ist, was natürlich kritisierbar ist. Auf der anderen Seite Drosten als Interessenvertreter der Wissenschaft, der mit Spielabbruch droht, wenn die Regeln nicht zu seinen Gunsten ausgelegt werden, was mit Blick auf seine Interessen verständlich, aber ebenfalls kritisierbar ist.
Schneider:
"In der Abwehr der eigenen Überzeichnung überzeichnet Drosten selbst. Damit beschädigt er aber als medialer Akteur den Journalismus auf ähnliche Weise, in der er sich und die Wissenschaft beschädigt sieht."
Anders gesagt: Drosten macht, gemessen an seinen eigenen Vorwürfen, etwas sehr Ähnliches.
Und wenn man dieses Spiel nun noch einen Schritt weiterdenkt, müssten "die Medien", wollten sie wiederum auf ähnliche Weise wie Drosten reagieren, ankündigen: Wenn "die Wissenschaft" sich jetzt wie angedroht zurückzieht, berichten wir nicht mehr über "die Wissenschaft".
Schneider schlägt dagegen vor:
"Man kann Drostens Kritik aber vielleicht auch einfach erweitern zur Kritik an einer Öffentlichkeit, die mehr umfasst als ein paar Hundert Journalisten, die manchmal zweifelhafte Überschriften machen und sich in Pressekonferenzen situativ für dummes Zeug interessieren. Denn letztlich geht es ja um bestimmte Mechanismen von Zuspitzung und Konflikt, die sich längst nicht mehr nur auf das Handeln von Massenmedien beschränken."
Möglicherweist ist dieser Spin auch ganz hilfreich, um auf die konstruktive Spur zurückzukehren, denn, wenn man so argumentiert, müssten "die Medien" sich gar nicht mehr angegriffen fühlen. Es könnte in der Forderung münden: Die Öffentlichkeit muss mit wissenschaftlichem Denken vertrauter werden.
Und so formuliert Schneider das auch:
"Hier ist also neben Medienkompetenz auch Wissenschaftskompetenz zu lernen",
schreibt er. Das würde bedeuten: Mehr Verständnis für Zweifel und Ungewissheit, für Differenzierung, abwägende Urteile, einen stetigen Lernprozess, der auch Fehlschlüsse beeinhaltet, die korrigiert werden, um zu besseren Urteilen kommen, Skepsis gegenüber zu viel Selbstsicherheit und einfachen Lösungen.
Wie formbar ist Denken?
Eine schöne Utopie, von der wir mit Blick auf die Startseite von "Bild" oder die aktuellen Zustimmungswerte von Donald Trump ("steigen auf Rekordhoch") noch recht weit entfernt sind.
Das zeigt auch ein aktuelles Beispiel, das nichts mit Drosten oder Corona zu tun hat, sondern bei dem es um ein Thema geht, das von der medialen Corona-Lawine weitgehend verschüttet wurde.
Am vergangenen Donnerstag twitterte Fabian Goldmann:
"Seit 1Wo versuche ich eine Reportage von der griechisch-türkischen Grenze loszuwerden, in der es v.a. darum geht, dass Flüchtlinge zunehmend verzweifeln, weil sich in #Corona-Zeiten keiner mehr für sie interessiert. Die Pointe: Ich finde kein Medium, das sich dafür interessiert."
Übermedien hat sich dafür interessiert. Dort ist der Text jetzt erschienen, obwohl es keine typische Mediengeschichte ist. Im Text steht eine kleine Hinweisbox:
"Dies hier ist keine klassische Übermedien-Geschichte. Und doch handelt sie auch von Medien. Sie handelt davon, was passiert, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit plötzlich verschwindet, weil sie sich fast vollständig auf ein anderes Problem verlagert. (…)"
Die Frage ist: Lassen sich Denkweisen ändern, ohne vorher die Mechanismen an den Stellen verändert zu haben, die das Denken der Öffentlichkeit maßgeblich beeinflussen. Diese Stellen wären die Redaktionen.
Einen Eindruck davon, wie schwer das werden könnte, gibt zum einen die Theorie des Herdenverhaltens, zum anderen aber auch ein offener Brief der freien Journalistin Kathrin Wesolowski, die über ihre Erfahrungen auf der Suche nach Arbeit berichtet. Der Brief ist im DJV-Magazin Journalist/in erschienen. Er hat zwar nur wenig mit der Etablierung von wissenschaftlicher Denkweise zu tun, aber vielleicht doch mit der von neuen Denkweisen generell. Man würde zwar jeweils noch gern die Perspektive der anderen Seite hören, aber das, was Weselowski beschreibt, klingt in jedem Fall nicht nach der Arbeitswelt der Gegenwart, eher nach Erfahrungen aus den Siebzigern.
In ihrem Brief gibt Weselowski ein Gespräch mit einer Redaktionsleiterin in einem Zitat wieder:
"Frau Wesolowski, Sie bekommen bei uns eine Chance. Aber besorgen Sie sich keine Wohnung, schlafen Sie am besten in einem Schlafsack auf einer Isomatte bei einem Freund oder einer Freundin. Wenn ich Sie anrufe, sollten Sie erreichbar sein und meinen Auftrag für Sie zusagen. Wenn Sie zwei-, dreimal absagen, dann war’s das leider. Wir können nach zwei Monaten feststellen, dass es mit Ihnen nicht passt. Oder nach sechs. Oder nach zwölf."
Hätte man diese Geschichte vor Jahren erzählt, wäre womöglich irgendwer dabei gewesen, der den Satz angebracht hätte: "Na ja, Lehrjahre sind keine Herrenjahre." In dem Punkt sind wir aber nun hoffentlich schon einen Meter weiter. Und wenn das wirklich so wäre, wäre das ein gutes Zeichen, wenn es um die Frage geht, ob öffentliches Denken von unveränderlichen menschlichen Eigenschaften geprägt ist ("Na ja, Aufmerksamkeit, so funktioniert der Mensch nun mal."), oder ob sich so etwas ändern lässt, und irgendwann in der Konsequenz dann vielleicht sogar das Handeln.
Altpapierkorb (Kurzarbeit trotz Milliarden, Duales Modell, The Atlantic, SZ im Homeoffice, Meisterstücke)
+++ Der reichste Medienkonzern der Schweiz hat als einer der ersten Kurzarbeit angemeldet, berichten Andreas Fagetti und Florian Bachmann für die Schweizer Wochenzeitung WOZ. Dabei verfüge das Unternehmen über ein Eigenkapital von zwei Milliarden Franken und plane in diesem Jahr, eine Dividende von 37 Millionen Franken auszuzahlen.
+++ Torsten J. Gerpott stellt in einem Beitrag für die FAZ (55 Cent bei Blendle) ein paar Überlegungen darüber an, wie die Corona-Krise strukturelle Veränderungen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern möglich machen könnte. "Corona macht eindrucksvoll deutlich, dass die Kernkompetenz des öffentlich-rechtlichen Systems in der Bereitstellung von Nachrichten, Information, Kultur und Bildung liegt", schreibt er und schlägt ein duales Modell vor, in dem die Sender "Zusatzangebote jenseits ihres Kernauftrags" vermarkten dürfen, die durch "Abonnemententgelte, Werbung oder Sponsoring" finanziert würden. Um einkommensschwache Familien von Sport und Unterhaltung nicht auszuschließen, könnte man ihnen, so Gerpotts Vorschlag, das Geld auf Antrag erstatten.
+++ Das Magazin "The Atlantic" hat seine Paywall geöffnet, um die Corona-Berichterstattung zugänglich zu machen. Ergebnis: 87 Millionen Einzelbesucher auf der Website, mehr als 168 Millionen Seitenaufrufe und 36.000 neue Abonnenten, die das Angebot auch hätten kostenlos nutzen können, schreibt Brian Stelter in seinem Newsletter. Chefredakteur Jeffrey Goldberg zitiert er mit den Worten: "This subscription success has happened only because readers in crisis found guidance, information, and illumination in The Atlantic's journalism..."
+++ Premiere für die SZ: Unter den Teasern steht heute ein kleiner Hinweis: "In eigener Sache: Dies ist die erste Ausgabe Ihrer SZ, die redaktionell komplett im Homeoffice erstellt wurde." Nachrichtenchefin Iris Mayer hat vorab schon ein Bild davon getwittert.
+++ Weil viele Anzeigen weggebrochen sind, will der Spiegel zehn Millionen Euro aus seinem Etat sparen, schreibt Gregory Lipinski für Meedia. Möglich sei auch, dass Mitarbeiter demnächst in Kurzarbeit geschickt werden.
+++ Und noch ein Lesetipp fürs Wochenende: Auf dem Twitter-Account #Meisterstück veröffentlicht der Bundesverband der Zeitungsverlegerverband die Texte, die in diesem Jahr für den Theodor-Wolff-Preis nominiert sind.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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