Teasergrafik Altpapier vom 24. März 2020: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 24. März 2020 Die unerträgliche Vorläufigkeit

24. März 2020, 11:42 Uhr

In der Corona-Krise werden nicht nur Klopapierrollen knapp, sondern auch Eindeutigkeit und Gewissheiten. Journalisten können nur immer wieder darauf hinweisen. Für alle anderen ist ein Wirkstoff glücklicherweise schon gefunden. Ärgerlich nur: Man muss ihn sich antrainieren. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Dialektische Limbo im Infonebel

Es wäre schön, wenn es jemanden geben würde, der einfach sagen könnte: "Hört zu. Ich erklär euch das jetzt mal mit dieser Krankheit. Eigentlich ist das doch gar nicht so schwer." Leider haben wir so einen Überdrosten nicht. Stattdessen hören wir täglich neue Informationen und Ratschläge, die oft Stunden später ihre Gültigkeit schon wieder verloren haben. "Die unerträgliche Vorläufigkeit des Wissens" nennt Samira El Ouassil das in ihrer Übermedien-Kolumne. Die Folge ist: Man ist gezwungen, die eigenen vermeintlichen Gewissheiten immer wieder zu überprüfen. Und häufig löst sich die Spannung eben nicht in ein Wohlgefühl auf, sondern es bleibt: Ungewissheit.

Samira El Ouassil nennt das einen "dialektischen Limbo", der nichts anderes zulasse, als richtiges Verhalten zu antizipieren. Sie schreibt, sie

"arbeite gerade daran, die Vorläufigkeit der Empfehlungen und die daraus resultierenden Ambiguitäten zu ertragen und versuche von Tag zu Tag, so wie Drosten und alle anderen auch, in und von diesem Ereignis zu lernen."

Ein Wirkstoff gegen diese Form des chronischen Unbehagens ist glücklicherweise schon gefunden. Etwas ärgerlich nur: Es gibt ihn nicht in Form einer Spritze, sondern bildet sich nur durch ständiges Training. Dieses Antiverzweiflungs-Therapeutikum heißt "Ambiguitätstoleranz". Und das

"(…) bezeichnet die Fähigkeit, in einer komplexen Moderne, die gleichzeitig durch Vereinheitlichungen und Fragmentierug geprägt ist, möglichst gelassen auf Mehrdeutigkeiten und Widersprüche zu reagieren."

Ein dummer Widerspruch in Zusammenhang ist, dass es in so einer Situation für Menschen ratsamer sein kann, auf jene zu hören, die nicht vorgeben, vollkommen sicher zu sein, was zu tun ist. Eine Übung, die Menschen schon seit Jahrhunderten nur in Ausnahmefällen gelingt.

Gleichzeitig müssen Journalisten sich immer wieder vergewissern, dass ihre Rolle gerade nicht vorsieht, diesen Mangel an sicherem Wissen durch gut gemeinte Appelle auszugleichen, damit einfach irgendetwas da ist, das Halt und Orientierung gibt.

"(…) auch bei Corona ist Embedded Journalism nicht angebracht – zumal ich mich nicht von Medien belehren lassen möchte."

Ihn als Journalist mache es

"(…) fassungslos, wie manche Kolleginnen und Kollegen aus der Rolle fallen. Wie sie sich darauf beschränken, einfach nur die Statements der führenden Politikerinnen und Politiker eins zu eins wiederzugeben – ohne Einordnung, ohne kritische Fragen, ohne ihr journalistisches Handwerk einzusetzen."

Aber sogar in diesem Punkt – es ist einfach nicht auszuhalten – kann man das auch anders sehen. In derselben Sendung sagt der Medienethiker Christian Schicha im Interview mit Sebastian Wellendorf, ob Appelle angebracht seien, hänge ganz vom Format ab.

Schicha:

"Wenn jetzt plötzlich ein Tagesschau-Sprecher Appelle an die Nation richten würde, wäre ich in der Tat irritiert."

In Formaten wie dem "heute journal" dagegen seien Kommentare üblich, und auch ein Appell ist ja im Grunde ein Meinungsbeitrag.

Mit Blick auf die Transparenz wäre es möglicherweise noch etwas besser, die Appelle mit der Information zu verknüpfen, dass niemand weiß, ob nicht übermorgen schon irgendwer in seinem NDR-Info-Podcast das genaue Gegenteil des bisherigen Ratschlags verordnet, weil die Informationslage sich plötzlich geändert hat, denn wenn das unvermittelt passiert, bleibt am Ende beim Publikum möglicherweise das Gefühl, dass man gar nichts mehr glauben kann, weil alles sich ohnehin ständig wieder neu ordnet. Und dann könnten Journalisten sich ihre Appelle auch einfach sparen.

Nur leider ist es im Moment eben genau so wie oben beschrieben. Man kann niemandem glauben. Man kann nur hoffen, dass die aktuellen Informationen in Kombination mit dem vorhandenen Wissen die richtigen Schlüsse zulassen. Gleichzeitig muss es man es für möglich halten, dass sich schon morgen herausstellen könnte: Es war alles doch etwas anders, als wir vor zwölf Stunden noch gedacht haben. 

Homeoffice und andere Missverständnisse

Vor Jahren hörte ich das absurdeste aller mir bis heute bekannten Argumente gegen das Arbeiten von zu Hause aus. Die Chefredaktion hatte die Bitte eines Kollegen abgelehnt, an einigen Tagen nicht in die Redaktion kommen zu müssen. Das Argument – es war eines von mehreren – lautete: Menschen, die er von zu Hause anriefe, sähen im Display seine private Nummer, nicht die der Redaktion. Das mache keinen guten Eindruck. Seit einigen Tagen haben Argumente wie dieses relativ plötzlich ihre Schlagkraft verloren.

Der dpa-Newsroom, wo normalerweise etwa 250 Redakteure vor Bildschirmen hocken, ist in diesem Tagen so gut wie leer. Daniel Bouhs hat mit Chefredakteur Sven Gösmann telefoniert, der zusammen mit Nachrichtenchef Froben Homburger auf 2.500 Quadratmetern verwaister Bürofläche die Stellung hält. Das klingt nun vielleicht etwas militärisch. Das, was Gösmann sagt, allerdings auch:

"(…) natürlich ist es eine Ausnahmesituation, und wir wissen: In Kriegen stirbt zuerst immer die Wahrheit, in diesem Fall die Gewissheit. Also, wir wissen nicht ganz genau: Welchen Virologen soll ich glauben? Ist dieser Hinweis richtig? Was tut sich in Ländern, die sich stärker abgeschottet haben?"

Anscheinend also überall das gleiche Problem. Wobei sich in dieser Branche anders als anderswo zurzeit niemand darüber beklagen kann, dass es nichts zu tun gäbe:

Gösmann:

"(…) wir haben keinen Abriss im Nachrichtenstrom, eher im Gegenteil eine sehr hohe Fokussierung. Ich habe neulich fast scherzhaft gesagt, im Moment haben wir weniger Rechtschreibfehler als sonst."

Allerdings wird in einer Sitaution wie der gegenwärtigen noch viel deutlicher als sonst, dass die Nachrichtenwirklichkeit nur einen kleinen Ausschnitt der Realität zeigt:

"Immer noch sterben in Idlib Menschen. Immer noch sitzen in Lesbos Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern. Immer noch gibt es andere Themen. Und immer noch gibt es natürlich auch das eine oder andere Schöne. Aber Corona überlagert alles."

Kommen wir aber noch einmal kurz auf die Rechtschreibfehler zurück. Angesichts der weltweiten Notlage erscheint es natürlich seltsam, so ein bedeutungsloses Detail mit dem Hinweis herauszuheben, die Krise bringe auch Gutes hervor. Aber immerhin eignet sich diese Detail als Überleitung, um darauf zu sprechen zu kommen, dass sich in Deutschland eine ähnliche Entwicklung auf dem Medienmarkt andeutet, wie wir sie seit der Wahl Donald Trumps in den USA beobachten.

Dort herrscht seit knapp vier Jahren große Ungewissheit darüber, ob die Demokratie diesen Präsidenten wirklich aushält. Und das hat den großen Zeitungen einen enormen Boom beschert.  Die ständige Unsicherheit über die weitere Entwicklung spiegelt sich nun auch in Deutschland in den Klick- und Verkaufszahlen wider.

Zeit-Online-Chef Jochen Wegner, der seine Redaktion schon am 11. März nach Hause geschickt hat, schreibt im Transparenz-Blog Glashaus:

"Derweil hat sich die Reichweite von ZEIT ONLINE vervielfacht: Fast sieben Millionen tägliche Besuche verzeichneten wir schon, in ruhigeren Zeiten waren es zwei bis drei. Auch die verkaufte Kiosk-Auflage der gedruckten ZEIT könnte sich nach erster Einschätzung fast verdoppelt haben."

Wegner weist ebenfalls auf die Gefahr hin, die es haben kann, wenn Journalist*innen ihre Rolle falsch als die von Multiplikatoren der Regierungsmitteilungen verstehen.

"Journalistinnen und Journalisten können – gegen ihren Willen – Teil dieser Kommunikationsstrategie werden. Wie etwa im Falle des Gesundheitsministeriums, das offensichtlich bereits geplante einschneidende Maßnahmen als Fake News dementierte, um sie wenig später zu verkünden."

Was also tun?

"Ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht. Linderung verschafft nur, immer wieder auf diese Zwickmühle hinzuweisen."

Heute kein Happyend

Der Wunsch, sich das alles irgendwie schönzureden, ist zurzeit natürlich nur schwer zu unterdrücken. Bei den Auflagen- und Klickzahlen mag das noch so halbwegs gelingen, die übrigen Entwicklungen machen es doch relativ unmöglich.

Noch einmal Jochen Wegner:

"Viele Anzeigen werden derzeit storniert und auch manche Nebengeschäfte unseres Verlags wie etwa Veranstaltungen und Reisen leiden unter der Krise."

Das spiegelt die allgemeine Entwicklung, über die Gregory Lipinski in einem Beitrag für Meedia eine Sprecherin des Zeitungsverleger-Bundesverbands BDZV zitiert, die nach einer Umfrage bei einigen Verlagen sagt, dass "das Anzeigengeschäft um bis zu 80 Prozent einbrechen könnte". Dass die Zeitungen von den Anzeigen nicht mehr ganz so abhängig sind wie noch vor zehn Jahren, ist angesichts der Zahlen wohl nur ein schwacher Trost.

Bei den Zeitschriftenverlagen sind die Einbußen nicht ganz so stark, wobei nicht ganz so stark hier dennoch bedeutet katastrophal. Die Anzeigen-Buchungen sind laut einem Sprecher des Deutschen Zeitschriftenverlegerverbands VDZ, den Lipinski zitiert, um 30 bis 40 Prozent zurückgegangen.

Lipinski schreibt:

"Völlig unklar ist aber, wann die Werbezurückhaltung abebbt. Hinter vorgehaltener Hand befürchten die Medienschaffenden, dass die Unternehmen selbst nach einem Ende des Shutdowns vorerst ihre Werbeausgaben massiv zurückfahren."

Auch hier beherrscht alles die Ungewissheit. Man wird das noch eine Weile so aushalten müssen. Heute kein versöhnlicher Schlussatz.


Altpapierkorb (Rügen, keine Sündenböckemehr, Filmproduzenten in Not, Fernsehproduzenten in Not)

+++ Die Zahl der beim Deutschen Presserat eingegangenen Beschwerden ist wieder gestiegen. 2175 waren es im Jahr 2019, 137 mehr als im Vorjahr, schreibt der Rat in seinem Jahresbericht. Nur 2015 gab es noch mehr. Bei jeder dritten Beschwerde ging es um die Darstellung von Sachverhalten und die Sorgfalt bei der Recherche. Besonders viele Rügen gab es wegen verdeckter Werbung. Einigen Verlagen scheint das aber trotz ihrer Selbstverpflichtung, sich so halbwegs an die Regeln zu halten, relativ egal zu sein. "Von den 34 ausgesprochenen Rügen sind 11 bislang nicht in den betroffenen Medien veröffentlicht worden", heißt es in dem Bericht.

+++ Vor ein paar Wochen war alles noch ganz einfach. Da konnten Rechtspopulisten den Flüchtlingen für alles die Schuld in die Schuhe schieben. Das ist in der momentanen Situation nicht mehr ganz so leicht. Patrick Gensing hat sich für den ARD-Faktenfinder angesehen, welche Folgen das hat.

+++ Viele Film- und Fernsehproduzenten stehen vor dem Ruin, weil alles stillsteht, nur die Kosten nicht, und weil nicht klar ist, ob sich Drehtage, die jetzt ausfallen, überhaupt irgendwann nachholen lassen, schreibt Jörg Seewald auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle). Die Produzenten sind zwar versichert, aber auch das hilft ihnen nicht weiter. Ein Produzent sagt: "Wenn einer unserer Hauptdarsteller eine normale Grippe bekommen hätte, wäre das eine Art Rettung gewesen, weil das versichert ist. Eine Pandemie schließen die Versicherungen aus. Damit sind alle Produktionen nicht versichert. Ein Dilemma, das man so nicht bestehen lassen kann."

+++ Auf der SZ-Medienseite beschäftigt sich die ehemalige Altpapier-Kollegin Kathrin Hollmer mit der unfreiwilligen Pause und der Frage, was die Situation für Schaupieler und Sender bedeutet. Sie schreibt: "Welche langfristigen, auch finanziellen Auswirkungen die Produktionsverschiebungen und -unterbrechungen haben, kann man bei den Sendern noch nicht abschätzen." ARD und ZDF haben in Aussicht gestellt, sich zu 50 Prozent an den Mehrkosten zu beteiligen. Das würde aber bedeuten: Die anderen 50 Prozent müssten die Produktionsgesellschaften tragen, und auch die könnten sie "schwerlich selber tragen".

+++ Leider auch kein Happyend im Altpapierkorb heute: Asterix-Erfinder Alberto Uderzo ist im Alter von 92 Jahren gestorben, meldet unter anderem der Deutschlandfunk.

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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