Das Altpapier am 19. März 2020 Die Epidemie der Leichtfertigkeit
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19. März 2020, 11:30 Uhr
In der Corona-Krise zeigt sich eine gesellschaftliche Trennlinie. Die einen verfolgen Nachrichten in Echtzeit, die anderen kommen ganz ohne aus. Die Frage ist: Wie viel gegenseitiges Verständnis ist nötig? Wie viel Wut verständlich? Und ist das eigentliche Problem nicht, dass viele Menschen mit Nachrichten gar nicht umgehen können? Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Führt die News-Überdosis zu Uninformiertheit?
Man ist ein bisschen ratlos zurzeit. Einerseits gab es nur selten die Möglichkeit, im täglichen und wöchentlichen Journalismus so viel über ein Thema zu erfahren wie über das Virus Covid-19 und all die Unannehmlichkeiten, die es mit sich bringt. Allein mit den Publikationen aus dem Hause Gruner + Jahr dazu könnte man eine halbe Woche verbringen, ohne sich zwischendurch irgendeine andere Beschäftigung suchen zu müssen. Schon gestern ist der neue Stern mit einer Corona-Titelgeschichte erschienen. Es gibt Tipps für den Alltag in Selbstisolation, wie Roland Pimpl in einem Beitrag für Horizont schreibt. Am Montag folgt dann ein Sonderheft, das auf hundert Seiten das nötige Wissen für Virologie-Expertengespräche vermittelt, sowie nebenbei noch einen Überblick über die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Folgen der gegenwärtigen Katastrophe.
Aber das ist natürlich längst nicht alles: Wer über eine Tastatur, einen Internetanschluss verfügt und ein bisschen Affinität zum Journalismus hat, gibt inzwischen einen Corona-Newsletter heraus. Empfehlen möchte ich den des Schweizer Online-Magazins Republik, das – so kann ich die Meldung hier auch noch schnell unterbringen – seit Mittwoch vorerst gerettet ist, wie die SZ auf ihrer Medienseite berichtet. Dazu gibt es zahllose Audio-Formate, den hier schon mehrfach erwähnten NDR-Podcast "Corona Update" mit dem Berliner Virologen Christian Drosten, dann den seines, je nach Sichtweise, Kollegen oder Gegenspielers Alexander Kekulé, der beim Altpapier-Host MDR erscheint. Und wo wir gerade über Gruner + Jahr sprachen, der Stern hat natürlich auch einen, "Wir und Corona". Das ist alles sehr toll, wenn man großen Wissensdurst und unendlich Zeit zur Verfügung hat. Aber vielleicht erinnern Sie sich noch, ich hatte in der Einleitung mit dem Wort "einerseits" begonnen. Danach hatten wir zusammen den Überblick verloren. Und genau das ist das Problem.
Ich habe mich gestern mit Blick auf diese Kolumne den ganzen Tag mit Corona-Themen beschäftigt. Aber ich habe nicht im Ansatz das Gefühl, auch nur halbwegs alles gesehen zu haben. Nun ist genau das hier ja leider mein Job, und ich kann zu meiner Verteidigung lediglich sagen: Das Mediengeschehen jenseits von Corona ist zurzeit recht überschaubar. Aber die Corona-Überdosis selbst ist natürlich auch ein Medienthema. Sie führt zu einem Problem, das Sie vielleicht aus dem Supermarkt kennen, wenn Sie Gewürzgurken kaufen wollen, sich dazu aber erst einmal zwischen 34 Gurkenmarken entscheiden müssen. Es kann gut sein, dass Sie am Ende verzweifelt gar nichts kaufen, weil Sie mit der Auswahl überfordert sind. Und so geht es anscheinend auch vielen Menschen mit Nachrichten, was in Zeiten wie diesen noch viel schlechter ist als sonst, allein schon, weil Informationen wichtig sind, um die Angst vor der Ungewissheit in Schach zu halten.
"Ein Teil der Bevölkerung hat vor der Überforderung kapituliert und sich vollkommen vom Nachrichtenkonsum zurückgezogen",
schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne und zeichnet damit die Trennlinie zwischen dieser Gruppe und einer anderen, den "Vernunftpanischen", die "die Nachrichtenlage in Echtzeit verfolgen", sich aber nicht klarmachen, dass andere das nicht tun, oder die einfach kein Verständnis dafür haben und dieses Unverständnis in Wut kanalisieren. Die Mauer zwischen diesen Gruppen, die von der einen Seite aus aussieht wie Ignoranz, von der anderen wie ein überdimensioniertes Frageszeichen, führt laut Lobo vor allem zu Trotzreaktionen.
"Wer Leute beschimpft, die sich falsch verhalten, trägt faktisch dazu bei, dass die ihr Verhalten nicht ändern werden."
Ein wirksames Mittel dagegen seien:
"geduldige Appelle an Empathie und Einsicht, am besten von unmittelbar Betroffenen. Und das immer und immer wieder und bestimmt, aber freundlich."
Wie fahrlässig ist Nachrichtenignoranz?
Doch muss man so viel Verständnis aufbringen? Oder darf man von mündigen Menschen, die sich an der Demokratie mit ihrer Stimme beteiligen, auch erwarten, dass sie in den Nachrichten verfolgen, was um sie herum passiert? Julius Betschka sieht die gesellschaftliche Trennlinie an einer anderen Stelle – und ihre Ursache nicht vor allem in Klassenunterschieden. In einem Kommentar für den Tagesspiegel schreibt er:
"Dieser Riss hat wenig mit Intelligenz oder Bildung zu tun, viel mit fehlenden Interesse für Nachrichten. Es trifft die weltgewandte Geschäftsfrau genauso wie den Blumenhändler. Man möchte ihnen zu rufen: Herrgott, informiert euch!"
Betschka verweist auf die "Reuters Institute Digital News"-Umfrage, die unter anderem zeigte, dass das Interesse an Nachrichten bei jungen Menschen eher rückläufig ist.
Betschka:
"Ist es nur Zufall, dass es nun genau diese Generation ist, die trotz der Verbote die Parks und Cafés bevölkert? Die sich in Telegram-Gruppen organisiert, um ausschweifende Alternativ-Partys zu feiern, weil die Clubs zu sind?"
Auch die Reuters-Umfrage nennt die Informationsflut als eine Ursache für das sich verflüchtigende Nachrichteninteresse. Bezeichnenderweise ist laut der Untersuchung ein anderer Grund, dass Nachrichten oft negativ sind.
Der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli hat im vergangenen Jahr ein ganzes Buch über lebensqualitätsfördernde Wirkung des Nachrichtenfastens geschrieben. Titel: "Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern."
Unterscheiden muss man dabei zwischen jenen, die sich die Kulturtechnik der Nachrichtenaufnahme irgendwann einmal angewöhnt haben. Sie können in ungewissen Zeiten jederzeit darauf zurückgreifen, sofern sie das wollen. Die Lobo-Kohorte kann es nicht, obwohl diese Menschen größtenteils lesen können.
Ich selbst kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Informationen konsumiert habe, also jedenfalls an ein Detail, das ich heute nur noch schwer nachvollziehbar finde. Als Schüler habe ich mir manchmal den Spiegel gekauft, bin aber regelmäßig daran verzweifelt, weil ich dachte, wenn Menschen sagen, sie lesen den Spiegel, dann bedeutet das: Sie lesen das Heft von vorne bis hinten. Mir war jedoch schnell klar: Das schaffe ich niemals, zum einen aus Zeitgründen, zum anderen aus fehlendem Interesse an den meisten Artikeln. Die Folge war, dass ich mir den Spiegel irgendwann nicht mehr gekauft habe, für ein paar Jahre.
Natürlich kann auch jemand ohne Wissen darüber, wie man ein Magazin liest, eine Website aufrufen oder die richtige Taste auf der Fernbedienung drücken. Ich will damit nur sagen: Es stehen möglicherweise Hürden im Weg, die geübte Nachrichtenleser*innen gar nicht mehr sehen.
Wie sehr kann man Gerüchten trauen?
Wenn Menschen mit Nachrichten umgehen können, nennt man das Medienkompetenz. Der Begriff beeinhaltet, die Fähigkeit, die Glaubwürdigkeit von Quellen einschätzen zu können. In einem Nachrichtengewitter wie dem nun schon seit Tagen und wahrscheinlich noch monatelang andauernden gerät man, sofern man diese Fähigkeit nicht besitzt, nicht nur selbst in Schwierigkeiten, sondern zieht auch andere mit herein. Said Rezek schreibt in einem Text für die taz:
"Medienkompetenzen machen zwar niemanden gegen das Coronavirus immun, aber immerhin sind dann alle gegen Fake News gewappnet. So kann jeder User durch Nutzung seriöser Quellen zur Informationsbeschaffung dazu beitragen, die Verbreitung von Covid-19 zu verlangsamen, die medizinische Versorgung zu verbessern und Panik zu verhindern."
Leider befinden wir uns nicht mehr in Level 1, wo glaubwürdige Nachrichten zu hundert Prozent richtig und Fake News zu hundert Prozent falsch sind. Um richtig und falsch auseinanderzuhalten, muss man jetzt schon etwas genauer hinsehen, wie in den vergangenen Tagen etwa das Beispiel mit einem über Whatsapp verbreiteten Gerücht zur Wirkung des Schmerzmittels Ibuprofen bei Corona-Infektionen deutlich gemacht hat. Einige taten die Information als "pure Spekulation" ab, andere Fachleute sehen Hinweise, dass es einen Zusammenhang zwischen schweren Corona-Verläufen und der Ibuprofen-Einnahme geben könnte (das war der Inhalt des Gerüchts), was letztlich, wie Patrick Gensing für den ARD-Faktenfinder ausführt, die Folge hatte, dass die WHO die Empfehlung aussprach, bei Verdacht auf Corona lieber Paracetamol zu nehmen.
Es ist bei weitem nicht der einzige Fall. Sogar die Bundesregierung hat schon mit Fake-News-Warnungen für Verwirrung gesorgt, die zwei Tage später dann doch keine Fake News mehr waren. Darum ging es unter anderem im bereits gestern im Altpapier erwähnten Übermedien-Text von Andrej Reisin, der weiterhin lesenswert ist, auch ein zweites Mal.
Allerdings will nicht nur der Konsum von Nachrichten gelernt sein, sondern auch die Bekämpfung von Gerüchten und falschen Nachrichten. Und daran, dass die diesbezügliche Kompetenz ausreichend auf alle Ministerien verteilt ist, bestehen zurzeit Zweifel. Hier noch mal ein Zitat aus der Kolumne von Sascha Lobo:
"Der niedersächsische SPD-Innenminister forderte, Fake News besonders zu bestrafen und dafür neue Verbotsgesetze auf den Weg zu bringen. Das ist zugleich weltfremd und schädlich, weil es verrät, dass Pistorius sich entweder kaum mit dem Phänomen Fake News beschäftigt hat. Oder, wahrscheinlicher, es ihm für eine hart klingende Zeile egal ist."
Die Ankündigung steht für eine sich zurzeit epidemisch ausbreitende Leichtfertigkeit, sich bereitwillig auf alles einzulassen, was Politiker sich einfallen lassen, um die Katastrophe vielleicht doch noch abzuwenden, sogar auf die Einschränkung von Grundrechten. Auch das hatte Andrej Reisin bereits kritisiert. In dem Menschen, der als Journalist*in arbeitet, regt sich hier möglicherweise das Empfinden, dass es nun erst mal wichtig sei, überhaupt etwas zu tun, und es kontraproduktiv wäre, das gleich mit Kritik kaputtzureden. Das ist einer menschlich-sozialen Perspektive auch richtig. Nur sieht die Rolle der Journalist*innen eben genau diese kritische Perspektive vor.
Vergessen Journalist*innen das, kann das in einer Situation wie der momentanen schnell dazu führen, dass sie eine Entwicklung befördern, die sich später nicht wieder rückgängig macht.
Sascha Lobo:
"Meiner Erfahrung nach sind dauerhafte Grundrechtseinschränkungen viel leichter durchsetzbar, wenn es Präzedenzfälle gibt. Und solche Einschränkungen sind Einbahnstraßen, es wird immer nur schärfer, aber fast nie lockerer."
Die Diskussion darüber, welche Grundrechte bald möglicherweise nicht mehr ganz so umfangreich sein werden, läuft bereits. In einer gestern veröffentlichten Übersicht nennt das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter anderem den Einsatz von Drohnen, Überwachungstechnologie, das Verbot von Menschenansammlungen, Verkehrsbeschränkungen und Beschlagnahmungen. Zu Ausgangssperren heißt es: "Sie wären in einer nächsten Stufe denkbar."
Altpapierkorb (Angela Merkel, Hörspiele, Facebook-Defekt, Tiktok, Japans und Corona, Notfall-Tipps für Journalisten)
+++ Großes Thema gestern natürlich: Angela Merkels Rede, die dann doch überraschend schnell wieder zu Ende war. Die Reaktionen fielen überwiegend positiv aus, aber es gab auch Kritik, was Altpapier-Kollege Christian Bartels als gutes Zeichen wertet. Er schreibt in einem Tweet: "Faustregel: Medieninhalte die sehr unterschiedlich beurteilt werden, sind die relativ interessantesten." Björn Czieslik hat für Turi2 Stimmen zur Rede zusammengetragen.
+++ Das Deutschlandradio und die ARD wollen bei Hörspielen in Zukunft darauf achten, dass ebenso viele Frauen wie Männer als Regisseurinnen, Komponistinnen und Autorinnen beschäftigt werden, schreibt MDR-Kollege Steffen Grimberg in seiner taz-Kolumne.
+++ Wegen einer defekten Sicherheitssoftware hat Facebook zahllose Posts von Nutzern gesperrt, schreibt Emeli Glaser auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle). Eigentlich sollte die Software Falschinformatinen über das Corona-Virus finden.
+++ Die chinesische Video-Plattform Tiktok hat anscheinend versucht, über Anweisungen an Moderatoren zu verhindern, dass hässliche, arme oder behinderte Menschen gezeigt werden. Das hat die Enthüllungsplattform "The Intercept" herausgefunden, wie Stefanie Sippel auf der FAZ-Medienseite (55 Cent) berichtet.
+++ In Japen versucht Premierminister Shinzo Abe zurzeit anscheinend mit Blick auf Olympia, die Corona-Krise herunterzuspielen, indem er Dinge verschweigt. Axel Weidemann schreibt darüber auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle), unter anderem geht es um eine Pressekonferenz, bei der ein Reporter sagte: "Ich habe immer noch Fragen, Herr Premierminister. Wollen Sie das hier wirklich als Pressekonferenz bezeichnen?"
+++ Der Intendant der Deutschen Welle, Peter Limbourg, ist positiv auf Corona getestet worden, berichtet der Tagesspiegel. Laut einem Sprecher geht es ihm gut, jedenfalls den Umständen entsprechend.
+++ Das Journalismus-Lab der Landesanstalt für Medien gibt in einem Sondernewsletter Tipps dazu, wie Medien mit der Situation gerade konstruktiv umgehen können.
+++ Viele freie Journalisten werden in den nächsten Wochen in Existenznot geraten, vor allem jene, die vor allem über Sport und Veranstaltungen berichten. Caroline Schmidt hat für das NDR-Medienmagazin "Zapp" mit Cornelia Berger von der Deutschen Journalisten-Union darüber gesprochen, was sie machen und mit welchen Hilfen sie rechnen können.
+++ Gilt eine Ausgangssperre auch für Reporter? Wo sind die Grenzen der Presse- und Rundfunkfreiheit? Wie sieht es mit dem journalistischen Auskunftsanspruch aus? Das alles sind Fragen, die sich für viele Journalisten in den kommenden Tagen und Wochen stellen werden. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) hat Informationen und Tipps zusammengetragen – und ein paar Forderungen an die Bundesregierung, wie ein paar Regeländerungen Journalisten jetzt helfen könnten.
Neues Altpapier gibt es am Freitag.
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