Das Altpapier am 02. März 2020 Echtzeitstimmung
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28. Februar 2020, 11:59 Uhr
Die Berichterstattung über das Corona-Virus erfordert komplizierte Abwägungen, und die einen Redaktionen und Formate balancieren gut auf einem schmalen Grat, die anderen vielleicht eher so mittelgut. Der Sonntagshingucker für Medienleute dürfte allerdings eine Meldung aus dem Berliner Verlag gewesen sein. Der neue Chefredakteur, Matthias Thieme, soll nach kürzester Zeit wieder gekündigt haben. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Zwischen Information und Panikmache
Wenn man die Wahl zwischen Nachrichtenunterdrückung und einem ununterbrochen fließenden Newsstrom hat, ist die Entscheidung einfach. Bettina Gaus schreibt in ihrer taz-Kolumne:
“Über die Situation in abgeriegelten chinesischen Millionenstädten weiß die internationale Öffentlichkeit fast nichts. Über die Lage in abgeriegelten europäischen Ortschaften fast alles. Das erzeugt keine Panik, im Gegenteil. Es beruhigt.“
Und da hat sie einen Punkt. Lieber weiß man sogar, dass der Papst “wohl nicht an Corona“ erkrankt ist (1. März, 15:40 Uhr), als dass man zu wenig weiß. Andererseits sind die Nudelregale in manchen deutschen Supermärkten aber halt doch ganz schön leergeräumt dafür, dass der stete Nachrichtenfluss so beruhigend wirkt.
Nachrichtenredaktionen haben es gerade nicht leicht. Die Berichterstattung über das Großthema Corona-Virus erfordert komplizierte Abwägungen im Grenzgebiet zwischen Informationsübermittlung und Panikmache. Vielleicht kann man es ja so formulieren, damit es nicht pauschal klingt – denn das wäre völlig unangebracht: Die einen Redaktionen und Formate balancieren gut auf einem schmalen Grat, die anderen vielleicht eher so mittelgut.
“Wenn man manche Medien liest, fühlt man sich wie bei den 'Simpsons‘, wo einst Nachrichtenmoderator Kent Brockman einen Experten im Studio fragte: 'Professor, würden Sie den Zuschauern raten, mit Panik zu reagieren?‘ – Antwort: 'Ohne jeden Vorbehalt.’“
Schreibt Jürn Kruse im Übermedien-Sonntagsnewsletter. Und wohin führt sein “Simpsons“-Texteinstieg? Mitten rein in das, was eben auch zur deutschen Medienwirklichkeit gehört:
“Überall wird getickert (CORONA +++ Hongkong stellt Haustiere von Infizierten unter Quarantäne +++ Erster bestätigter Coronavirus-Fall auf Island +++), Newsblogs werden eingerichtet, jede Infektion wird gemeldet, Update, Update, Update. Bei 'Bild‘ haben sie vorige Woche an fünf Tagen das Virus auf der Titelseite gehabt.“ (Links im Original)
Ich gehöre zu den Journalisten, die die hier anklingende Skepsis teilen. Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen den Eindruck, dass in der Berichterstattung über Corona zu viel Wind gemacht werde, nicht haben: Jede gewaschene Hand ist eine gute Hand, wir müssen informieren, wir haben eine Verantwortung, usw.
Und ja, die haben wir. Zumal das Informationsbedürfnis tatsächlich sehr groß zu sein scheint, wie man – zum Beispiel am Sonntagnachmittag – an den “Meistgelesen“-Kästen bei Onlineportalen sah. Oder am ungewöhnlich hohen Marktanteil des “RTL aktuell Spezials“ zum Corona-Thema (DWDL). Oder an der Programmierung von Spezialsendungen auch bei ProSieben und Arte.
Aber wie erfüllen wir Journalistinnen und Journalisten unsere Aufgabe in dieser Phase der vor allem von Fachleuten wirklich deutbaren Ereignisse? Worin besteht diese Aufgabe vorrangig, wenn nicht in kuratorischer Arbeit? Die Antwort auf die Frage, was zu tun sei, lautet meines Erachtens jedenfalls nicht: Lasst uns ein Newsblog aufsetzen und relevante Meldungen und Windbeuteleien aufeinandertürmen.
Volker Stollorz, Redaktionsleiter und Geschäftsführer des Science Media Center, der am Freitag hier bereits zitiert wurde, sagte bei “Was mit Medien“ von Deutschlandfunk Nova: “Da muss man jetzt aufpassen, dass es jetzt nicht in so einen ewigen Nachrichtenmahlstrom hineingerät, und in dem der Bürger dann am Ende auch desorientiert ist“. Das ist der Punkt.
Der andere Punkt ist, dass das News- oder Liveblog nicht nur Informationen transportiert. Es ist ein panisches Format, das selbst eine Nachricht ist. Sie lautet: Es herrscht Ausnahmezustand. Der Journalistenjob angesichts des großen Informationsbedürfnisses ist Auswahl, Gewichtung, Einordnung von Informationen. Das Liveblog steht für Schnell, Alles, Reinkippen. Echtzeitstimmung.
Was übrigens nicht heißen soll, dass das Format Liveblog für gar nichts gut wäre: Für die Schachberichterstattung eignet es sich ganz prima.
Das Fragezeichen des Tages geht an das Team Friedrich
Der Sonntagshingucker für Medienleute dürfte eine Meldung aus dem Berliner Verlag gewesen sein. “Was da im Berliner Verlag passiert, kennt man eigentlich nur aus der Fußball-Bundesliga: Trainerwechsel in Permanenz“, schreibt der Tagesspiegel. “Die 'Berliner Zeitung‘ kommt einfach nicht zur Ruhe“, heißt es bei DWDL.
Denn was ist passiert? Der neue Chefredakteur von Berliner Zeitung und Berliner Kurier, Matthias Thieme, ursprünglich als Chefredakteur nur für digitale Produkte engagiert, seit Februar aber “alleiniger Verantwortlicher“ für die beiden Redaktionen, soll laut spiegel.de und Horizont wieder gekündigt haben.
Was bedeutet das? Das bedeutet zunächst einmal Fragezeichen.
Nahe lag zunächst, über einen Zusammenhang mit einer Geschichte der Welt am Sonntag zu spekulieren. Sie berichtet, dass den Verlegern Silke und Holger Friedrich, die es binnen weniger Monate zu, sagen wir, erstaunlicher Prominenz in der Medienbranche gebracht haben (zuletzt Thema in diesem Altpapier), womöglich eine Strafanzeige in der Schweiz drohe. Sie hätten, heißt es dort, behauptet, eine Firma in Zürich zu besitzen, die allerdings dort gar nicht registriert worden sei. Von “Ungereimtheiten, die ihre unternehmerische Redlichkeit infrage stellen“, schreibt Horizont.
Dort steht aber auch: “Als Grund für Thiemes Entscheidung wird redaktionsintern eine komplexe Gemengelage angegeben. Sein Vorgehen wird angesichts der Umstände von seinen Redaktionskollegen als 'sehr nachvollziehbar’ beschrieben.“
Fragezeichen? So einige Fragezeichen. Aufeinandergetürmt wie News in einem Liveblog.
Altpapierkorb (“Sportschau“, Präventionsgeschichte mit Daniel Defoe, Katastrophenfilmeinflüsse, Zukunft der Evangelischen Journalistenschule)
+++ Der Feuilleton-Corona-Ticker: Verlassen wir die Schnell-schnell-Ebene. Begeben wir uns ins Reich der Bücherregale und des Filmwissens. Die Feuilletons haben die Komplizenschaft von Virus, Prävention und Medialem jedenfalls auf dem Schirm: Die Süddeutsche Zeitung etwa, in einem Text über Daniel Defoe und die Zeitungs- und Drucktechnologie des frühen 18. Jahrhunderts: “Sie schufen eine Konstellation, in der wir die Vorgeschichte unserer Gegenwart erkennen können, die Koppelung von Seuche, Nachrichtentechnik und moderner Öffentlichkeit. Sie war mit dem Aufbruch in die Globalisierung, mit der Verstetigung des internationalen Handelsverkehrs eng verbunden. ‚Foreign news‘ und ‚domestic news‘ durchdrangen einander. Die Nachrichten von Seuchen verbanden beide Sphären. In ihnen verdichtete sich ein Grundelement moderner Gegenwartserfahrung, in der die Zeitgenossenschaft zugleich Raumgenossenschaft ist.“
Und weiter: “Der wichtigste Effekt dieser Konstellation ist, dass moderne Gesellschaften von Seuchen schon nachhaltig erfasst werden, wenn die physischen Infektionsketten sie noch gar nicht erreicht haben. Die Nachrichtenzirkulation bestimmt – nicht erst im Internetzeitalter, sondern schon in Defoes ‚Print 2.0‘-Welt –, wann Präventionsmaßnahmen beginnen.“
+++Oder Zeit Online, wo es um den Einfluss fiktionaler Katastrophenbilder auf die journalistische Arbeit geht: “Die Berichterstattung über die Ausbreitung des Coronavirus in den vergangenen Wochen erzeugte scheinbar vertraute Ausnahmesituationen: Menschen in Schutzanzügen, hastige Hamsterkäufe, bestürzt dreinschauende Politiker vor Bildschirmen mit Landkarten, die sich teilweise rot gefärbt haben. Das sind Bilder, die wir aus Filmen kennen und die weitere Bilder aus diesen Filmen herbeirufen. … (A)uch die Berichterstattung über reale Ereignisse bedient sich oft bewusst oder unbewusst der Ästhetik von künstlerischen Infektionserzählungen. Auch Medien wollen unterhalten und bedienen dabei zuweilen die Angstlust des Publikums auf eine ähnliche Art wie Fiktionen.“
+++ In einem Bundesligastadion wurde ein Unternehmer von Fans beschimpft. Die Geschichte hat einen Kontext, der aber in der Samstags-“Sportschau“ der ARD sehr kurz kam. Dort seien die Zuschreibungen in der vielleicht ein bisschen zu leicht verteilt worden, findet Zeit Online: “selbst die für gewöhnlich nüchterne Sportschau überbot sich in einer Reaktion irgendwo zwischen Empörung“ (über die Fans) “und tiefster Anteilnahme“ (mit dem Mäzen).
+++ Ein Thread von Andrej Reisin zum Thema hat ebenfalls nicht nur Vereine, Verbände und Fans, sondern auch die Rolle des Sportjournalismus im Blick.
+++ Was aus der Evangelischen Journalistenschule wird? Immerhin: abwarten (u.a. sueddeutsche.de). Ausführlich schreibt über die angekündigten Sparmaßnahmen, die die Schule treffen könnten, MDR-Kollege Steffen Grimberg in der taz.
Neues Altpapier gibt‘s wieder am Dienstag.
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