Teasergrafik Altpapier vom 24. Februar 2020: TV-Moderator Sigmund Gottlieb und die ehem. AfD Politikerin, jetzt "Funk-YouTuberin" Franziska Schreiber in einer Porträt-Collage.
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Das Altpapier am 24. Februar 2020 Die Qualität, drüber streiten zu können

24. Februar 2020, 11:00 Uhr

An der Medienberichterstattung zum Massenmord in Hanau gibt es auch etwas zu loben. Kommt nach der allerletzten Rundfunkbeitrags-Erhöhung "reine Beitragsstabilität" – oder eine neue Pressemedien-Allianz für die Öffentlich-Rechtlichen? Und sendet die legitime Sigmund-Gottlieb-Nachfolgerin auf Funk? Außerdem beginnt ein für die Medienzukunft global wichtiges Gerichtsverfahren, und Julian Assange erfährt endlich breite Unterstützung. Ein Altpapier von Christian Bartels.

"Den Opfern das Wort" (u.a. Lob für Hanau-Berichterstattung)

In Echtzeit-getriebenen Medien über Ereignisse wie den Massenmord in Hanau berichten zu müssen, bietet viel Raum für Fehler (Altpapier) – und nicht viel Anlass zur Hoffnung, dass nach weiteren Ereignissen wenigstens weniger Fehler gemacht werden.

Gibt es im fürchterlichen Rahmen dennoch Positives zu registrieren? Vielleicht den insgesamt relativ geringen Fokus auf den rassistischen Täter, auf das, was er zu erreichen gehofft und das, was er zu diesem Zweck vorbereitet hatte. Statt seines Bildes und Namen erschienen und erscheinen häufig seine Opfer. Das geschieht außer auf Kundgebungen auch in sog. soz. Medien (wie z.B. in diesem viel geteilten Twitter-Thread von Frederik Schindler, der übrigens für den erneut viel, oft zurecht kritisierten Springer-Konzern arbeitet) und in Artikeln wie "Für nicht-weiße Deutsche ist Hanau überall" von einem Freund eines der Ermordeten. Sowie im linearen Fernsehen:

"Am Donnerstagabend blieb haften, wie Claus Kleber im 'heute-journal' in der Mitte der Sendung Namen von Opfern verlas, mit brüchiger Stimme. Es wurde fast komplett davon abgesehen, Ausschnitte aus Youtube-Videos oder Pamphlete des Täters zu zeigen. Stattdessen Stimmen von Angehörigen der Opfer",

loben Markus Ehrenberg und Joachim Huber ebenfalls im Tagesspiegel.

Personalisierung ist ein Megatrend, mit dem alle, ob er ihnen gefällt oder nicht so, umgehen müssen. Vor diesem Hintergrund statt Tätern lieber "Den Opfern das Wort" zu geben, wie die Tsp.-Überschrift  lautet, hat sich vielleicht als Faustregel durchgesetzt. Selbstverständlich müssen die Persönlichkeitsrechte beachtet werden, die Boulevardmedien häufig missachten. Weiter unten im Tsp.-Artikel wird erst die Illner-Talkshow gelobt, jedoch der Einsatz "elegischer Streichermusik" unter den Bildern aus Hanau kritisiert. (Und tatsächlich forciert vor allem das ZDF die Unsitte, Nachrichtenbilder mit emotional gemeinter Musik zu untermalen, derzeit massiv). Dann attackieren Ehrenberg und Huber, vor allem dieser und der Anschluss-Erregung wegen, "Twitter, das Erregungsinstrument schlichtweg":

"Den Social-Media-Dienst nutzen drei Millionen Deutsche, viele Millionen mehr lesen eine Tageszeitung, dieses Medium kommt auf eine tägliche Auflage von mehr als 13 Millionen Exemplaren. Das sind zu einem ganz großen Teil seriöse Abo-Blätter, die einen Journalismus fern von jener extremen, ja extremistischen Aufmerksamkeits-Attitüde von Augstein, Tichy und der Agro-'Bild' betreiben. (...) Die publizistische Mitte ist nicht leer, sie ist nicht hohl, sie ist, sie macht sich zu wenig sichtbar. Wie die gesellschaftliche Mitte. Deswegen schlägt ein ums andre Mal die Stunde der Demagogen."

Hingegen registriert das Gespann Kathleen Hildebrand und Hans Hoff heute auf der Medienseiten der Süddeutschen Tageszeitung, "trotz einiger Negativbeispiele", vor allem nützliche Auswirkungen Twitters:

"Es entspann sich vor allem bei Twitter sehr rasch eine öffentliche Diskussion um das, was gesagt und gezeigt wurde, vor allem aber um das, was man vielleicht besser nicht sagen und zeigen sollte, wenn man wirklich nur sagen will, was ist."

Da geht es, wie auch schon im Freitags-Altpapier, um Begriffe wie "fremdenfeindlich", die nach dem Anschlag kurz viel verwendet wurden, dann jedoch zurecht aus der Diskussion verschwanden. Und um die Zahl der Opfer, die um den Täter, auch wenn er sich ebenfalls getötet hat, sicher nicht erhöht werden sollte.

Wer kommentiert mal konservativ? Allerletzte Beitrags-Erhöhung??

Ändert sich nach Hanau etwas in der noch grundsätzlicheren und langfristigeren Debatte um die Öffentlich-Rechtlichen, die wegen der bevorstehenden Rundfunkbeitrags-Erhöhung heißer werde dürfte?

Es ist zu früh, um das festzustellen. Doch gleich zwei Veröffentlichungen klassischer Verlagsmedien, die die Öffentlich-Rechtlichen eigentlich auch gerne kritisieren, könnten darauf hindeuten. Zum einen kritisierte Alice Bota in einer zeit.de-Kolumne die "Mode, an der Rolle klassischer Medien rumzumäkeln und herumzusägen". Gar mit dem Vorspann-Satz "Eine Allianz aus rechten Trollen und bürgerlichen Parteien macht den öffentlich-rechtlichen Sendern zu schaffen", teasert sogar, zum anderen, der aktuelle Spiegel seine Reportage (€) zum ungefähr selben Thema an. Daraus gab es einige Vorabmeldungen.

Dabei handelt es sich um einen – merklich vor dem Hanauer Anschlag – nicht gerade aus einem Guss geschriebenen Viel-Seiter eines fünfköpfigen Autorenteams, der dafür viele Gesprächspartner von Georg Restle bis zum medienpolitischen AfD-Sprecher Martin Renner ("In seinem Büro in der Nähe des Brandenburger Tors raucht der 65-Jährige täglich 50 bis 60 filterlose Zigaretten ..."), sowie viele Schauplätze enthält: von einem Intendanten-Büro mit Blick auf Weinberge bis zu einem Brauhaus, in dem Leberkäs verzehrt wird. Als "einen wunden Punkt" nennt der Spiegel "die Frage nach der Meinungsvielfalt in den Kommentaren", insbesondere den ausdrücklich so genannten Kommentaren, die nach altem Muster täglich in den "Tagesthemen" gesprochen werden (und um deren Zuschlag die Anstalten ja eifrig konkurrieren):

"Im Idealfall sorgt dieses System für Meinungsvielfalt: Mal kommentiert ein Linker, mal ein Liberaler, mal ein Konservativer. Das Problem ist: Es gibt kaum konservative Kommentatoren. (...) Auch intern hat man das Problem erkannt. Die 'Tagesthemen'-Redaktion wirbt bei den Anstalten inzwischen für mehr konservative und liberale Stimmen. Vielleicht brauchte es wieder einen wie Sigmund Gottlieb. Allein schon, damit man sich über ihn aufregen kann. 'Dass wir einen wie ihn nicht mehr haben, ist ein Unglück', sagt SWR-Chefredakteur Fritz Frey. Er lacht. 'Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde.'"

Wobei das Spiegel-Team am Ende eine Überraschungs-Lösung für "so etwas wie einen neuen Sigmund Gottlieb" aus dem Hut zaubert: "die öffentlich-rechtliche Figur mit der wohl wunderlichsten Karriere", die für Funk "youtubende" AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber. (Und falls jemand zu jung ist, um Gottlieb zu kennen: siehe z.B. hier).

Hm, darüber müsste man länger streiten. Doch genau das – halbwegs zum Streit darüber einladen zu können – ist ja die Qualität, die "Tagesthemen"-Kommentare besitzen sollten. Vielleicht wäre es eine gute Idee, das naturgemäß junge, meist meinungsfreudige und für ÖR-Verhältnisse überdurchschnittlich diverse Funk-Personal öfter mal ausdrücklich als solche benannte Kommentare sprechen zu lassen, um die "Tagesthemen" aufzupeppen und aus ihrer "Harmoniesucht" (Spiegel) zu befreien.

Nicht sehr überzeugend Form nimmt im Spiegel-Artikel die angeteaserte "Allianz aus rechten Trollen und bürgerlichen Parteien" an . Einmal heißt's "Die Gegner von ARD und ZDF sitzen längst im Bürgertum. Sachsen-Anhalts Landesvater Reiner Haseloff (...) " – und dann wird dessen bekannte Kritik am bekannt hohen Gehalt des WDR-Intendanten Tom Buhrow zitiert, das ja schon häufig (auch im Altpapier) kritisch beziffert wurde. Gleich alle, die etwas oder etwas mehr am Erscheinungsbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kritisieren, zu dessen "Gegnern" zu erklären, bleibt auch dann eine wenig überzeugende Strategie, wenn sie überraschenderweise mal der Spiegel fährt.

Konkret um die Rundfunkbeitrags-Erhöhung auf 18,36 Euro im Monat, die vorige Woche von der KEF bestätigt wurde ("Die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erweist sich gerade hier – in der unbestechlich-trockenen Betrachtung der Kef-Gutachter", schrieb Michael Hanfeld in der Samstags-FAZ) und nun von sämtlichen 16 Landtagen beschlossen werden muss, geht es im Interview (€), das Haseloffs mit Medien befasster Staatsminister Springers Welt-Medien gab.

Da kündigt Rainer Robra an, bevor er mal wieder, aber mit Recht, "stärkere Unterscheidbarkeit von ARD und ZDF" fordert, dass der Magdeburger Landtag mit der Zustimmerung zur Erhöhung "Probleme haben", sie aber "vielleicht dann zähneknirschend" geben wird, wenn anschließend "ab 2021 (...) die reine Beitragsstabilität gelten" wird. Was heißen soll, dass dieser ostdeutsche CDU-Landesverband nur noch eine allerletzte Rundfunkbeitrags-Erhöhung durchgehen lassen will – und weitere Diskussionen (auch im Thüringer Landtag, dessen landauf, landab besprochene Handlungsfähigkeit für die Erhöhung benötigt wird) inspirieren dürfte.

Julian Assange (und der Journalismus) vor Gericht

Am heutigen Montag beginnt in Großbritannien endlich der Prozess gegen Julian Assange. Lange rührte sich für den neben Schwerverbrechern, inzwischen immerhin nicht mehr isoliert Eingekerkerten, wenig Unterstützung in Deutschland. Hatte er nicht sogar dazu beigetragen, die Wahl Hillary Clintons, der uneingeschränkten Favoritin sämtlicher deutscher USA-Experten und -Korrespondenten, zu verhindern? Inzwischen gibt es jetzt eine Menge Kommentare für ihn. Assange

"hat mit seiner Arbeit die Mächtigen entblößt und herausgefordert, nun schlagen die Imperien zurück. Erkennbar von Rachsucht getrieben, gehen sie in ihrer maximalen Repression an die Grenzen des Rechtsstaats und teils darüber hinaus",

schreibt frei online bei spiegel.de Marcel Rosenbach (der auch am längeren Stück aus dem gedruckten Heft beteiligt war). Es geht jeweils auch um die eigene Rolle. Einst kooperierte der Spiegel ja mit Assange.

"WikiLeaks hat mit seinen Veröffentlichungen von 2010 auch dem Journalismus neue Impulse gegeben. Sie haben den Mehrwert internationaler Medienkooperationen gezeigt und erkennbar weitere Whistleblower ermutigt",

würdigt Rosenbach. Georg Mascolo, seinerzeit Spiegel-Chefredakteur, schreibt im heutigen SZ-Feuilleton (€): "Journalismus ist keine Spionage". Im Prozess gegen Assange dürfte es darum gehen, künftig auch Journalismus anklagbar zu machen. Beachtung verdient ferner noch ein in der SZ erschienener Kommentar. Darin zitiert Heribert Prantl sich selbst, allerdings nicht nur affirmativ: 

"Ich selber habe in der genannten Kolumne, die sich für die Haftentlassung des kranken Häftlings Assange eingesetzt hat, dem Mann fälschlich einen schweren Fehler vorgeworfen - er habe sich den Ermittlungen der schwedischen Justiz durch Flucht nach London entzogen, aus Angst davor, von Schweden an die USA ausgeliefert zu werden. Nach den Erkenntnissen des UN-Sonderberichterstatters lässt sich der Vorwurf nicht halten."

Dass Journalisten Fehler zugeben, erst recht beim Anderen-Fehler-Vorwerfen, ereignet sich ja nicht häufig. Und die SZ setzte online in diesem Beitrag mal nicht nur Bullshit-SEO-Links ins eigene Angebot, sondern auch einen zum republik.ch-Interview mit Nils Melzer, dem UN-Berichterstatter für Folter, das vor allem den Umschwung in der veröffentlichten Meinung bewirkte (Altpapier).

Weil Prantl inzwischen eine "Persönlichkeitszerstörungskampagne der USA" (im Vermutungs-Konjunktiv) für möglich hält, folgt noch ein Auszug aus einem der aktuellen Interviews mit Assanges Vater, der zur Unterstützung seines Sohns natürlich bereitwillig zur Verfügung steht. "Viele von uns, die Bevölkerung, aber auch wir Journalisten, wurden lange erfolgreich von dem Fall Julian Assange abgelenkt. Wie gelang das?", fragt die stern.de-Reporterin Dagmar Seeland. John Shipton antwortet:

"Wissen Sie, all diese Verleumdungen und Lügen und Manöver in Julians Fall, die Gesetzesbrüche, die Verleugnung von Menschenrechten – der Zweck war es, von den Kriegsverbrechen abzulenken, die da enthüllt worden waren. Die Massenmorde, die Zerstörung von sieben Ländern in zwanzig Jahren, die 1,5 Millionen Todesopfer im Irak, Millionen von Flüchtlingen weltweit – das ist es doch, was uns Wikileaks gezeigt hat. Man muss die Täter verfolgen, nicht die Enthüller. Wir vertrauen zu sehr auf unsere Regierungen, weil wir glauben, wir haben sie selbst gewählt. Es ist ein Fehler, zu sehr zu vertrauen."

Altpapierkorb (Zeitungszustellungs-Subventionen, evangelischer Publizistik-"Alarm", RSF statt ROG, "Superindividualisierung", 500 Stunden pro Minute)

+++  "'Auch wenn inzwischen mehrere Tausend Abonnenten unsere Zeitungen digital lesen und wir über die mobilen Kanäle rund um die Uhr informieren, wollen die Menschen weiterhin überwiegend ihre Zeitung gedruckt in Händen halten, morgens spätestens um 6 Uhr', schrieben etwa die Verleger von Schwäbischer Post und Gmünder Tagespost. 'Neu-Abonnenten wählen zu über 90 Prozent das gedruckte Exemplar' (...)", das berichtet Daniel Bouhs in der taz über Zeitungsverlegerverbands-Stellungnahmen zum Arbeitsministeriums-Plan, die Zustellung gedruckter Zeitungen zu subventionieren.

+++ Von "Alarm im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik" berichtet Philipp Greifenstein im kircheninteressierten, aber kirchenunabhängigen eulemagazin.de. Bekanntlich hat das GEP, das sparen muss, beschlossen, die Evangelischen Journalistenschule zu schließen (und damit zumindest in der "Journalismus-Blase der Republik" allerhand Aufmerksamkeit erregt) – während zugleich das Influencer- (oder, wie die evanglische Kirche formuliert: "Sinnfluencer*innen"-) Netzwerk namens "yeet" startete, aber "in den Medien des Landes kaum Resonanz gefunden" hat.

+++ Die deutschen Reporter ohne Grenzen heißen zwar weiterhin so, führen allerdings künftig die Abkürzung RSF statt ROG. "'Der Name Reporter ohne Grenzen ist im deutschen Sprachraum eine bekannte Marke, deswegen halten wir auch in Zukunft daran fest. Gleichzeitig wollen wir den internationalen Charakter der Organisation stärker betonen', sagte Michael Rediske, Vorstandssprecher der deutschen Sektion und Präsident von Reporter ohne Grenzen International. 'International hat sich das Akronym RSF etabliert. Damit wird nun auf den ersten Blick in jeder Sprache ersichtlich, dass wir eine weltweit agierende Organisation sind.'"

+++ Die von der ARD geplante Verlängerung der "Tagesthemen" stößt, was Freitage betrifft. beim ZDF auf solchen Protest, wie es ihn zuletzt 2005 gegeben habe, berichtete Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung.

+++ Die Gruner+Jahr-Zeitschrift Schöner Wohnen wird stolze 60 Jahre alt. Die Verkaufszahlen der Zeitschrift sinken "in Zeiten der Superindividualisierung", wie Chefredakteurin Bettina Billerbeck formuliert, aber das "angeschlossene Einrichtungshaus" scheint zu funktionieren, berichtet der Tagesspiegel.

+++ Das FAZ-Wirtschaftsressort traf sich mit Youtubes "Regionalchefin für Europa, Afrika und den Nahen Osten", Cécile Frot-Coutaz, und brachte unter anderem die Kennziffer mit, dass derzeit rund 500 Stunden Videomaterial pro Minute auf Youtube hochgeladen würden.

+++ Und zum vernachlässigten Medienjournalismus-Genre des Streamingdienst-Serien-Verrisses trug Oliver Jungen in der Samstags-FAZ Lesenswertes bei: "Jahrzehnte an Aufarbeitung des Faschismus werden der Unterhaltung willen schmutziger Gewaltpornographie geopfert. Was uns Amazon präsentiert, ist eine Zumutung", schrieb er da über die Serie "Hunters" mit Al Pacino.

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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