Das Altpapier am 3. Dezember 2019 Ist #Hauptstadtpresse jetzt ein Schimpfwort?

03. Dezember 2019, 10:58 Uhr

Und Digitalpolitik auf einmal ein wichtiges Politikressort? Jedenfalls hat die SPD nun Internet. Immer mehr neue Streamingdienste stellen sich immer noch neuer auf. Außerdem: öffentlich-rechtliche Enkelfirmen, neue Reporterpreise, frische Rechtepakete. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Zum mutmaßlichen neuen SPD-Parteivorstand gibt es viele Meinungen. In der Presselandschaft, die der heitere Postillon scherzhaft als "zeitbildtagesspiegelschauwelt.de" zusammenfasst, sind es vorzugsweise scharf kritische bis apokalyptische. Der selten benutzte Begriff "Hauptstadtpresse" avancierte zwischenzeitlich zum Twittertrend – und positiv war das nicht gemeint.

Das "reflexhafte Medienverhalten" der Leitartikler war gestern hier schon angedeutet. Samira El Ouassil hat dann in ihrer "Wochenschau"-Kolumne (uebermedien.de) unter der Überschrift "Apokalyptische Writer" ausgemalt, wie der FAZ-Recke Jasper von Altenbockum "als eine publizistische Trümmerfrau ... durch ein postapokalyptisches Berlin irrt" und Gabor Steingarts Hieronymus-Bosch-Fantasie inspiriert hat, oder war's umgekehrt? Ihre Folgerung jedenfalls:

"Weil sich viele JournalistInnen in ihrem Katastrophen-Kommentarismus zu #Eskabolation geradezu beängstigend einig sind, wirkt es wie ein kleiner stiller Wettbewerb, in dem es darum geht, die dramatischste Kassandra-Haltung an den Tag zu legen, ohne eine gekonnte Kenner-Pose vermissen zu lassen. Diese überzeugte Einstimmigkeit ist vor allem deshalb bemerkenswert, da hier mit nostradamischer Gewissheit die Zukunft der SPD nun nicht mehr nur vermutet, sondern selbstsicher gewusst wird"

Hm. Das "still" dürfte echte Hauptstadtjournalisten am meisten kränken. Vielleicht spielte einerseits der Wunsch eine Rolle, sich von der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung abzusetzen (in deren gewaltiger Breite scharfe Worte über Parteien mit viel Regierungsverantwortung ja zuverlässig sehr selten fallen). Ziemlich sicher spielte andererseits eine Rolle, dass relative deutsche Leitmedien sich stets am engsten an relativen deutschen Leitmedien orientieren und stets erschrecken, wenn die anderen ein anderes Thema anders betrachten als sie selbst. Dank des Internets lässt sich sowas ja ständig überprüfen und schnell beheben, weshalb es große und mittelgroße Unterschiede in der deutschen Berichterstattung nie lange gibt.
Was sie natürlich nicht besser macht ...

Eine Digitalpolitikerin, die was zu melden hat

Dritterseits: Unabhängig davon, ob man jetzt auf die erfrischende Wirkung des neuen Spitzenduos gespannt ist, lieber den hanseatischen Scholzomaten an der SPD-Spitze gesehen hätte oder der SPD sowieso mal ein paar Legislaturen Regeneration in der Opposition gönnte: Die mutmaßliche künftige SPD-Vorsitzende verdient an dieser Stelle besondere Beachtung. Saskia Esten ist ja "Digitalpolitikerin"!

"SPD wählt Netzpolitik an die Spitze", kommentiert netzpolitik.org denn auch. Stefan Krempl (heise.de) erkannte in den Plänen Eskens und ihres Cos Walter-Borjans außer einer "Kampfansage an den Überwachungskapitalismus aus dem Silicon Valley" auch pragmatische Akzente: "Wo der Breitbandausbau in Deutschland funktioniert, sind oft Stadtwerke oder vergleichbare Akteure am Werk", steht etwa darin. Und als wichtig erkannte Infrastrukturen nicht grundsätzlich dem sog. Markt zu überlassen, der sich in dieser Hinsicht schon lange nicht mehr mit Ruhm bekleckert hat, ist wirklich eine erfrischende Position.

"Unter netzpolitischen Fachleuten in Berlin hat sie sich seit ihrem Einzug in den  Bundestag 2013 zumindest beim Thema Digitalpolitik einen guten Namen gemacht", schreibt Jannis Brühl in der Süddeutschen über Esken (unter der Online-Überschrift "Die SPD hat jetzt Internet").

Ich selbst fand im Februar nach einem "netzpolitischen Parteiencheck", dass Esken und drei (damals) ähnlich wenig bekannte Kollegen anderer Parteien "durchgehend einen kompetenten Eindruck" machten – und allesamt authentisch durchblicken ließen, dass digital-/ netzpolitsche Aspekte fürs Regierungshandeln ohnehin nicht ins Gewicht fallen. Wenn sich daran nun etwas ändern würde, wäre das ein Wert an sich. Nochmals netzpolitik.org:

"Aus netzpolitischer Sicht ist die Wahl von Saskia Esken zur Vorsitzenden der SPD ein Glücksgriff. Denn erstmals steht einer großen deutschen Partei jemand vor, deren Expertise die Digitalisierung ist",

kommentiert Markus Reuter. Der, nachdem er der "Hauptstadtpresse" (... die "aufheult über die angeblich unbekannte Politikerin") kräftig einen mitgab, gleich anschließend alte Hauptstadtpressen-Klassiker nachsingt. Über Kurt Becks "bräsige Landesväterlichkeit" und Andrea Nahles' "quälende Lautstärke" haben sich schließlich nur wenige Berliner Journalisten nicht gründlich beschwert.

Enkelfirmen und Streamingdienste

"Der gebührenfinanzierte Rundfunk Berlin-Brandenburg ('RBB') steht im Zentrum einer Korruptions-Affäre!", berichtete die Regionalausgabe der Bild-Zeitung am Freitag. Das war gestern im Korb Thema. Es ging um Dienstwagen und Restaurantrechnungen anhand von Landesrechnungshof-Kritik an der Fernsehproduktions-Firma Dokfilm. Die ist nach eigenen Angaben "ein Tochterunternehmen der rbb-media und der Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft mbH", und damit eine (Ur-)Enkelfirma des RBB und des NDR (dessen Tochter Studio Hamburg nämlich die "Traumschiff"-bekannte Polyphon gehört). Diese Dokfilm stellt wiederum nach ihren Angaben "hochwertige Fernsehunterhaltung" her, zu der freilich auch eher breitwertiges Einerlei à la "Zwei Pandababys in Berlin" und "Trauminseln - Mit dem Rad auf ... Island", "... Irland" usw. gehört.

Der RBB hat den Begriff "Korruption" entschieden zurückgewiesen, und große Schlagzeilen machte die Sache auch nicht. Es dürfte sich um ein Vorgeplänkel künftiger Debatten handeln. Schließlich steht die Bezifferung der Rundfunkbeitrags-Erhöhung weiterhin bevor, und die privatwirtschaftlichen Tochterfirmen bilden eine angreifbare Flanke der Öffentlich-Rechtlichen. "Personelle Konsequenzen" allerdings, die der gestern im Korb verlinkte Tagesspiegel-Artikel schon andeutete, wurden sehr schnell gezogen.

Der Nachfolger bei der öffentlich-rechtlich-oiden Filmfirma "kommt überraschend von RTL", wusste dwdl.de bereits am Freitag. Es handelt sich um den seit erst einem Jahr amtierenden Chef von tvnow.de – also der Streaming-Plattform, mit der RTL im ziemlich lebenswichtigen Wettbewerb mit Netflix, Amazon & Co bestehen möchte (und die gerade dieser Tage in durch große Sibel-Kekilli-Interviews zur finnisch-deutschen Serie "Bullets" Medienmedien-Aufmerksamkeit bekommt; gestern stand eines auf der SZ-, heute das nächste auf der FAZ-Medienseite). RTL hat auch schon ein Nachfolger-Duo und zugleich die nächste "Neuaufstellung" bestellt:

"Ziel der Neuaufstellung sei es, TVNow mit 'noch mehr Originals und Exklusiv-Premieren in Kombination mit dem breit gefächerten Portfolio aus neun Free-TV-Sendern der Mediengruppe RTL zum vollumfänglichen Streamingdienst auszubauen'. Dazu wolle man die Verzahnung von Broadcasting und Streaming inhaltlich und organisatorisch forcieren, heißt es aus Köln."

berichtet Timo Niemeier bei dwdl.de.

"Zukunftstechnologie" und Berlusconi-Angst

Noch mehr, ähm, "Originals" im  Wettbewerb mit noch mehr  Wettbewerbern also. Schließlich ist "diese Woche ... mit Joyn Plus+ ein weiteres kostenpflichtiges deutsches Streamingportal auf den Markt getreten", wie der Tagesspiegel meldet – und zum Anlass für den nächsten Überblick über inzwischen acht hierzulande erhältliche Streamingdienste nimmt. (Und selbst wenn Sie die alle kennen: weiter unten, wo es dann etwa um filmfriend.de geht, "das von Bibliothekskunden ohne zusätzliche Kosten genutzt werden kann", wird der Überblick doch interessant).

Ein Selbstläufer wird das neue Joyn Plus+ eher nicht. Schließlich dürfte es dort auch mittelfristig keine Disney-Produktionen und nix von Netflix geben. Andererseits zählt zum Geschäftsmodell des ProSiebenSat.1-Portals joyn.de vor allem was anderes.

"Für uns ist wichtig, dass das frei empfangbare Fernsehen in die digitale Welt übersetzt wird und dort so viele Menschen wie möglich erreicht. Über 50 Sender live bei Joyn auf Knopfdruck, ohne Barrieren und ohne dafür zahlen zu müssen – das ist  einzigartig. Andere wollen noch mehr und sind bereit, für spezielle Inhalte zu  zahlen. Langfristig rechnen wir damit, dass der Großteil der Nutzer Joyn frei nutzen wird"

formulierte es P7S1-Chef Max Conze im gestern im SZ-Wirtschaftsressort erschienenen Interview (€). Diese "über 50 Sender live" laufen auf joyn.de/live-tv (und der Sender, der ohne weiteren Knopfdruck als erstes live läuft, wenn man dorthin klickt, ist "Das Erste" der ARD, die beim Streamen ja mit P7S1 kooperiert). Conze spricht von einer "Zukunftstechnologie", für die er viel Lob erhalten haben will und die er "in Europa breiter ausrollen" möchte. Das klingt bemerkenswert optimistisch. Andererseits war der Haupt-Anlass des Interviews der 15-prozentige Anteil, den die italienische Berlusconi-Firma Mediaset inzwischen an P7S1 hält. Und hauptsächlich argumentiert Conze vehement gegen eine Fusion seines Ladens mit dem der Berlusconis an, gesteht aber auch ein, dass es ihn "nicht überraschen" würde, wenn die Italiener noch mehr Aktien kaufen würden.

Es ist also viel in alle Richtungen in Bewegung, es wird in unterschiedlichen Konstellationen viel kooperiert und viel konkurriert. Die noch großen deutschen Privatsender-Gruppen kooperieren zwar nicht beim Streamen, aber an anderen Ecken. Die zwölf Thesen zur "Zukunft des dualen Mediensystems", die sie kürzlich gemeinsam in die kommenden Debatten warfen, waren hier schon Thema, zuletzt in diesem Korb wegen der per Twitter-Thread veröffentlichten zwölf Gegenthesen des ZDF-Fernsehratsmitglieds Leonhard Dobuschs. Und die gibt's nun auch auf netzpolitik.org. Schließlich können Threads eine ziemlich flüchtige, heißt es Mediengattung? sein.

Die insgesamt 24 Thesen umreißen prägnant, worüber diskutiert werden kann und sollte. Dobuschs Thesen enden leicht scherzhaft:

"'[D]ass nach den Plänen der Bundesregierung ab 2025 ein flächendeckendes Gigabit-Netz' geben wird, glaube ich erst, wenn ich am 1.1.2025 nach der Landung am BER in der 'Supermediathek' den neusten Tatort in 8K unterbrechungsfrei streamen kann."

Wofür ja tatsächlich ganz gut wäre, wenn in den Parteien, die künftig die Bundesregierung bilden, halbwegs durchsetzungsfähige Digital- und Infrastruktur-Politiker was zu melden hätten.


Altpapierkorb (Reporterpreise, Rechtepakete für Fernseh-Fußball, "Forum Shopping", "Das Serienquartett", "geile Zeit" bei den Landesmedienanstalten ...)

+++ Wer hat denn nun die ersten der renommierten Reporterpreise der Post-Relotius-Ära (Altpapier gestern) bekommen? Siehe reporter-forum.de. +++ Der gestern empfohlene Harald-Staun-Text aus der FAS steht inzwischen frei online.

+++ "An diesem Dienstag endet die Frist für die Ausschreibung der deutschen Fernsehrechte an der Champions League", berichtet Caspar Busse auf der SZ-Medienseite und stellte die noch mehr ersteigerbaren "Rechtepakete" sowie die ebenfalls mehr gewordenen potenziellen Interessenten vor.

+++ Was im deutschen Recht der fliegende Gerichtsstand ist auf Englisch "Forum Shopping". Da sei die "Verleumdungshauptstadt" London bei Klägern gegen Journalisten beliebt. Dort steht nun, verklagt von einem "aserbaidschanischen Geschäftsmann und Abgeordneten", ein rumänisches Mitglied des Investigativjournalisten-Projekts OCCRP ("Organized Crime and Corruption Reporting Projects") wegen Artikeln, die es gar nicht geschrieben hat, vor Gericht. Das berichtet ebenfalls die SZ.

+++ Die FAZ-Medienseite wirft (neben dem großen Kekilli-Interview) einen Blick auf Frankreichs Fußball-Fernsehrechte-Lage: Während wichtige Champions League-Spiele von PSG Paris "inzwischen weniger als eine Million Zuschauer" hätten, werde "Mediapro, ein spanisches Unternehmen mit chinesischem Mehrheitsaktionär" ab 2020 "die Landesmeisterschaft übertragen und dafür der Liga pro Jahr 780 Millionen Euro überweisen".

+++ Die Regelung, dass Chinesen "Mobilfunkverträge nur noch gegen Gesichtsscan" bekommen, ist Thema u.a. bei heise.de.

+++ "Damit werden Publikumsverlage ein Stück weit zu Agenturen mit angeschlossenen Medien, unter deren Marken nicht nur Magazine und Websites erscheinen, sondern etwa auch Events stattfinden, deren Inhalte und Umsätze ebenfalls die Chefredaktionen verantworten", charakterisiert Roland Pimpl bei horizont.net einen neuen Trend zu Doppelspitzen in der Presseverlags-Branche. Jüngstes Beispiel sei die deutsche Condé Nast-Division, "am konsequentesten, offensichtlichsten und unbekümmertsten" gehe die Bauer Media Group voran.

+++ Der Name des ARD-Fernsehsenders One fällt gerne dann, wenn es um lineare Sender geht, die nicht unbedingt gebraucht würden. Für seine Sendung "Seriös - Das Serienquartett", in der es darum geht, "im Fernsehen über Serien zu reden", hat Diemut Roether Verbesserungsvorschläge (epd medien).

+++ Der Sender Phoenix kann sich auch nicht über zu viel Medien-Aufmerksamkeit beklagen. Auf heise.de Telepolis gibt's mal welche, allerdings sehr kritische von Rüdiger Suchsland für die Berichte vom AfD-Parteitag.

+++ "Wenn es darum geht, die großen Player zu regulieren, Google, Amazon und Facebook, dann möchte ich nicht, dass die in Zukunft nur noch einen Player lobbyieren müssen. Ich möchte, dass sie weiterhin 14 Player lobbyieren müssen, damit sie nicht so einfach ihre Unternehmensinteressen durchsetzen können", sagt Cornelia Holsten, die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt im großen epd medien-Interview (noch nicht frei online). Es trägt die Überschrift "Es war eine geile Zeit", womit Holsten die jetzt endenden zwei Jahre meint, in denen sie der Landesmedienanstalten-Direktorenkonferenz vorsaß. Hier gibt's eine (nüchternere) Zusammenfassung der eher härteren Holsten-Aussagen.

+++ Und "Zur Beschäftigungstherapie der Landesmedienanstalten ist ja nun alles gesagt, darüber ist nicht einmal mehr zu diskutieren" lautet einer der sehr vielen treffenden Lutz-Hachmeister-Sätze im inzwischen ja online verfügbaren, hier bereits empfohlenen, sehr großen Medienkorrespondenz-Interview.

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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