Das Altpapier am 22. November 2019 SUVs auf der Datenautobahn
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22. November 2019, 14:25 Uhr
Die NPD darf (erstmal) nicht gegen Journalisten demonstrieren. Google will Wahlwerbung einschränken – aber wer braucht die heute überhaupt noch? Der Internetkonzern hat außerdem ähnliche Eroberungs-Strategien wie Christoph Kolumbus. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.
Erst die gute Nachricht, oder erst die schlechten? Beginnen wir heute mal mit Ersterem: Die Polizei in Hannover hat den für Samstag angekündigten NPD-Aufmarsch gegen drei Journalisten verboten (ausführlicher Hintergrund im Altpapier).
“Gefahren für Dritte und auch für die Pressefreiheit seien nicht auszuschließen gewesen. Zuvor hatte das Landesinnenministerium mitgeteilt, dass ‚Erkenntnisse über Aktivitäten in sozialen Medien ein aggressives Bild der geplanten Versammlung zeichneten‘“,
heißt es beim NDR. Beim Tagesspiegel sieht Frank Jansen einen möglichen Grund für die Entscheidung auch in der Kommunikation der Anmelder. Die rechtsextreme Szene ist seit einem “Panorama“-Beitrag über den ehemaligen SS-Mann Karl M. besonders hasserfüllt gegen den freien Journalisten Julian Feldmann.
“Der Film wurde im November 2018 gesendet, doch die Szene schäumt noch immer. (…) Im Demo-Aufruf war erst von 'Gerechtigkeit‘ für M. die Rede. In einer weiteren Version geht es jedoch um 'Rache für Karl‘. Eine Steilvorlage für den Innenminister. 'Rache ist der unverhohlene Aufruf, sich an jemandem zu rächen, und das geht nun mal nur mit Gewalt und Bedrohung‘, sagte [Anm. Altpapier: SPD-Politiker Boris] Pistorius im Landtag. Die Rechtsextremen haben mit dem Aufruf zur Rache an einem Journalisten ein Argument für ein Verbot der Demo geliefert.“
Dass die Demo nicht stattfinden wird, ist damit aber noch nicht endgültig entschieden. Denn gegen solche Entscheidungen der Polizeidirektion können die Rechtsextremen natürlich vor Gericht ziehen – und tun das in der Regel auch.
Update: Beim Verwaltungsgericht hat die NPD mittlerweile eine Klage und einen Eilantrag gegen das Verbot eingereicht. Im Laufe des Tages soll die Entscheidung fallen, heißt es bei Zeit Online.
Wer braucht schon Werbung?
Google ist doch irgendwie auch einer von den Guten, oder? Als dein Freund und Helfer steht die Suchmaschine dir zur Seite, egal was du suchst und für die Demokratie übernimmt der Konzern jetzt auch noch Verantwortung. Tolle Sache, aufrechte Demokraten da in Mountain View, Kalifornien! Solche Gedanken wären dem Konzern sicherlich ganz lieb, nachdem er nun angekündigt hat, die Platzierung von Wahlwerbung einzuschränken.
Google geht damit in eine ähnliche Richtung wie Twitter, das kürzlich angekündigt hatte, politische Werbung komplett abschaffen zu wollen (Link zum Altpapier). Ab heute soll die Regelung gelten. Konkretere Richtlinien wurden Mitte November veröffentlicht. Vor einigen Tagen hieß es noch bei CNBC:
“Meanwhile,Google has stayed largely silent in the skirmish, but both Google and Facebook have reportedly been mulling changes amid pressure.“
Jetzt also kündigte Google im hauseigenen Blog an:
“we’re limiting election ads audience targeting to the following general categories: age, gender, and general location (postal code level). Political advertisers can, of course, continue to do contextual targeting, such as serving ads to people reading or watching a story about, say, the economy.“
Außerdem sollen falsche Angaben bei jeder Art von Werbung künftig gegen Googles Richtlinien verstoßen – egal ob es um Politik oder den Preis eines Stuhles geht. Darunter fallen auch manipulierte Medien und Deep Fakes, z.B. in Videos (auf Deutsch nachzulesen z.B. bei Spiegel Online). Die Änderungen sollen zuerst in Großbritannien umgesetzt werden, wo ja am 12. Dezember Neuwahlen anstehen.
Stets bemüht, würde vielleicht in einem Zeugnis für Twitter und Google stehen (wobei man über das “stets“ streiten kann). Ob solche Maßnahmen wirklich weitgehend wirksam sind, um die Verbreitung von Falschinformationen und Manipulation politischer Entscheidungsfindung zu verhindern, darf bezweifelt werden. Wer braucht schon Werbung, wenn er seine politischen Inhalte auch anders pushen kann? Durch Bots oder Troll-Fabriken zum Beispiel…
“These posts draw far more views than ads on sites like Google and Twitter. Restricting targeted ads, campaigns and experts say, eliminates a crucial tool candidates use to reach voters, but retains a system that hackers and trolls have proved adept at exploiting and that social media sites struggle to adequately police“,
schreiben Nick Corasaniti and Matthew Rosenberg bei der New York Times. Facebook verweigert sich bisher solchen Einschränkungen und kündigte vor Kurzem stattdessen an, politische Werbung gar nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Faustischer Pakt
All diese Ankündigungen zu politischer Werbung sind aber im Grunde eher wie Botox: kosmetische Eingriffe, die Oberfläche ein bisschen gefälliger erscheinen lassen. Die tiefere Struktur des Plattform-Mechanismen dürften die Änderungen erstmal wohl kaum erreichen. Denn dort liegen ganz andere Probleme.
Amnesty International kritisiert Google und Facebook in dem Bericht “Surveillance Giants" für eine “systematische umfassende dauerhafte Ausbeutung der Daten von Millionen Menschen“. In dem Bericht ist von einem faustischen Pakt die Rede:
“Google and Facebook’s platforms come at a systemic cost. The companies’ surveillance-based business model forces people to make a Faustian bargain, whereby they are only able to enjoy their human rights online by submitting to a system predicated on human rights abuse. Firstly, an assault on the right to privacy on an unprecedented scale, and then a series of knock-on effects that pose a serious risk to a range of other rights, from freedom of expression and opinion, to freedom of thought and the right to non-discrimination.“
Durch die Dominanz beider Konzerne in Bereichen wie Suche, Video, Browser, Werbung, Messenger und soziale Medien (detaillierter zugeordnet auf S. 11 – 12 des Berichts) sei die Nutzung nicht mehr nur eine Option, sondern eine Voraussetzung, um am modernen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dabei verletzten Google und Facebook drei eng miteinander verbundene Konzepte von Privatsphäre, fasst Markus Reuter bei Netzpolitik.org zusammen:
“Einerseits die Freiheit, dass niemand in unser Privatleben eindringt, zweitens das Recht, Informationen über uns selbst zu kontrollieren und drittens das Recht auf einen Raum, in dem wir unsere Identitäten frei ausdrücken können.“
Facebook weist die Vorwürfe erwartungsgemäß zurück (hier bei Heise).
Kurzer Exkurs: Das war natürlich nicht immer so. Die bei Suchanfragen entstehenden Informationen von Nutzer:innen hätten bei Google zunächst als “Datenabgase“ gegolten, schreibt Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff in ihrem Buch “Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (ab S. 96).
Erst mit dem Platzen der Dotcom-Blase vor knapp 20 Jahren, als den noch jungen Netzunternehmen die Investoren absprangen, mussten Ideen für neue Erlösmodelle her. Bei Google wurde z.B. das AdWords-Team gegründet, das Daten zum Nutzerverhalten an die Werbebranche zu verkaufen begann. Durch die Analyse dieser Daten wurden Vorhersagen über das Verhalten von Nutzer:innen mit der Zeit zu einem lukrativen Produkt für Google.
Zuboff vergleicht den Umgang mit Daten mit den Eroberungsmustern von Chistoph Kolumbus im 15. Jahrhundert. Wie Kolumbus territoriale Ansprüche auf das vermeintlich “neue“ Land auf dem amerikanischen Kontinent erhob, habe Google eben Anspruch auf menschliche Erfahrungen deklariert, und auf das Recht, diesen Rohstoff in Verhaltensdaten umzuwandeln. Auch das Wissen, das diese Daten enthüllen können und das Recht, über die Verwendung dieses Wissens zu entscheiden, beanspruche Google für sich (S. 207 - 211).
Na gut, das alles ist eigentlich seit Jahren bekannt und man kann auch nicht sagen, dass das Thema zu wenig diskutiert würde. Aber trotzdem fahren die meisten von uns weiterhin mit dem Datenausstoß eines SUVs durchs Internet. Dass sich das Problem auf der individuellen Ebene lösen lässt, kann also bezweifelt werden. Und auch mit der Regulierung einzelner Unternehmen ist es ist wohl nicht getan. Vielleicht bräuchte es eine Art internationale Erklärung der Datenrechte, um ganz grundsätzliche Ansprüche erst einmal festzulegen.
Altpapierkorb (Redaktionsstatut für Berliner Zeitung, EU-Urheberrecht, “Der lange Atem“, Bild TV)
+++ Die Berliner Zeitung will Redaktionsbeirat gründen und ein Redaktionsstatut einführen. Nach einem Bericht von Meedia ist der Schritt eine Reaktion auf den wohlwollenden Bericht über die Medizinfirma Centogene, an der Neu-Verleger Holger Friedrich Anteile besitzt. Die Berichterstattung soll er selbst angestoßen haben. Einen Transparenzhinweis gab es nicht (siehe Altpapier). Die Berichte über Hinweise auf eine Zusammenarbeit Friedrichs mit der Stasi dürften auch eine Rolle für die Entscheidung sein, konkrete Grundlinien für die Arbeit zwischen Redaktion und Verlag aufzustellen.
+++ Der Journalist:innenpreis “Langer Atem“ geht u.a. an Dinah Riese, berichtet der Tagesspiegel (epd). Die taz-Journalistin wurde gestern Abend für ihre “hartnäckige Berichterstattung“ zu Schwangerschaftsabbrüchen und §219a ausgezeichnet. Weitere Preisträger sind Hans Koberstein von “Frontal21“ und das taz-Team Sebastian Erb, Martin Kaul, Alexander Nabert, Christina Schmidt und Daniel Schulz.
+++ Streit ums EU-Urheberrecht: Französische Verlagshäuser haben, wie angekündigt, bei der nationalen Wettbewerbsbehörde Beschwerde gegen Google eingereicht. “Die französischen Verleger argumentieren, dass der Internet-Gigant in einer 'Quasi-Monopolposition‘ seine beherrschende Marktstellung ausnutze“, heißt es bei Horizont (dpa).
+++ Wie das TV-Angebot der Bild aussehen könnte, wer mitmischt und wann der Start zu erwarten ist, umreißt Kai-Hinrich Renner in seiner “Medienmacher“-Kolumne bei Funke (Berliner Morgenpost, €).
+++ Wie peinlich, rührend und gestrig die Bambi-Verleihung war, lässt sich u.a. bei SpOn (Anja Rützel) und der Süddeutschen (Hans Hoff) nachlesen.
+++ Carsten Schmidt hört zum Jahresende bei Sky als CEO auf. “Als 'Senior Advisor‘ soll er dem Unternehmen laut Senderangaben weiterhin erhalten bleiben. Seine Nachfolge tritt ab 1. Januar der US-Amerikaner Devesh Raj an“, berichtet die Süddeutsche.
+++ Das Sandmännchen hat heute Geburtstag, es wird 60 Jahre alt. Wer in Kindheitserinnerungen schwelgen und Ost-West-Rivalitäten Revue passieren lassen möchte, kann das z.B. bei der FR oder dem Hamburger Abendblatt tun.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag, schönes Wochenende!
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