Das Altpapier am 5. September 2019 Volkssport Talkshow-Schelte
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05. September 2019, 12:39 Uhr
Zwei neue Bücher gehen hart mit Talksendungen ins Gericht, doch es gibt Kritik an der Kritik. Außerdem: Die "Zeit" sucht Streit, um die Debattenkultur in Deutschland zu retten. Ein Altpapier von Kathrin Hollmer.
Kurz nach Ende der Sommerpause ist wieder Talkshow-Schelten-Hochsaison, dieses Mal unterstützt von zwei Büchern, die das Prinzip Talkshow, zumindest in der jetzigen Form, in Frage stellen.
Eine kurze Zusammenfassung:
- Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit schlägt in "Schluss mit der Geduld" unter anderem vor, keine Politiker mehr in Talkshows einzuladen. Stattdessen sollten dort lieber Intellektuelle diskutieren. Lesenswert dazu das Interview im Spiegel (€) mit ihm.
- Der Student Oliver Weber verspricht in "Talkshows hassen" "ein letztes Krisengespräch". Seine Meinung: "Die Talkshowmaster behaupten, sowohl zu informieren als auch zu unterhalten, drehen sich jedoch in einer endlosen Dauerschleife um die gleichen Protagonisten und Thematiken."
Beide Autoren thematisieren auch den Anteil von Talkshows am Erfolg der AfD (siehe auch Altpapier zur für die AfD "schön komfortablen" ARD-Wahlberichterstattung) und die kaputte Debattenkultur in Deutschland – derzeit zwei beliebte Meinungen. An der es in dieser Woche aber auch Kritik gibt.
Wie gefährlich ist die Talkshow?, fragten zum Beispiel Christian Meier und Stefan Winterbauer bereits am Wochenende in ihrem Medien-Podcast auf Welt Online und meinten vor allem Philipp Ruchs Vergleich von Talkshows mit Goebbels' Hetzblatt "Der Angriff", der sich damit vor allem auf die reißerischen Titel der Sendungen ("Angst vor Flüchtlingen: Ablehnen, ausgrenzen, abschieben?") bezog. Das Thema wird nur gestreift (so gefährlich sind die Talks also doch nicht), ansonsten geht es um den Volkssport Talkshow-Schelte ("so alt wie Talkshows selbst"), den "Gaga-Vorschlag", wie sie sagen, von Olaf Zimmermann: Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats schlug im vergangenen Jahr vor, dass Talkshows ein Jahr lang pausieren sollten, und zuletzt, dass "hart aber fair" eingestellt werden soll. Und um die angeblich fehlende Innovation in Talkshows, die Meier und Winterbauer schon finden, etwa in "Maischbergers Woche".
Ist die Talkshow am Ende?, fragte die Welt am Sonntag. Online ist daraus die provokantere Headline "Sind die Talkshows schuld am Aufstieg der AfD?" geworden. Dirk Schümer verteidigt darin das Format, allerdings mit einem vergifteten Kompliment. Sein Punkt: Talkshows können weder was für die AfD noch für die Streitkultur in Deutschland, denn:
"Kann es im Zeitalter von Bloggern und Influencern wirklich noch darum gehen, die kaputte Streitkultur dieses vom Schicksal gestraften Deutschlands an ein paar Plaudersendungen im öffentlich-rechtlichen Abendprogramm festzumachen?"
(...)
"Umso putziger der modische Talkshowhass, der unterstellt, dass in diesen Sesseln tatsächlich noch die Zukunft der Republik geformt wird."
Eine Ehrenrettung gibt es auch noch, die Kollegen würden komplexe Themen aufbereiten, müssten "das, was die Menschen gerade interessiert, in einer möglichst niveauvollen Plauderstunde mit Politprofis" unterbekommen, "die das Talken wahrlich nicht immer im Blut haben". Auch wenn die Quoten (siehe z.B. DWDL) sinken
"Die rund zwei bis fast vier Millionen Menschen, die an einem späteren Abend schon den Wecker gestellt haben und trotzdem geduldig zuhören, muss man erst einmal hinter dem Couchtisch vorlocken",
schreibt Schümer.
Den Talkshows die Schuld zu geben, ob am AfD-Erfolg oder der angeblich schlechten Streitkultur, ist sicher zu einfach gedacht, und vielleicht sogar gefährlich. Wer über Talksendungen schimpft, beschäftigt sich nicht mit den Themen selbst.
Sascha Lobo schreibt dazu in seiner Spiegel-Online-Kolumne:
"Nach Überzeugung vieler Linker haben die Talkshows quasi im Alleingang die AfD in die Parlamente getalkt. Das ist die bequemste Deutung eines Rechtsrucks, die man sich überhaupt wünschen kann, weil da die Lösung quasi ins Problem eingebaut ist: Wenn in allen Talkshows nur Claudia Roth, Ferda Ataman und ich über den richtigen Wochentag für die vegane Kantinenpflicht diskutieren, dann wählen Rechte und Rechtsoffene plötzlich nicht mehr AfD. Natürlich müssen Talkshows wie die meisten anderen Medien dringend ihren Umgang mit Faschisten verändern. Weg von der Normalisierung, weg von der vermeintlichen Diskutierbarkeit von Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Aber die Fixierung auf die bösen Talkshows zeigt die linke Bereitschaft zu unterkomplexem Wunschdenken."
Bei der Kritik am Format vergisst man die eigentliche Herausforderung, wie Altpapier-Kollege Klaus Raab gestern nach Fernsehkritik zu Dunja Hayali bei Spiegel Online schrieb: "Der Umgang mit der AfD in Talkrunden bleibt kompliziert."
Streitlust in der "Zeit"
Die "Zeit" sieht ab heute anders aus (was alles neu ist, kann man sich von Giovanni di Lorenzo in diesem Video erklären lassen). Viel und mit dem omnipräsenten Helmut-Schmidt-Zitat "Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine" beworben wurde in den vergangenen Tagen das neue Streit-Ressort, in dem politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und medizinische Themen vorkommen sollen. Auf den ersten Blick ist das neue Ressort eine gute Mischung aus aktuellen, konfrontativen Lesestücken (Sachsens Ministerpräsident Kretschmer muss sich Bürgern stellen, die von der Politik enttäuscht sind) und pointierten Kurz-Beiträgen (Anja Reschke und Ulf Poschardt schreiben abwechselnd über ihre Twitter-Tiefpunkte der Woche), optisch ansprechend aufgemacht.
Das Ressort wurde, heißt es in einem Blogpost der Zeit, in Abstimmung mit der Community-Redaktion von Zeit Online entwickelt, in Zukunft sollen die Online-Leser Orientierung geben, über welche Themen sie gerne streiten.
Bei Meedia und Kress haben der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und die Streit-Ressortchefs Charlotte Parnack und Jochen Bittner ordentlich Werbung gemacht: für die neue "Zeit" und die Meinung, dass die Debattenkultur in Deutschland kaputt ist.
Dass zu den Kolumnisten im neuen Ressort der "New York Times"-Kolumnist Bret Stephens gehört, stimmt Peter Weissenburger in der taz "nicht gerade hoffnungsvoll bezüglich der Zeit-Streitkultur":
"Berühmt ist Stephens auf zweierlei Art. Einerseits dafür, dass er sich als Konservativer gegen US-Präsident Trump positioniert. Und zweitens, weil er sich in Sachen Klimawandel um eine provokante Position bemüht. So erkennt Stephens zwar den wissenschaftlich nachgewiesenen Klimawandel an – auch als menschgemachten –, bezieht aber trotzdem regelmäßig Stellung gegen die Klimabewegung. (...) Einige sehen darin eine industriefreundliche Strategie, um den Klimawandel zwar nicht zu leugnen, aber doch das Thema politisch wirksam herunterzuspielen. Andere vermuten, dass Stephens einfach die 'unbeliebte Meinung' als Nische für sich kultiviert – entsprechend der im US-Diskurs typischen ultraliberalen Vorstellung, dass jeder auch nur im Entferntesten vorstellbare Standpunkt von jemandem eingenommen und vertreten werden muss. Kürzlich äußerte sich Stephens dann noch zur aktuellen Streitkultur in den USA und rückte sie in die Nähe des Deutschlands der 1930er."
Weissenburger wirft auch die Frage auf, ob es wirklich so schlecht um unsere Streitkultur bestellt ist.
"Eine spannende Frage ist, ob es hier überhaupt etwas zu reparieren gibt. Das kann man aus Shitstorms und erhitztem Schlagabtausch auf Social Media natürlich schließen. Ob Menschen außerhalb ihrer Netz-Avatare und Autor*innen-Personae wirklich nicht mehr miteinander sprechen können, ist derweil ungeklärt."
Altpapierkorb (Diversität, Peter Lindbergh, Lokalzeitungen, RBBKultur):
+++ Bereits am Dienstag ging es in der taz über das Buch "Unbias the News. Warum Journalismus Vielfalt braucht" des JournalistInnennetzwerks hostwriter, in dem 31 JournalistInnen "von Ägypten über Madagaskar bis Tadschikistan" über Diversität im Journalismus schreiben, und auch unangenehme Fragen aufwerfen, wie Ebru Tasdemir zusammenfasst: "Wie ist es wohl, wenn du als Freiberuflerin gerade ein Baby bekommen hast und schon wieder arbeiten musst, weil du sonst keine Aufträge mehr bekommst? Weißt du, wie es sich anfühlt, als nichtbinäre Person zu leben und zu arbeiten? Weißt du, wie ein Journalist im Rollstuhl arbeitet?"
+++ Noch mehr Diversität: Zwei Jahre nach dem "Wann kommt der erste Frauenname?"-Impressums-Bingo schlägt Matthias Dell an der gleichen Stelle, nämlich in seiner Kolumne in Deutschlandfunk, ein "Wann kommt die erste Ostdeutsche?"-Impressums-Bingo vor.
+++ Zum Tod von Peter Lindbergh gibt es einen lesenswerten Nachruf im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Zuletzt hat der weltberühmte Modefotograf aus Duisburg unter anderem Greta Thunberg für das Cover der britischen Vogue fotografiert. Jan Kedves‘ letzter Satz in dem Artikel sagt eigentlich alles darüber, was Lindberghs Werk ausmacht: "Weil Frauen bei ihm die Mode tragen, und nicht andersherum."
+++ Am Samstag ist die letzte Ausgabe des Lokalblatts "Vindicator" erschienen, Youngstown ist nun die größte Stadt der USA ohne Lokalzeitung. Für die SZ-Medienseite hat Gianna Niewel der Redaktion einen Abschiedsbesuch abgestattet und erklärt, wie es mit der Zeitung zu Ende ging, und was das Ende bedeutet: "Wenn ein Ort seine Zeitung verliert, verändert sich die Perspektive auf ihn. Was denken Studentinnen und Studenten, die überlegen, ob sie nach dem Abschluss bleiben sollen? Was denken Unternehmen, die nach Youngstown ziehen wollen?" +++ Apropos Lokalberichterstattung: Christoph Sterz berichtet im Deutschlandfunk über Paywalls bei Regional- und Lokalzeitungen – die auch deswegen funktionieren, weil es oft keine Alternative zu ihnen gibt.
+++ Israels Premierminister Benjamin Netanjahu wirft einem israelischen Fernsehsender vor, er würde einen "Terroranschlag gegen die Demokratie" verüben – wegen der Berichterstattung über Korruptionsvorwürfe gegen ihn – und ruft zum Boykott auf, berichtet Alexandra Föderl-Schmid auf der SZ-Medienseite und hat Reaktionen von Medien vor Ort gesammelt.
+++ "Ich habe schätzungsweise 22.000 Telefoninterviews geführt. Jetzt freue ich mich sehr, endlich meine Gesprächspartner auch sehen zu können", sagt Jürgen Domian in der taz. Wilfried Urbe hat mit ihm über seinen neuen Live-Talk im WDR gesprochen.
+++ Bei Spiegel Online gibt’s ein Plädoyer in fünf Akten für das Trash-TV-Format "Sommerhaus der Stars" von Anja Rützel.
+++ Am Mittwoch ging es in der Sitzung des RBB-Rundfunkrats um den Umbau von RBBKultur (siehe Altpapier), berichtet Kurt Sagatz im Tagesspiegel.
+++ Weekly Medienstaatsvertrags-Update: Bei Medienpolitik.de schreibt Hans Demmel, Vorstandsvorsitzender von VAUNET, dem Verband Privater Medien, warum VAUNET den aktuellen Entwurf begrüßt und was nach Meinung des Verbands noch fehlt.
Neues Altpapier gibt’s am Freitag!
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