Das Altpapier am 4. September 2019 Kacheln und Mikrofonständer

04. September 2019, 14:20 Uhr

Das Redaktionsnetzwerk Deutschland bringt sein Nachrichtenportal an den Start und hat RTL-Fans im Visier. Und Neues von der Gretchenfrage des Politikjournalismus: "Sag’, wie hältst du’s mit Fragen an die AfD?". Ein Altpapier von Klaus Raab.

Um 17 Uhr am Dienstag ging mit ein wenig Verspätung nun Madsacks Nachrichtenportal RND.de online. RND steht bekanntlich für Redaktionsnetzwerk Deutschland. Und dieses Netzwerk ist nicht ganz irrelevant im deutschen Journalismus – beziehen dessen überregionale Inhalte doch "mehr als 50 Tageszeitungen" (beziehungsweise "mehr als 40 Tageszeitungen") mit einer laut Verlag täglichen Gesamtauflage "von mehr als 2,3 Mio. Exemplaren und einer Reichweite von mehr als 6,8 Millionen Lesern".

Das ist Größenordnung "Tatort" und damit für die – für sich genommen – jeweils nicht megamächtigen Madsack-Zeitungen der beste Weg, auch mal die Kanzlerin zum Interview zu kriegen. Es ist sicher gut für die Marke, dass es nun eine zentrale Stelle gibt, an der man Texte dieses für Laien schwer verortbaren "Redaktions-Netzwerks Deutschland" finden kann, das in Agenturen nicht selten als Quelle auftaucht.

Wie aber ist RND.de so?

Die ersten und bislang einzigen Texte über das neue Portal kommen von Mediendiensten: "Die Seite kommt in Kacheloptik und ohne klassische Ressorts. Stattdessen verweist die Seite am Kopf auf fünf wechselnde, aktuelle Themen", schreibt etwa turi2. Und Meedia:"Über die Funktion 'Mein 'RND'' kann sich der Nutzer einen eigenen Newsfeed nach Themenfeldern und Autoren zusammenstellen".

Wo sind Joko und Klaas?

Uns vom Altpapier interessieren aber natürlich auch RND.de's Themenseite "Fernsehen" und die Inhalte der "Mediabox" und der "Medien". Man will ja wissen, ob man künftig bei der morgendlichen Presseschau noch eine weitere Quelle gescannt haben muss. Und? Sagen wir so: Nach nur einem Tag sollte man es vielleicht noch nicht kategorisch ausschließen.

Neben weichen Nachrichten rund um die harten Nachrichten ("Marietta Slomka hat ‚Ja‘ gesagt", und zwar auf einer Wasserburg in Ostwestfalen) gibt es im Fernsehbereich eine Fünf-Tages-Vorschau auf "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" ("Bilder und Vorschautexte: RTL"), eine Vorschau auf die fünf nächsten Folgen von "Alles, was zählt" ("Vorschau-Texte von RTL"), nicht nur einen Text über die Jubiläumssendung der RTL-Quizshow "Wer wird Millionär?" (Text: RND) sowie Einlassungen zum aufwühlenden Geschehen rund um das RTL-Dschungelcamp und zum Geschäftsmodell aka Humor des auch bei RTL tätigen Comedians Mario Barth. In "Medien" und der "Mediabox" gibt es "Das Sommerhaus der Stars" (RTL), "Die Höhle des Löwen" (Vox), ein Interview mit Günther Jauch über seine RTL-Show und Dinge über "Shopping Queen" (Vox). Der Eindruck einer leichten RTL-Gruppen-Lastigkeit drängt sich alles in allem gaaanz leise auf. Was ist da los? Dafür scheint RND.de erstmal nicht die allererste Anlaufstelle für die Fans der ProSieben-Maskottchen Joko und Klaas werden zu wollen.

RND.de aber gleich eine RTL-Obsession zu unterstellen, wäre freilich völlig falsch. Zu erfahren ist schließlich zudem das Wichtigste aus dem Reich der ARD, etwa "was in den kommenden Folgen von 'Sturm der Liebe' passieren wird. (Bilder und Vorschautexte: ARD)". "Tatort" war auch irgendwo in einer Headline zu lesen. Und eine gepfefferte Kritik der Wahlberichterstattung des MDR, die am Montag und Dienstag an dieser Stelle schon Thema war, gibt es auch noch – samt Auflistung weiterer öffentlich-rechtlicher Vergehen und Vergehensvermutungen im Umgang mit der AfD.

Mikrofonständer-Journalismus

Es ist auch heute noch nicht ganz vorüber mit der Wahlberichterstattungs-Nachlese und der Gretchenfrage des Politikjournalismus – "Sag', wie hältst du’s mit Fragen an die AfD?".

Am Dienstagabend etwa teilte der ehemalige Pirat Christopher Lauer noch ein Interview mit dem AfD-Rechtsextremisten Andreas Kalbitz, das im Vorfeld der Wahl für die ZDF-"Drehscheibe" entstanden war. Wie ihm hier die Bälle auf den Elfmeterpunkt gelegt wurden, ist atemberaubend: "Sie haben mal in die rechte Szene reingeschaut, gehören jetzt dem rechten Flügel der AfD an. Wie würden Sie selbst Ihre Gesinnung bezeichnen, Ihre politische?" – "Sie sind gegen Masseneinwanderung und Genderwahn, aber für Heimat und Familie. Was für konkrete Politik lässt sich in diesen Bereichen davon ableiten?" Keine Nachfragen, nichts. Kalbitz kriegt einfach nur Stichworte, obendrein in seiner eigenen Wortwahl, die auf die Art als übliche Sprechpraxis beglaubigt wird – fertig. Als hätte er seine eigenen Social-Media-Kacheln als Fragekärtchen mit zum Interview gebracht. Ein Musterbeispiel für einen Journalismus, der nichts wissen, sondern nur Mikros geradeaus halten will. Für einen nur vermeintlich objektiven Journalismus, der "informiert, aber nicht polarisiert", wie es Nathalie Wappler vom Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) vor einem Jahr einmal gefordert hat – nachdem die SVP es immer wieder kritisiert hatte. Es ist ein Journalismus, den sich manche Schwesterpartei der AfD wünscht. Man sollte vielleicht doch mehr Mittagsfernsehen schauen.

Sind’s die Fragen oder Formate?

Gleichwohl kann ich nicht jede kursierende Kritik an der Wahlberichterstattung teilen, jedenfalls nicht uneingeschränkt.

Mely Kiyak hat bei Zeit Online am Dienstag ihre Kolumne dem Fernsehsonntagabend gewidmet, und auch sie findet, dass die Öffentlich-Rechtlichen – bei ihr geht es nicht um die ARD, sondern um das ZDF – es falsch angepackt hätten. Sie widmet sich etwa zwei Passagen mit Bettina Schausten. Die habe etwa nicht angemessen auf AfD-Mann Jörg Meuthens Behauptung reagiert, das Wahlergebnis sei jetzt ein "Stück weit eine Zeitenwende": "Schausten hätte nachfragen können, worin die Zeitenwende besteht. Was genau sie beinhalten wird", schreibt Kiyak.

Hm, ja. Das hätte Schausten zwar schon machen können, vielleicht auch sollen, aber was hätte Meuthen denn dann wohl gesagt: "Hui, jetzt hamse mich. Okay, puh, also dann sag’ ich’s jetzt eben: Wir wollen eine faschistische Diktatur errichten"? Hätte er natürlich nicht.

Was hier eigentlich von Wahl-Livesendungs-Moderatorinnen gefordert wird, ist eine bessere Instant-Analyse einer sich im Minutentakt verändernden Gesprächssituation. Was gefordert wird, ist Fernsehen, das erst ins Archiv steigt oder sich zumindest sammeln kann, bevor es huschi-huschi zum nächsten Gesprächspartner hoppelt. Die Frage wäre: Wie macht man das live?

Journalisten improvisieren in solchen Sendungen, weil sie es müssen. Das wird immer wieder schiefgehen. Dass Bettina Schausten bei Meuthens Behauptung einer "Zeitenwende" etwa nicht spontan Bernd Höckes bekanntes Wort von der "Wendezeit" einfiel – daraus lässt sich nicht ableiten, dass sie es nicht kennt oder "Galaxien hinter dem bisherigen Kenntnisstand" über die AfD zurück bliebe, wie ihr vorgeworfen wird. Sondern nur, dass sie den Transfer von Höckes "Wendezeit" zur im politischen Statementtheater allgemein recht häufig genutzten und auch als leer interpretierbare Post-Wahl-Phrase von der "Zeitenwende" nicht innerhalb von drei Sekunden zu leisten vermochte.

Ich glaube, dass Altpapier-Kollege Christian Bartels einen Punkt hatte, als er gestern hier schrieb: "(U)ngeheuer zielführend ist Kritik an Moderationsleistungen, die im (durch die steigende Zahl an Parteien verschärften) Gewusel flott durch die verkrusteten Info-Häppchen leiten sollen, nicht. Neue Formate und Formen der Wahl-Liveberichterstattung sind zwar leicht gefordert, wären aber nötig."

Altpapierkorb ("Stunden der Entscheidung", Bakery Jatta, RBB-Einsparungen)

+++ Viel Fernsehen auch in den Zeitungen: Im ZDF läuft heute das Dokudrama "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge" über den 4. September 2015, an dem die Kanzlerin die Grenzen nicht schloss (Altpapierkorb vom 26. August). Wie beinahe zu erwarten bei diesem Thema gehen die Meinungen auseinander. Stefan Braun hat in der Süddeutschen Zeitung ein größeres Problem mit der Umsetzung des Stoffs als Dokudrama: "In so einer Konstruktion vermischen sich Fakten und authentische Bilder mit Interpretationen und künstlerischen Zuspitzungen. Das lässt sich bei Ereignissen, die lange vorbei sind, vielleicht machen. In diesem Fall hätte es das ZDF lassen sollen. In den fast 90 Minuten finden sich Szenen und Sätze, von denen nur die Beteiligten sagen können, ob sie wirklich so passiert sind. Gleichwohl haben manche Sätze das Zeug dazu, die bis heute angespannte Debatte neu anzuheizen."

+++ "Stunden der Entscheidung" II: Arno Frank erkennt bei Spiegel Online an, der Film bemühe "sich mit Akribie und Mut zur Verdichtung, die Geschehnisse in eine Dramaturgie zu fassen, die der Realität durchaus nahekommen dürfte". Auch er findet aber zumindest eine "Entscheidung, die der behaupteten Authentizität zuwiderläuft", schwierig: Eine tragende Figur im Film spreche, anders als das reale Vorbild, ungebrochenes Deutsch. "Möglich, dass die Macher dem ZDF-Publikum einfach nur kein untertiteltes Arabisch zumuten wollten. Möglich aber auch, dass damit eine Nähe erzeugt und die genuine Fremdheit des Fremden – immerhin ein Politikum bis heute – zumindest auf sprachlicher Ebene gelindert werden sollte. Schon klar, es sind alles Menschen. Wären sie das nicht, sprächen sie Arabisch? Wieso wird dann, sind die Flüchtlinge im Bild, die hochdramatische Musik um Arabesken ergänzt? Man erkennt die gute Absicht und ist doch verstimmt über diesen Taschenspielertrick."

+++ "Stunden der Entscheidung" III: Frank Lübberding hat für die FAZ (Blendle, 0,45 Euro) einen "Einblick in das Arkanum der Macht" gesehen, das "ohne strategisches Handeln" auskomme. Er hätte sich eher noch mehr Rekonstruktionen gewünscht, etwa "eine szenische Rekonstruktion aus Viktor Orbáns Amtssitz (…). Seine Reaktion, als ihm bewusst wurde, wer am längeren Hebel saß: Merkel und Faymann mussten entweder in Zukunft seine Politik der Abschottung unterstützen, oder die Flüchtlinge selber aufnehmen."

+++ Der Fall des Fußballers Bakery Jatta (Altpapier vom 15. August) sieht abgeschlossen aus, nachdem das Bezirksamt Hamburg Mitte am Montag erklärt hat, es gebe keine "belastbaren Anhaltspunkte", dass der Profi des HSV, der als Flüchtling 2015 nach Deutschland kam, eine falsche Identität angenommen habe", wie die SportBild nahegelegt hatte. Für die Vereine, die Einspruch gegen sportlich völlig zurecht verlorene Spiele eingelegt hatten, ist der Fall damit erledigt. Nur Bild gibt nicht so einfach auf. Was die taz ihr ankreidet.

+++ Der Berliner Tagesspiegel kümmert sich von allen Rundfunkanstalten aus naheliegenden Gründen am liebsten um den RBB. Heute geht es im Interview mit Intendantin Patricia Schlesinger um die Frage, wo genau im Kulturbereich gespart werden soll. Mittendrin im Interview steht eine dieser hirnlosen Opinary-Liveabstimmungen, hier, passend zum Thema: "Soll der Rundfunkbeitrag abgeschafft werden?" 74 Prozent der Teilnehmenden bejahten die Frage, Stand Nacht zum Mittwoch. Da hat das Umfragetool doch mal eine echte Antwort parat: RBB Kultur sollte gar nicht sparen. Sondern eingestampft werden… Diese Umfragen, ey.

Frisches Altpapier kommt am Donnerstag.

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