Das Altpapier am 2. September 2019 Durch die Decke
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03. September 2019, 10:02 Uhr
War die ARD-Wahlberichterstattung "schön komfortabel für die AfD", wie Zeit Online schreibt? Und wenn ja: Liegt es an "Fehlern", die im Live-Stress passieren, oder ist sie Ausdruck eines "latenten Opportunismus" (Georg Diez)? Ein Altpapier von René Martens.
Robert Habeck hätte am Sonntag am frühen Wahlabend beinahe der Danny da Costa der Politik werden können. Der Bundesvorsitzende der Grünen stand in Berlin bereit für eine Schalte zu ZDF-Moderatorin Bettina Schausten, aber es gab da noch ein kleines technisches Problem. Habeck sagte:
"Ich hör jetzt gar nichts. Ich kann aber trotzdem antworten, ohne die Frage gehört zu haben wahrscheinlich."
Diese süffisante Medienkritik Habecks und Schaustens verbal wie nonverbal geäußertes Nichteinverständnis hat die Medienkorrespondenz bei Twitter festgehalten.
Was das nun mit einem gewissen Danny da Costa zu tun hat? Der gute Mann spielt für Eintracht Frankfurt, und im vergangenen Jahr hat er nach einem Spiel bei einem Interview in der Mixed Zone nicht nur geantwortet, sondern die Fragen gleich mit gestellt, weil er die Fragen, die in solchen Situationen kommen, halt in- und auswendig kennt. Die Mixed Zone eines Fußballstadions ähnelt ja einem Wahlstudio: Hier wie dort werden Rituale abgespult, denen eine Ähnlichkeit mit Journalismus immerhin nicht abzusprechen ist.
Einen direkten Bezug zum Fußball herzustellen, war einer anderen Person vorbehalten: Martin Cordes heißt der Mann, er berichtete fürs ZDF, wie die Besucher der "Wahlparty" der brandenburgischen AfD auf die erste Prognose reagierten:
"Der Jubel ging hier tatsächlich durch diese Decke dieses historischen Ballsaals. Einen solchen Jubel kenne ich bisher nur aus dem Fanblock des Fußballstadions ( …) Andreas Kalbitz stand während der Prognose schon auf der Bühne, hat sich feiern lassen …"
Nun werden die eine oder andere Altpapier-Leserin oder der eine oder andere Altpapier-Leser vielleicht sagen: Wäre besser, wenn der Mann künftig über Fußball berichtet, wenn er sich doch offenbar so gut auskennt mit der Stimmung in Fanblöcken. Ich bin Fußballfan – ein Satz, der mir fast so schwer fällt wie der Satz: "Ich bin Journalist" –, und kann dazu nur sagen: Hoffentlich nicht.
Hat solche Art von Partyberichterstattung, wie Cordes sie am Sonntag performt hat, etwas mit Politikjournalismus zu tun? Ungefähr so viel wie – um kurz noch mal auf Fußball zurückzukommen – die während Welt- oder Europameisterschaften ständig in Nachrichtensendungen zu sehenden Berichte über die Stimmung bei Public-Viewing-Veranstaltungen mit Nachrichtenjournalismus zu tun haben.
Der Informations- und Nährwert von mit redundanten Beschreibungen versehenen Bildern, auf denen enthusiasmiertes (oder bedröppeltes) Parteivolk beim Wahlsendungsgucken zu sehen ist, lag indes schon bei null, als es die AfD noch gar nicht gab. Wie grotesk diese Der-Jubel-ging-durch-die-Decke-Berichterstattung ist, fällt nur stärker auf, wenn in deren Mittelpunkt ein Mann steht, den der brandenburgische Linken-Politiker Sebastian Walter kurz vor der Wahl – und unter Bezug auf Kalbitzs landmannschaftliche Herkunft – in einem Parteiwerbespot als "bayerischen Neonazi" bezeichnet hatte. Eine Formulierung, gegen die Andreas Kalbitz übrigens nicht juristisch vorgeht – im Gegensatz zu anderen Passagen aus dem Spot (siehe Tagesspiegel).
Während Martin Cordes vom ZDF beinahe stolz darauf zu sein scheint, dass er nicht nur dabei, sondern mittendrin ist, wo gleich die Löcher aus dem Käse fliegen, blickt Ann-Katrin Müller, die Partyreporterin von Spiegel Online, bei ihrem Bericht aus dem "historischen Ballsaal" (Cordes) eher bedröppelt drein. "Offensichtlich", so Müller, hätten die jüngsten "Enthüllungen" über Andreas Kalbitz der AfD in Brandenburg "nicht geschadet" – eine Zusammenfassung ("Mit Verve stürzten sich die Investigativ-Abteilungen aller Medien auf den Kandidaten Kalbitz …) siehe HAZ vom Wochenende –, "obwohl" dabei doch unter anderem Folgendes heraus gekommen war: Dass der Herr Spitzenkandidat ein "Jugendlager, das der Hitlerjugend nachgeahmt ist", besucht hat. Und "eine Neonazi-Demo in Athen". Müller mag natürlich nicht in Erwägung ziehen, dass das Wahlergebnis möglicherweise nicht trotz, sondern wegen den Enthüllungen so ausgefallen ist, wie es ausgefallen ist. Dass die investigativen Berichte also letztlich "Werbung für die AfD" waren (Ex-Titanic-Chefredakteur Tim Wolff).
Claus Kleber brachte es am Sonntag im "Heute-Journal" im Gespräch mit Kalbitz zunächst fertig, die Enthüllungen "aller Medien" (HAZ) zu erwähnen, ohne seinen Interviewpartner direkt darauf anzusprechen:
"Wer etwas so Großes will wie Wende vollenden will, muss am Ende ja auch Regierungsverantwortung wollen (…) Wäre es dafür nicht zweckmäßig, wenn die AfD Spitzenpersonen hätte, die sich nicht alle Nase lang mit irgendwelchen scheibchenweisen Enthüllungen aus einer, sagen wir: Flirtphase mit Neonazis und Rechtsextremen erklären müssen."
Diese "Hey, ich bin der Claus, ich kann auch locker"-Attitüde, die in der Formulierung "Flirtphase" zum Ausdruck kommt, war noch nie so unangemessen wie an diesem Abend. Erst bei der nächsten Frage konnte sich Kleber dann zu einer direkten Kritik an Kalbitz durchringen.
Dem Politikberater Johannes Hillje fiel übrigens auf: "Eine der ersten Danksagungen" von Kalbitz ging am Wahlabend an eine "rechtsradikale NGO" (Belltower News am Freitag), die 2017 "zwei Mal Thema im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorabwehrzentrum Rechts war" (HAZ im April 2018)
In der September-Ausgabe der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, die Claus Kleber wohl eher nicht liest, findet sich eine instruktive Einordung zu Kalbitz: Christoph Schulze und Gideon Botsch schreiben:
"Bei Straßenprotesten und Saalveranstaltungen erinnert Kalbitz an einen politischen Marktschreier, der rechte Textbausteine und politische Gags in manchmal ermüdender Folge aneinanderreiht. Die 'etablierten Polit-Fratzen' seien einerseits 'Versager', führten aber andererseits das Land bewusst in den Abgrund. Während Deutsche in Armut vegetierten, würden kriminelle '12jährige Syrer mit Vollbart' von 'vier Sozialtherapeuten umtanzt, die denen bunte Bällchen zuwerfen' (…) Aber Kalbitz weiß immer noch, 'wo das geht und wo nicht'. Gegenüber Medien, die nicht der AfD nahestehen, präsentiert er sich als ernst zu nehmender Politiker einer demokratischen Oppositionspartei, der auch ruhige Tonlagen anspielen kann."
Wobei genau das ja für beinahe jede Politikerin und jeden Politiker der AfD gilt, außer möglicherweise für Beatrix von Storch.
Zurück zum Wahlabend: Die "eindeutige" Verlierer*in unter den Journalist*innen war nicht etwa Martin "Fanblock" Cordes oder Claus "Flirtphase" Kleber, sondern Wiebke Binder, eine Kollegin des Senders, bei dem das Altpapier erscheint. So sieht es jedenfalls Arno Frank bei Spiegel Online. Zu verdanken hat Binder diese Negativ-Auszeichnung vor allem folgendem Satz:
"Eine stabile Zweierkoalition, eine bürgerliche, wäre ja theoretisch mit der AfD möglich."
In seltener Einigkeit hatten sich am Abend in Beinahe-Echtzeit schon Stefan Niggemeier und Julian Reichelt über diese Äußerung echauffiert. Frank ordnet sie so ein:
"Wo also die AfD gerne rein würde, moderiert Binder sie vorauseilend schon hinein. So würde sich das also anfühlen, ein Öffentlich-Rechtliches unter Ägide der AfD (…) Eilig sah sich der MDR zu einer Stellungnahme genötigt und spricht von Stress, Missverständnissen und Unschärfen."
Der entsprechende Tweet der MDR-Pressestelle ist in den Text eingebettet. Unter anderem die Kollegin Binder dürfte Georg Diez mit dieser knappen Generalanalyse gemeint haben:
"Das Formelhafte des Fernsehjournalismus von ARD und ZDF hat nun auch dazu geführt, dass da Ratlose Triumphierende befragen, ohne zu wissen, wie sie mit dem eigenen latenten Opportunismus umgehen sollen. Die haben schließlich 'gewonnen.'"
Wer wissen will, welcher Satz Binders der "prekärste des Abends" war – ein anderer als der oben zitierte! – lese die Wahlabend-Analyse von Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell bei Zeit Online. Er schreibt:
"Die Arbeit der ARD-Journalistinnen und -Journalisten ist offenbar geprägt von einer tiefen Verunsicherung gegenüber der rechtsradikalen bis rechtsextremen Partei. Diese aber würde einen anderen medialen Umgang erfordern, als es die Berichterstattenden offenbar für die kommode Routine der Häppchenfragerei bei Vertretern demokratischer Parteien (von 'Klatsche' bis 'Koalition') gelehrt haben."
Für die "Häppchenfragerei" gilt natürlich Ähnliches wie für die Wahlparty-Berichterstattung: Unzureichend war sie schon immer, es fällt nur jetzt mehr auf, dass sie nicht funktioniert. Dell weiter:
"Die eigentlich doch bestens informierten ARD-Journalisten haben in sechs Jahren AfD-Auftritten scheinbar nicht verstanden, (…) mit welchen Lügen und falschen Selbstviktimisierungen sie sich ihren Platz im öffentlichen Diskurs erbrüllt hat. Als Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, in der Berliner Runde das ewige 'Man-darf-gewisse-Sachen-nicht-sagen'-Mantra anstimmte, klang die kritisch gemeinte Antwort der Moderatorin Hassel wie eine Einladung: "Sie dürfen das ansprechen in all unseren Sendungen."
Dells generelles Fazit lautet:
"Der dezentralisierte Verbund der ARD ist einst nach der Erfahrung der NS-Diktatur von den West-Alliierten gegründet worden mit dem erklärten Ziel der 'reeducation', der journalistischen Mithilfe bei der Demokratisierung des nazistischen Deutschlands. Faschistische Propaganda sollte für die Zukunft verhindern werden. Ob die ARD diesen Auftrag heute noch lückenlos und kompetent erfüllt, darüber kann man sich nach einer Wahlberichterstattung wie der am Sonntag nicht mehr völlig sicher sein."
In einem anderen Zusammenhang war diese Frage ja gerade erst Thema im Altpapier: Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk heute noch so verfasst, dass er als Bollwerk gegen möglicherweise bevorstehende politisch-moralische Katastrophen taugt?
Wobei man eben immer auch fragen muss: Wenn die Berichterstattung "schön komfortabel für die AfD" war (Zeit-Online-Überschrift) – liegt es an "Fehlern", die im Live-Stress passieren, ist sie Ausdruck eines "latenten Opportunismus" (Georg Diez) oder geht die Haltung sogar über Opportunismus hinaus?
Um von den Verlierern der Wahlberichterstattung noch kurz zu jenen zu kommen, die sich als Gewinner sehen dürfen: Lars Wienand stellt bei t-online das weiblich-männliche Duo vor, das dafür verantwortlich war, dass unter anderem bei ZDF-Interviews mit Alexander Gauland und Andreas Kalbitz im Hintergrund ein Schild mit der Aufschrift "Rassisten sind keine Alternative" zu sehen war:
"Dass das Plakat buchstäblich laufend im Bild war, war eine sportliche Leistung eines Duos. Der Spruch wurde von einer jungen Frau hochgehalten, die außerhalb des Studios auf dem Rücken eines Mannes saß. Offenbar verfolgten sie auch, welche Position die ZDF-Kamera gerade filmte. Das Plakat-Duo wechselte mehrfach seinen Standort passend zum Interview-Partner."
Altpapierkorb (Kika-Serie über den Zweiten Weltkrieg, Fox News, Neues vom und zum Spiegel, Afghanistan-Berichterstattung)
+++ Mit der Gefahr, die von PewDiePie ausgeht, dem ersten YouTuber, der über hundert Millionen Abonnenten erreicht hat (Altpapier von vergangenem Montag), befasst sich Alexander Nabert für die taz – und zitiert dazu Miro Dittrich von der AmadeuAntonio Stiftung: "PewDiePie ist kein Rechtsextremist, aber bietet seinem jungen Publikum durch Tabubrüche und die Wiederholung rechter Narrative einen Einstieg in die rechtsextreme Gedankenwelt."
+++ Was Kinder "lernen können" aus "Der Krieg und ich", einer Kinderkanal-Serie über den Zweiten Weltkrieg, "die mit dem nicht gerade geringen Anspruch an(tritt), dem Kika-Publikum das gewaltige Massenmorden aus internationaler Perspektive zu erklären"? Dass "Zivilcourage ein hohes Gut" sei. Das schreibt Jochen Voit in der SZ vom Wochenende. Manfred Riepe in der Medienkorrespondenz dazu: "Eine insgesamt sehenswerte Geschichtslektion für Grundschulkinder und Jugendliche (…) Auf drastische und schockierende Bilder wird dabei verzichtet – ohne dass die Serie betulich würde (…) Auf Augenhöhe von Kindern thematisiert der Achtteiler die Bedeutung von Menschlichkeit, Zivilcourage und Nächstenliebe in schwierigen Zeiten." Klingt nicht zuletzt im Angesicht der Wahlergebnisse ziemlich aktuell. Am kommenden Wochenende laufen noch vier Folgen "Der Krieg und ich".
+++ Alan Cassidy greift für die Basler Zeitung, den Tages-Anzeiger und die heutige SZ-Medienseite eine Äußerung Donald Trumps auf: "Wir müssen uns nach einem neuen Nachrichtenkanal umsehen. Fox arbeitet nicht mehr für uns!" hatte dieser in der vergangenen Woche getwittert. Cassidy ordnet das folgendermaßen ein: "Tatsächlich will Trump wohl kaum den Bruch mit Fox, sondern noch mehr distanzlose und möglichst euphorische Berichterstattung."
+++ Der Spiegel-Verlag macht mal wieder was Neues: Nachdem etwa eine Fernsehzeitschrift in der Testphase hängen blieb, und ein Magazin für die besonders reife Jugend nach nur einer Ausgabe in die ewigen Jagdgründe einging (Altpapier), versucht man nun unter anderem mit direkter Leser-Mitbestimmung zum Erfolg zu kommen. Spiegel Lesezeichen soll das Ding heißen und die "besten 'Evergreens' aus den Spiegel-Publikationen der vorangegangenen Monate veröffentlichen" (Chefredakteur Steffen Klusmann). Und was sollen die Leser machen? Sich an der Auswahl der immergrünen Artikel beteiligen. Wie oft Spiegel Lesezeichen erscheinen soll, habe ich der Ankündigung nicht entnehmen können. Wie auch immer: Die Neubündelung in anderer Verpackung bereits erschienener Texte – das scheint mir nicht unbedingt Ausdruck von Kreativität zu sein.
+++ Spiegel (II): In der neuen Ausgabe der Monatszeitschrift konkret sagt Uwe Soukup zu den jüngst aufgetauchten Dokumenten in Sachen Reichstagsbrand, die den Spiegel eigentlich in Verlegenheit bringen müssten (siehe Altpapier): "Jeder logisch denkende Mensch wird, vor die Wahl gestellt, sich für eine unmögliche oder eine schwer vorstellbare Theorie zu entscheiden, die Letztere wählen. Unmöglich ist nun mal unmöglich. Das ist der Kern der Sache." Der Spiegel hat sich in Sachen Reichstagsbrand nun allerdings dafür entschieden, das Unmögliche für wahr zu halten. Dazu noch einmal Soukup: "Manchmal denke ich, der Spiegel wird diese Geschichte mit ins Grab nehmen (…) Es gibt Dinge, die kann man nicht zugeben, lieber stirbt man. Aber ich lasse mich gerne überraschen." Disclosure: Ich bin in besagter konkret-Ausgabe selbst mit zwei Texten vertreten.
+++ Am 4. September jährt sich zum zehnten Mal der Bundeswehr-Angriff auf zwei Tanklaster im afghanischen Kundus. Christoph Heinzle und Kai Küstner vom NDR werfen in dem Podcast "Killed in Action – Deutschland im Krieg" den Blick unter anderem auf dieses Ereignis, das das öffentliche Bild des Afghanistan-Einsatzes in Deutschland grundlegend verändert hat. Ich habe für die taz über die Podcast-Serie geschrieben – und die Produktion zum Anlass genommen, mit den Autoren darüber zu sprechen, wie sich die hiesige Afghanistan-Berichterstattung in der jüngeren Vergangenheit verändert hat.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.
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