Das Altpapier am 30. August 2019 Kein Witz
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30. August 2019, 12:35 Uhr
Jan Böhmermann will Vorsitzender der SPD werden. Seine Kampagne #neustart19 stellt auf Twitter die richtige Frage: Ist das noch Satire? Außerdem: Gegen die geplanten Sparmaßnahmen beim RBB-Kulturradio regt sich Protest. Ein Altpapier von Kathrin Hollmer.
Das "Neo Magazin Royale" und damit ein zuverlässiger Nachrichtenlieferant ist zurück aus der Sommerpause – wie die erste Sendung der neuen Staffel gleich beweist. In der Sendung von gestern Abend macht Jan Böhmermann zunächst Witze über die Portraitfotos der Kandidaten um den SPD-Parteivorsitz. Danach allerdings kündigt er an, dass er selbst für den SPD-Vorsitz kandidieren will. Willy Brandt, sagt er, sei ihm im Traum erschienen und habe gesagt: "Du musst es machen, der Olaf ist ‘ne Pfeife."
Es gibt dazu nicht nur einen Hashtag, sondern auch eine Webseite samt Erklärung zur Kandidatur. Darin heißt es:
"Nein, das ist kein Witz. Ich bewerbe mich hiermit offiziell und öffentlich um das Amt des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands."
Es gebe Hürden: dass seine Kandidatur bis Sonntagabend eingereicht sein muss, dass er dafür die Unterstützung von fünf SPD-Unterbezirken, einem Bezirk oder einem Landesverband braucht – und außerdem noch eine Parteimitgliedschaft. Aber hey, "Jesus war auch nicht in der Kirche", sagt Böhmermann in der Sendung.
Das Thema trendet seitdem natürlich auf Twitter, auf den Nachrichtenseiten gibt es die obligatorischen Meldungen (beispielsweise Spiegel Online, Focus, Welt). Ob oder wie ernst die Aktion gemeint sein mag – bei Böhmermann, der die Grenzen von Satire und Aktivismus immer wieder verschiebt und verwischt, ist alles denkbar. Die Partei Die Partei hat immerhin zwei Sitze im Europaparlament.
In der Frankfurter Rundschau schreibt Daland Segler:
"Es ist nicht das geringste Talent des Jan Böhmermann, dass er keine Hemmungen hat, Scherz, Satire, Ironie und ernste Bedeutung zu mischen, so dass oft ein kleiner Moment der Unsicherheit beim Publikum entstehen mag: Wie hat er das jetzt gemeint? Im Zweifelsfall: als Witz."
Seine Rede, schreibt Segler weiter, dürfte "so ganz ernst nicht gemeint sein". Der Kern davon ist allerdings wahr, allein deshalb kommt die Aktion gerade noch rechtzeitig:
"Die SPD hat mehr Transparenz, mehr Mut und mehr Offenheit verdient. Es gibt keinen Grund, vor etwas davon zu laufen, keinen Grund für Angst. Undurchsichtige Postenkungelei und Hinterzimmerverhandlungen haben in einer zukunftsfähigen SPD nichts verloren",
heißt es in der Erklärung zur Kandidatur auf der Webseite. Es ist eine Kritik an der Intransparenz in der Partei, die um Relevanz kämpft, an den Bewerbern für den SPD-Vorsitz und an dem Zirkus, den diese darum machen, insbesondere Vizekanzler Olaf Scholz (siehe Altpapier).
Weiter heißt es in Böhmermanns Erklärung:
"Ich habe bisher weder Hartz-IV-Gesetze beschlossen, noch einem Angriffskrieg zugestimmt. Auch mit meiner Doktorarbeit wird es keine peinlichen Probleme geben."
Auf Twitter beantwortet Böhmermann schon inhaltliche Nachfragen, etwa von Fridays For Future Deutschland.
RP Online hat die durchaus launigen Reaktionen von SPD-Politikern gesammelt, darunter Kevin Kühnert, der getwittert hat: "Es fehlen noch AWO-Tischdecke und IG Metall-Cap, dann könnten die ersten Unterbezirke weich werden. Tipp: Mehr Willy Brandt-Zitate nutzen."
Am Abend schrieb der Account #neustart19: "Ist das noch Satire oder schon Revolution?" Egal, ob und wie ernst die Kandidatur zur Kandidatur sein mag, Böhmermann hat, was vielen Politikern, nicht nur in der SPD, fehlt: Haltung.
Die zeigte er im Mai mit der Aktion "Comedians for Worldpeace" und der Pro-Europa-Song "Do they know it’s Europe" vor den Europawahlen und aktuell mit einem zweiten Beitrag im "Neo Magazin Royale" anlässlich der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am Sonntag: dem zweiten Teil AfD-"Qualitätskontrolle": "Was die sehr gute Partei AfD schon alles für Deutschland geleistet hat".
Heute Nachmittag lädt Böhmermann auf der Webseite Neustart19.de ein zum Bürgerdialog auf Twitter, Facebook und Instagram. Das Wochenende dürfte unterhaltsam werden.
Kulturwellen in Gefahr
Am Mittwoch hat mein Altpapier-Kollege René Martens es schon angedeutet, beim RBB soll gespart werden, insbesondere beim Kulturradio.
Bereits im Juni hat die Intendantin Patricia Schlesinger Kürzungen angekündigt, im Tagesspiegel hieß es dazu:
"Das Kulturradio des RBB trifft im Vergleich mit den einschlägigen Angeboten der anderen ARD-Sender auf eine erstaunlich schwache Resonanz. Dabei ist es eines der teuersten. Der Etat werde ab 2021 um eine Million sinken, so Schlesinger."
Nun hat eine Initiative von freien Mitarbeitern des RBB-Kulturradios einen offenen Brief an Patricia Schlesinger und ein Protestschreiben an die Mitglieder des Rundfunkrates geschickt, in denen sie davor warnt, dass "die Kultur beim RBB zusammengespart" wird, wie Kurt Sagatz im Tagesspiegel schreibt:
"Das Kulturradio des RBB soll von 2021 an mit einer Million Euro weniger auskommen, heißt es in einem Schreiben der Initiative, das am Donnerstag auch an die Medien verschickt wurde. Nach Angaben der Freienvertretung entspricht dies '20 Prozent des Programmetats und jährlich rund 4000 journalistischen Beiträgen über gesellschaftliche Debatten, über Bildung und Stadtentwicklung, Musik und Film, Theater und Literatur'. Das werde vor allem die freien Mitarbeiter treffen."
Die Entwicklung ist durchaus besorgniserregend. Auch beim HR ist ein Kultursender in Gefahr. Dort soll der Kultursender hr2 zur Klassikwelle umgebaut werden, was ebenfalls zurecht von vielen Seiten kritisiert wird. (siehe Altpapiere).
Altpapierkorb (Youtubes Umgang mit Identitären, öffentlicher Rundfunk in Brasilien, Medienstaatsvertrag, Newsgames, Domian):
+++ Der Youtube-Kanal des österreichischen Identitären-Chefs Martin Sellner (siehe Altpapier von gestern) ist nach nicht einmal 48 Stunden Sperrung wieder online. "(...) Wenn die Accounts ohnehin wieder online gehen, kann man es auch gleich lassen", kommentiert Alexander Nabert in der taz.
+++ Der Deutschlandfunk berichtet über die unsichere und unklare Lage des öffentlichen Rundfunks in Brasilien unter Präsident Jair Bolsonaro.
+++ Auf der Medienseite der FAZ geht es gleich zwei Mal um den neuen Medienstaatsvertrag. Bernd Holznagel, Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, schreibt in einem Gastbeitrag (Blendle) über das Auffindbarkeitsgebot in der Flut audiovisueller Inhalte. Michael Hanfeld fasst die Kritik von Verbänden der Internetwirtschaft am neuen Medienstaatsvertrag zusammen.
+++ Altpapier-Kollegin Nora Frerichmann schreibt im Freitag über Newsgames, die Weltgeschehen greifbar machen. "Während konventionelle Nachrichten zunehmend 'snackable‘ werden, kleinteiliger und tendenziell schneller getaktet", schreibt sie, "stehen bei Newsgames vor allem Zusammenhänge und das Verständnis von Hintergründen im Fokus."
+++ Eine technische Panne hat dafür gesorgt, dass das Mikrofon noch lief, als Jan Hofer und Claus-Erich Boetzkes nach der 15-Uhr-"Tagesschau" weiter plauderten. Hofers süffisante Bemerkungen über seine Honorare nutzten AfD-nahe Twitter-Accounts, wie unter anderem die Welt berichtet, für Stimmungsmache gegen die Rundfunkgebühren.
+++ Wie das "Neo Magazin Royale" melden sich auch "Tatort", "Traumschiff" und diverse Talkshows gerade aus den Ferien zurück – was Joachim Huber bereits am Mittwoch zu einem großen "Quo vadis, Fernsehen?" im Tagesspiegel veranlasste.
+++ Auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung geht es um Markus Wilhelm, der auf seiner Webseite dietiwag.org schon diverse Skandale in Tirol aufdeckt hat. Dort hat er nun verkündet, dass er den "Professor-Claus-Gatterer-Preis" für sozial engagierten Journalismus, den er am 5. September bekommen sollte, nicht annehmen wird. Er sei kein Journalist, sondern Aktivist, schreibt er, außerdem kritisiert er die neuen Sponsoren ("Claus Gatterer dreht sich im Grabe um bei diesem Missbrauch seines Namens").
+++ Ebenfalls für die SZ-Medienseite hat Oliver Klasen eine Liebeserklärung an den Ruhrgebiets-Kultfilm "Bang Boom Bang" verfasst, den Tele 5 von heute an ein Jahr lang jede Woche im Nachtprogramm laufen lassen will. Er schreibt: "(...) Der Grund, warum man ihn wieder und wieder ansehen kann, ist ein Prinzip, das sich Thorwarth bei Quentin Tarantinos Pulp Fiction abgeschaut hat: Dass die Dialoge am Ende wichtiger sind als der Plot."
+++ Außerdem: In der taz beschäftigt sich Anne Fromm mit Promi-Podcasts. Anlass: das neueste Promi-Podcast-Duo Jasna Fritzi Bauer und Benjamin von Stuckrad-Barre. Ihr Urteil: "in gewisser Weise ein Ur-Podcast, einer, der dem Prinzip entspricht, mit dem die ersten Podcasts Anfang der 2000er gestartet sind: Menschen quatschen. Meist nicht besonders stringent, dafür detailreich und banal."
+++ Unter anderem in der Welt nimmt man Abschied von Helmut Krauss, bekannt unter anderem als Nachbar Hermann Paschulke in der Kinderwissenssendung "Löwenzahn".
+++ Telefon-Seelsorger Jürgen Domian bekommt im November eine neue Sendung im WDR, meldet Spiegel Online, und Twitter steht Kopf.
+++ In seiner letzten Medienkolumne auf Evangelisch.de kritisiert Altpapier-Kollege Christian Bartels die "Aufregungsgesellschaft" auf Twitter, wo sich immer aufgeregt wird, "und Wichtigkeiten nachhaltig verschwimmen".
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