Das Altpapier am 29. August 2019 Scheintransparenz

29. August 2019, 12:19 Uhr

Journalisten bitten den Innenminister in einem offenen Brief darum, für ihre Sicherheit zu sorgen. Volker Lilienthal rät Journalisten, sich die Stöckchen der AfD vor dem Springen genau anzusehen. Und nach einem Erlass des NRW-Innenministers zur Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen rät eine Medienwissenschaftlerin Journalisten, die neue Richtlinie im Pressekodex zu ignorieren. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Dass viele Journalisten auf sogenannten Feindes- oder Todeslisten von Rechtsextremen stehen, ist nun schon seit einigen Wochen bekannt (zuletzt hier im Altpapier).Nur die Betroffenen selbst wissen es oft nicht, weil Behörden es ihnen nicht verraten.

Am Mittwoch haben mehrere Journalisten-Organisationen einen offenen Brief an Innenminister Horst Seehofer geschrieben, in dem sie viele bislang offene Fragen formulieren. Unter anderem wollen sie wissen, ob und in welcher Form Behörden die auf den Listen stehenden Menschen inzwischen informieren, unter welchen Umständen sie das tun, welche Kriterien es dafür gibt, ob auch ganze Organisationen auf diesen Listen zu finden sind, und ob das Ministerium garantieren kann, dass die Mitglieder dieser Organisationen sicher sind.

Erstaunlich daran ist zunächst, dass diese Fragen nicht längst beantwortet sind. Das könnte natürlich daran liegen, dass die Situation doch nicht ganz so dramatisch ist, wie es nach den Ende Juli veröffentlichten Recherchen des ARD-Magazins “Fakt“ erschien. Sheila Mysorekar, Vorsitzende des Vereins Neue deutschen Medienmacher, der eine der Organisationen ist, die den Brief unterzeichnet haben, mag daran allerdings nicht glauben. Im taz-Interview mit Daniel Kretschmar sagt sie:

“Der Staat kann (…) nicht davon ausgehen, dass diese Listen nur aus Langeweile zusammengestellt wurden.“

Das tut er offenbar auch nicht. Aus dem offenen Brief geht nämlich hervor, dass die Polizei Betroffenen Tipps gegeben hat. Nur, wenn diese Tipps tatsächlich ernst gemeint waren, dann weckt das wiederum Zweifel daran, ob die Behörden tatsächlich in der Lage sind, die Situation richtig einzuschätzen. Im Brief steht nämlich unter anderem:

“Uns sind Fälle bekannt geworden, in denen Betroffene informiert wurden und ihnen die Polizei nahe gelegt hat, sich 'aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen‘.“

Eine Lösung wäre das natürlich – allerdings ungefähr in der Art, wie es eine Lösung wäre, sich einen Arm amputieren zu lassen, um zu verhindern, dass jemand einen Finger abschneidet. Die Journalisten-Organisationen stellen sich eher eine andere Lösung vor. Sheila Mysorekar:

“Das Innenministerium soll die zuständigen Behörden mobilisieren, damit die Betroffenen in Frieden leben können. Damit meine ich nicht Personenschutz, sondern ein hartes Durchgreifen gegenüber denjenigen, die solche Listen zusammenstellen und verschicken, und gegenüber denjenigen, die Hass verbreiten und Menschen angreifen.“

Bislang hat das Innenministerium auf den offenen Brief noch nicht geantwortet.

Stöckchen bitte prüfen!

Vermutlich gibt es eine recht große Schnittmenge zwischen den Journalisten, die auf den Todeslisten stehen, und denen, die immer wieder mit der Frage konfrontiert sind, wie man über rechtsradikale Parteien wie die AfD berichtet. Und wo nun am Sonntag die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen stattfinden, ist die Frage wieder recht aktuell.

Liliane von Billerbeck hat für den Deutschlandfunk mit dem Journalistik-Professor Volker Lilienthal gesprochen, der Björn Höcke konsequent “Bernd Höcke“ nennt, und Journalisten einerseits das rät, was alle raten, nämlich nicht über jedes Stöckchen zu springen, das AfD-Politiker hinhalten – der aber auch sagt, man müsse sich die Stöcken vorher schon genau ansehen.

“Wenn die (Provokationen, Anm. Altpapier) kommen, muss man die schon ernst nehmen. Also da ist im Grunde die Entscheidung: Ist es eine Provokation von neuer Qualität? Sind hier rote Linien überschritten? Wird die Missachtung von Menschenwürde gerechtfertigt? Da muss natürlich ein Journalist, der (…) sich an das Grundgesetz gebunden fühlt, engagiert wiedersprechen, aber man sollte nicht sozusagen auf altbekannte Provokationen immer wieder einsteigen, weil das bringt nichts.“

Lilienthal kann den Provokationen sogar etwas Gutes abgewinnen:

“Im Grunde kann man die AfD-Provokation für den Journalismus auch positiv sehen, weil dieser Partei den Journalismus daran erinnert: Wir haben skeptisch zu prüfen – politische Forderungen, die aufgestellt sind. Wir haben zu kritisieren, wo rote Linien, die unser Grundgesetz zieht, überschritten werden. Und das gilt natürlich für alle anderen Parteien genauso.“

Und da sieht er durchaus Defizite. “Bei den Grünen gibt es mittlerweile auch so eine Gutgläubigkeit aufseiten vieler Journalisten“, sagt Lilienthal. Eine ähnliche Tendenz sieht er auch bei SPD und CDU.

Die Büchse der Pandora

Nachdem der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul die Polizei angewiesen hat, in Pressemitteilungen zu mutmaßlichen Straftaten die Nationalität von Tatverdächtigen zu nennen (Altpapier), lodert auch diese Diskussion wieder auf. Die Innenminister der übrigen Bundesländer sind nicht alle Reuls Meinung.

Wie der Evangelische Pressedienst mit einer Umfrage in Erfahrung gebracht hat (hier veröffentlicht in der Passauer Neuen Presse), berufen sich die meisten Länder weiterhin auf die zuständige Richtlinie aus dem Pressekodex.

Wer mit der Diskussion noch nicht vertraut ist oder vergessen hat, wie das mit der Richtlinie eigentlich war, kann es sich in diesem fünfminütigen Video vom  MDR-Kollegen Aaron Doll noch einmal sehr genau erklären lassen.

Die aktuelle Diskussion greift Andrej Reisin in seinem Beitrag für den ARD-Faktenfinder auf. Er hat unter anderem mit dem Kriminologen Tobias Singelnstein gesprochen, der Reuls Erlass kritisch sieht, weil er nur eine “Scheintransparenz“ herstelle. Singelnstein sagt:

"Es wird gerade keine Basis für eine differenzierte Diskussion geschaffen, denn die tatsächlichen Entstehungszusammenhänge für Kriminalität, wie die sozialen Umstände unter denen Menschen aufwachsen und leben, werden gerade nicht thematisiert. Man greift sich einen bestimmten anderen Aspekt raus – und suggeriert damit natürlich, dass dieser in einem ursächlichen Zusammenhang zur Tat steht."

Ein anderes Argument gegen die Nennung der Herkunft nennt Dominik Kudlacek vom kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen in Reisins Beitrag.

“Wir wissen, dass Zuwanderer insgesamt einer höheren Kriminalitätsbelastung unterliegen als die einheimische Wohnbevölkerung – sowohl als Täter als auch als Opfer von Kriminalität. Das liegt an einer Vielzahl von Faktoren, sie sind im Schnitt jünger, männlicher, die Lebensverhältnisse sind schwieriger und sie leben mehrheitlich in urbanen Räumen – alles Faktoren, die in der Forschung als harte Indikatoren für erhöhte Kriminalität bekannt sind.“

In anderen Worten: Wenn die Herkunft von Tatverdächtigen grundsätzlich genannt wird, entsteht der Eindruck, Menschen aus bestimmten Ländern seien eher kriminell als Menschen aus anderen, was aber nicht daran, liegt, dass dies tatsächlich der Fall ist, sondern lediglich daran, dass die statistische Grundgesamtheit zu einem falschen Eindruck führt.

Wie kompliziert das Problem ist und wie wenig geeignet Reuls Erlass ist, es zu lösen, zeigt ein weiterer Zusammenhang, den Reisin in seinem Text erwähnt. Reuls Annahme ist offenbar, dass die Gesamtheit aller Polizei-Pressemitteilungen und die sich daraus ergebende Gesamtheit aller Nachrichtenmeldungen die Realität wahrheitsgetreu abbilden. Doch zum einen ist das nicht der Fall, zum anderen weist der Kommunikationswissenschaftler Hans-Bernd Brosius darauf hin, dass die Berichterstattung in vielen Fällen beim Publikum zu einer verzerrten Wahrnehmung führt.

“Je weniger Verbrechen es gibt, desto mehr berichtet der Journalismus über einzelne Fälle, desto mehr glauben Menschen, dass Verbrechen häufiger geschehen."

Die Medienwissenschaftlerin Christine Horz rät Journalisten im Gespräch mit Sebastian Wellendorf für das Dlf-Medienmagazin @mediasres sich auch dann an die Vorgaben im Pressekodex zu halten, wenn die Polizei es nicht tut – allerdings eher an die alten Vorgaben, die einen “begründbaren Sachbezug“ forderten, statt an die neuen, bei denen ein “begründetes öffentliches Interesse“ ausreicht, um die Nennung der Herkunft zu rechtfertigen. Mit der Änderung der Richtlinie hätten die Journalisten selbst “die Büchse der Pandora geöffnet“.

Mit Blick auf die neue Richtlinie sagt Christine Horz:

Ich glaube, als ordentlicher Journalist nimmt man davon Abstand, denn man will ja nicht dem öffentlichen Interesse in erster Linie dienen, natürlich auch, aber man will natürlich auch berichten, was relevant ist für eine Gesellschaft. Was sind relevante Informationen, die Leser, Zuschauer, Hörer benötigen, um sich ein möglichst ausgewogenes Bild der aktuellen Situation zu machen. Und wenn man nur auf das öffentliche Interesse schaut, das wäre dann ja so, als würden alle Medien wie die ‚Bild‘-Zeitung berichten.“

Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, als gäbe es nur Kritik an Reuls Erlass, hier auch noch der Verweis auf einen Kommentar von Jacques Schuster für die Welt. Er schreibt:

“Noch immer ist Deutschland zu verklemmt, wenn es darum geht, die Nationalität von Tätern zu enthüllen. Aus Furcht vor dem Vorwurf, rassistisch zu sein, bleibt eine klare Benennung meist aus.“

Schuster geht wie Reul davon aus, dass durch die Nennung der Nationalität im Bild der Realität entsteht, das vollständiger und transparenter ist.

“Klar zu sagen, was ist, ist die Aufgabe der Politik – genauso wie des Journalismus.“

Ich teile nicht die Meinung, dass es zur Klarheit beiträgt, die Nationalität von Tatverdächtigen immer zu nennen. Ich denke, man beugt sich mit der Nennung lediglich dem lauten Wunsch von Menschen mit rassistischen Motiven, die ein Merkmal genannt haben wollen, das ihre Vermutung bestätigen soll: Ausländer sind häufiger kriminell. Wie absurd das ist, kann man sich sehr gut vor Augen führen, indem man sich vorstellt, diese Menschen würden nun auch noch fordern, dass die Religion von Tatverdächtigen genannt wird, weil sie die Vermutung haben, dass vor allem von ausländischen Muslimen eine besondere Gefahr ausgeht. Das könnte man natürlich nur transparent regeln, indem man die Religionen aller Tatverdächtigen nennt. Und dann hätten wir auch wieder Polizeimeldungen, in denen wir lesen: “Der Tatverdächtige ist Jude.

Altpapierkorb (Günther Jauch Lagerfeuer, Sellner nicht mehr bei Youtube, Brand Eins wird 20, 24 Stunden Tiktok, das Elend der Ferndiagnosen)

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+++ Ebenfalls auf der FAZ-Medienseite: Youtube hat den Kanal des österreichischen Identitären-Chefs Martin Sellner, “der angeblich 107.000 Abonnenten hat“, dicht gemacht, schreibt Michael Hanfeld. Sellner wolle gegen die Sperrung vorgehen. Youtube hat sich noch nicht geäußert.

+++ Moritz Baumstieger beschreibt auf der SZ-Medienseite, wie das syrische Regime versucht “in der Medienlandschaft die Uhren wieder auf Null zu stellen“. Das äußert sich zum Beispiel so, dass auch eigentlich regimetreue Journalisten sich schon bei leiser Kritik im Gefängnis wiederfinden.

+++ Marina Weisband beklagt in ihrer Deutschlandfunk-Kolumne, dass nicht mehr Geld für den Lokaljournalismus da ist.

+++ Eine neue Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die Zahlungsbereitschaft im Netz verbessern lässt. Monika Lungmus schreibt für das DJV-Magazin Journalist über die Studie. Die Bilanz der Autoren ist allerdings eher nüchtern: “Generell bleibt somit die Finanzierungsgrundlage prekär. Die Zahlungsbereitschaft der Nutzer ist – abseits weniger Nischen – einfach zu niedrig, als dass man über Abo-Modelle hochwertigen Journalismus finanzieren könnte“

+++ Auf der SZ-Medienseite übergießt Gerhard Matzig das “angebliche Wirtschaftsmagazin“ zu Recht viel sehr viel Lob: “Der Trick, der nur selten zum Tick retardiert, ist: Die Wirtschaftszeitschrift macht aus der Ökonomie ein ganzes Leben. Das Wirtschaften ist ohne Gesellschaft nicht zu haben – und umgekehrt. Deshalb liest man brand eins so gerne. Es erzählt von uns. Das ist schlau.“

+++ SZ-Digitalchef Dirk von Gehlen wird im Urlaub krank, schaut sich 24 Stunden lang Tiktok an – und schreibt auf, was er dabei gelernt hat.

+++ Oliver Koytek berichtet für das Reportage- und Dokuformat “ZDFzoom“ darüber, wie mit Desinformation um die öffentliche Meinung gekämpft wird.

+++ Facebook verschärft vor den US-Wahlen seine Regeln für Wahlwerbung. Das hat das Unternehmen in seinem Firmenblog angekündigt, wie der Standard berichtet. Nutzer sollen in Zukunft sehen können, wer eine Anzeige bezahlt hat.

+++ Eigentlich gelten Ferndiagnosen unter Ärzten und Psychologen als verpönt. Allerdings anscheinend nicht bei allen. Einige denken: Irgendwer macht’s eh, da mach ich’s lieber selbst. Hinnerk Feldwisch-Drentrup schreibt für Übermedien über das seltsame Verhältnis von Psychologen und Medien.

+++ Deutsche Fernsehsender setzen gern auf Bewährtes, oft jahrzehntelang, in Übereinkunft mit dem Publikum. “Das in Fan-Klientelen fragmentierte Publikum schreit nicht nach Innovation. Und wo keiner schreit, da wird der gemeine Senderedakteur auch nicht aufgeschreckt“, schreibt Joachim Huber und schildert die Folge, die sich ganz gut mit dem Wort “Stillstand“ zusammenfassen lässt.

+++ Netflix macht es ganz anders. Dort enden viele Serien nach drei Staffeln, manche schon nach einer, obwohl sie erfolgreich sind. Eine Antwort auf die Frage, warum, ist die Zahl der neuen Abonnenten, die diese Serien dem Sender bringen, erklärt der Standard.

Neues Altpapier kommt am Freitag.

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