Das Altpapier am 20. August 2019 Wo ist die gute alte Öffentlichkeit geblieben?

In den personalisierten Internet-Endgeräten auf der Hand? In den Datenmengen, die auf Vorrat gespeichert werden? Außerdem: Eine einst 100.000e Hefte starke Zeitschrift verschwindet. Ein prominenter Youtuber blättert unter großem Hallo eine Zeitung durch. Und der "Schwarze Kanal" aus der alten DDR youtube-t jetzt auch aktuell. Ein Altpapier von Christian Bartels.

"'Schreib niemals 'im letzten Heft', sagt mein Textchef immer, wenn ich in einem Artikel auf die Vorausgabe verweisen will".

leitet der Chefredakteur der Springer-Zeitschrift Computer Bild Spiele (mit dem tollen Chefredakteurs-Namen Dirk General-Kuchel) sein jüngstes Editorial ein. Man sollte eher vom vorigen Heft oder vergangenen Monat schreiben, lautet eine alte Journalistenregel.

"Diesmal aber wird er die Zeile so stehen lassen",

fährt General-Kuchel fort. Denn sein Blatt erscheint nun, zur Spielemesse "Gamescom", echt zum letzten Mal. Es hat allerdings auch einen Sinkflug hingelegt, der empfindsamen Gamern unter immersiven VR-Brillen Schwindel oder so was erregen könnte: "Die verkaufte Auflage des Springer-Videospielmagazins ist mit den Jahren drastisch gesunken. 2002 wurden noch gut 736.000 Exemplare verkauft. Anfang dieses Jahres waren es weniger als 28.000" (Deutschlandfunks "@mediasres"). Braucht es da noch eine Experten-Einschätzung einer Gamedesign-Professorin?

Wenn wir dabei sind: Gruner+Jahr, in den goldenen Zeiten gedruckter Medien ein wichtiger Rivale, stellt auch ein, und zwar ebenfalls nicht neue Redakteure, sondern ein Objekt. Allerdings ein ungedruckt-digitales: die Fotocommunity view.stern.de, die derzeit wohl kontextsensibel zur Neuigkeit passende "redaktionell ausgewählte Bilder" zeigt. "Grund ist die Dominanz durch US-Tech-Plattformen wie Instagram und Pinterest", berichtet meedia.de. Für die betroffenen nur zwei Mitarbeiter würde nach einer "sozialverträglichen Lösung" gesucht, das gleichnamige gedruckte "visuelle General-Interest-Magazin" (G+J) erscheine weiter. Wobei es durch diesen Schritt natürlich nicht gestärkt wird.

Rezo blättert eine Bild-Zeitung durch!!!

Unterdessen hat ein prominenter junger Youtuber kamera-öffentlich etwas durchgeblättert: eine Zeitung. Zwar erzielte das jüngste Rezo-Video noch keine Mio Youtube-Aufrufe wie das zur CDU. "Wir BILDen Rezo" erschien aber auch gar nicht auf einem Kanal des Ströer-, äh: -Influencers (sondern bei Space Frogs). Jedenfalls fühlt sich Thomas Knüwer unter der Überschrift "Die Zerstörung der Zeitungen durch den Youtuber Rezo" in anmutigster Bescheidenheit ("Vor 9 Jahren schrieb ich ... Damals glaubt ich noch, dass es Zeitschriften nicht so heftig erwischen würde – in dem Punkt wurde ich eines Besseren belehrt") bestätigt.

Und während Rezo mit einem Sidekick eine Ausgabe der Bild-Zeitung durchblättert, sprudeln aus ihm ungefähr so viele Ausrufezeichen wie Springers Blatt sie immer druckt. Eigentlich könnten sich die beiden Beeinflusser also nahe sein. Wie fern sie, und damit vergleichsweise einfluss-starke, äh, Medienmilues, einander sind, ist das Aufschlussreiche.

"... selbst wenn man 50 % seiner Erschütterung als Entertainment abzieht, ist es faszinierend, wie fremd ihm (rezo) alles an analogen und linearen Medien ist",

notierte Stefan Niggemeier auf Twitter, und ausgerechnet ein Bild-Zeitungs-Mann (Ralf Schuler) analysierte noch einen Tick tiefer:

"... Aber im Grunde sind wir bei dem Video doch am entscheidenden Punkt: Wie repräsentativ ist die eigene Wahrnehmung/das eigene Weltbild für die Gesellschaft?"

Die Öffentlichkeit ist verschwunden!

Rasch ein Blick wenige vergangene Monate bzw. Jahrhunderte zurück: Im Mai bekam die Autorin Eva Menasse den Ludwig-Börne-Preis, benannt nach dem im 19. Jahrhundert aktiven deutsch-jüdischen Autor. Wahrscheinlich wurde ihre Preisannahme-Rede bald darauf bereits auszugsweise ganzseitig in einem Feuilleton abgedruckt. Doch:

"Wen wollen wir denn heute noch erreichen, wenn wir in der Paulskirche sprechen, wenn wir in der ZEIT oder in der FAZ schreiben?"

Sagt/schreibt Menasse selber, unmittelbar nachdem sie ihre Kernthese formuliert hat:

"Dramatisch ist jedoch, dass sich die Öffentlichkeit als solche, die sich zu Börnes Zeiten erst gebildet hat als eine zivilgesellschaftliche Gegenöffentlichkeit zum Staat und seinen Organen, gerade komplett auflöst."

Insofern jeweils gut, dass die Deutschlandfunk-Sendung "Essay und Diskurs" Menasses nicht mehr tagesaktuelle Rede "noch einmal als Radioessay aufgenommen" hat (und auch als schriftlichen Text zur Verfügung stellt). Schuld am "Verschwinden der Öffentlichkeit", so die Überschrift, sei das Internet ("Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen"; wobei diese beiden sich in ihren kurzen Lebzeiten ja auch derart gedisst hatten, dass man ungern wissen wollen würden, wie sie die aktuellen technischen Mittel dazu benutzt hätten). Aus Menasses Rede verdiente beinahe jeder Satz, daraus zitiert zu werden, so gut passt sie in die Echtzeit. Bloß eine hintersinnige Passage noch:

"... Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiß, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich 'personalisiert'. Das aber ist, nach allem, was man an Folgen bisher sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit. Doch jedem Ende folgt ein neuer Anfang, auch wenn ich befürchte, dass wir uns diesen wahrscheinlich ohne uns vorstellen müssen. ..."

Falls Ihnen das jetzt zu literaturpreisig ist:

"Heute wird jede Sau durchs Dorf getrieben. Alles, das sich zuspitzen lässt, Erregung generiert, Aufmerksamkeit erzeugt – geht ins Netz. Ein Politiker fordert eine Abschaffung der 1. Klasse in Regionalzügen? Eine Banalität, die keinerlei Berichterstattung wert ist. Aber im Netz wunderbar funktioniert – weil sich die Menschen aufregen können",

schimpfte Jörg Schieb gerade im WDR-Blog Digitalistan, um am Ende den auch gar nicht üblen Gedanken "Vielleicht sollten sich Journalisten öfter fragen: Wie würde ich berichten, wenn es das Internet nicht gäbe?" zu teilen.

Der "Schwarze Kanal" youtube-t jetzt auch aktuell

Andererseits, faszinieren tut Internet mobil auf die Hand halt auch. Wer seit Freitagabend ebenfalls youtube-t: eine legendäre oder zumindest legendär umstrittene Sendung aus der tiefen Vergangenheit, in der lineares Fernsehen noch Suggestivkraft besessen haben muss. Der alte "Schwarze Kanal" mit Karl-Eduard von Schnitzler zirkuliert ja längst wie fast alles, was es jemals gab, auf Youtube. Als gedruckte (und Online-) Rubrik in der sehr kleinen Tageszeitung Junge Welt existierte er schon seit offenbar 15 Jahren weiter. Und jetzt gibt's ihn auch wieder als Bewegtbild (und bildlos als Podcast) – auf jungewelt.de und 'türlich auf Youtube. Aufs Zentralorgan des Plattformkapitalismus können auch noch so linke Blätter nicht verzichten.

Die kleine Zeitung, die am Ende des Videos fast tazzig ("Ich will ein Print von Dir!") um Abonnenten wirbt, veröffentlicht "zunächst monatlich eine Weiterentwicklung des Formats. Langfristig sei eine wöchentliche Ausgabe geplant, teilte die Zeitung mit", berichtete der Tagesspiegel. Formal kommt der neue "Kanal" durchaus angenehm rüber. Der Vortragende, Christian Boldt (also nicht Autor Arnold Schölzel), scheint gar nicht dramatisch älter als Rezo zu sein, redet allerdings deutlich langsamer und gestikuliert überhaupt nicht, was auf Youtube ungewohnt ist. Inhaltlich lässt durchaus diskutieren, was er so vorträgt. Schließlich sind die USA spätestens unter Präsident Trump auch nicht mehr, was sie im Kalten Krieg wohl waren ...

Kehrt auch die Vorratsdatenspeicherung zurück?

Es gibt das Internet eben, und im Alltag müssen alle damit umgehen. Damit zur aktuellen Bundesregierung und einer breaking klingenden News auf netzpolitik.org: "Bundeskriminalamt will mit Vorratsdatenspeicherung gegen Nazis vorgehen". Ja sogar, ergänzt der Vorspann, mit "verschärfter Vorratsdatenspeicherung"!

Was zur Frage führt, ob netzpolitik.org denn noch so scharf gegen diese Vorratsdatenspeicherung ist wie etwa im vergangenen Sommer. Dass solche Infrastrukturen selbst dann, wenn sie einstweilen nicht zur Zensur benutzt werden, später, durch neue Gesetze (oder unter anderen Regierungen) doch genau dazu benutzt werden können, weil sie eingerichtet wurden, lautete eines der guten Argumente gegen VDS. Dazu steht im aktuellen Artikel, der so klingt, als könnte Jan Hofer ihn gleich vom Teleprompter ablesen: nichts.

Dabei gibt es Kritik an diesen Plänen. Zumindest ganz am Ende der Zitateumschau in der taz (also da, wo der Säzzer kürzen könnte): "Der Grüne [Konstantin] von Notz kritisierte die geplante Vorratsdatenspeicherung: Massenüberwachungen seien mit den Grundrechten 'unvereinbar'". Ja, diese Pläne dürften für sämtliche Internetnutzer in Deutschland sehr vieles umpflügen, wie am deutlichsten Ronen Steinke in der Süddeutschen (die auch als erste davon berichtete) unter der Überschrift "Standleitung zum BKA" kommentiert. Z.B.:

"Neu wäre dann, zweitens, dass sich Deutschland von einem lange gepflegten Prinzip des Rechts verabschiedet. Dieses lautet: Es gibt für Privatpersonen keine Anzeigepflicht (außer für bevorstehende und noch verhinderbare schwere Straftaten, aber das ist ein Sonderfall). Der Gedanke dahinter lautet: Niemand soll gezwungen werden, einen anderen zu denunzieren. Dieses Prinzip würde im Netz künftig aufgehoben; Plattformbetreiber wie Facebook bekämen erstmals in der deutschen Geschichte die Pflicht, alles an die Polizei zu melden."

Wäre das schlecht oder angesichts der Entwicklungen eher gut? Darüber kann bzw. muss diskutiert werden, und zwar notwendig theoretisch, weil es so etwas in der rechtsstaatlichen Praxis noch gar nicht gibt. Und klar, eigene Meinungen etwa zur Vorratsdatenspeicherung aufgrund aktueller Entwicklungen (oder anlasslos) zu revidieren, ist völlig legitim. Bloß alles einfach auszublenden, worüber so lange diskutiert wurde, ist ein schwaches Bild. Es könnte fast scheinen, als hätte der sympathische, spendenfinanzierte Blog netzpolitik.org gerade seinen Kompass verloren. Das wäre sehr schade. Andererseits: Allein wäre er damit nicht.


Altpapierkorb ("Ihre Wahlarena"! Protest gegen HR-Pläne. Mehr subjektiver Journalismus? "Gut gelaunte Realitätsverdrängung", "Dokumentarfilme wie Thriller", "gewaltige gesellschaftliche Verstärker")

+++ Heute abend im RBB-Fernsehen: "Brandenburg-Wahl: Ihre Wahlarena"! Die Formulierung der Einladungen, die juristisch (Altpapier) Bestand haben dürfte, lautet: "Spitzenkandidaten der Parteien ..., die die größten Chancen haben, in Fraktionsstärke in den Landtag einzuziehen". Wobei der Tagesspiegel aber glaubt, dass es beim MDR "spannender wird ..., nicht zuletzt deshalb, weil die AfD in Sachsen ein höheres Konfliktpotenzial aufweist als in Brandenburg".

+++ Heute auf der FAZ-Medienseite unter der Überschrift "Ist das Kulturfunk oder kann das weg?": "Kulturschaffende" protestieren gegen Pläne des Hessischen Rundfunks, aus dem "kulturellen Vollprogramm" HR 2 eine "Abspielstation für klassische Musik" zu machen (siehe zuletzt dieses Altpapier). "Darauf haben sie sicher schon lange sehnsüchtig an ihren Kinderzimmerfenstern gewartet, jene jungen Wilden unter 35, die man, so HR-Hörfunkdirektor Heinz-Dieter Sommer allen Ernstes, mit dem bisherigen Angebot geradezu 'diskriminiert' habe. Gewiss löschen die jungen Medienfreaks schon fleißig ihre Spotify-Accounts ...", höhnt der Frankfurter Literaturgeschichts-Professor Heinz Drügh (Blendle). "Selbstverständlich steht das gesamte Dudelfunk-Angebot von hr einsdreivier nicht zur Disposition, obwohl gerade die jungen Musikfreunde sich alles, was sie hören wollen, längst bei Spotify runtergeholt haben", ergänzt Pit Knorr.

+++ "Auch nicht-aktivistische Journalisten könnten demnach schlechten Journalismus betreiben. Wenn sie nur eine Seite darstellen, Widersprüche verdecken, nicht dazu bereit sind, ihre 'These zu verändern, weil die Wirklichkeit nicht zu ihr passt' und sie als Bürgerin oder Bürger eine bestimmte Erwartung an die Realität haben": Da berichtet Maria Christoph auf medienblog.hypotheses.org unter der Überschrift "Warum wir mehr subjektiven Journalismus brauchen" über ihre Uni-Abschlussarbeit. Sie plädiert für "critical proximity" statt "critical distance".

+++ "Comedy steht – anders als Satire oder Kabarett – regelmäßig nicht im Dienst der Aufklärung, sondern gut gelaunter Realitätsverdrängung. In diesem Punkt überschneidet sich Comedy mit Schlager: Beim Inszenieren konsumierbarer Naivität", versucht Samira El Ouassil in ihrer uebermedien.de-"Wochenschau" Luke Mockridges ZDF-Auftritt (Altpapier gestern) Metaebenen-Erkenntnisse abzuwringen.

+++ Nochmals zur Jungen Welt: Dort wurde auch Dokumentarfilmer Dietmar Post (zuletzt hier im Altpapier) interviewt und sagt u.a.: "Dokumentarfilme sollen aus Sicht einiger Verantwortlicher wie Thriller aufgebaut sein, bei denen es klar die Guten und die Bösen gibt ..."

+++ Die Deutsche Presseagentur zählt zu den Institutionen der jungen BRD, die dieses Jahr alle 70 werden. "'Es gibt im Nachrichtenbereich keine Gatekeeper im klassischen Sinne mehr', sagt [Chefredakteur Sven] Gösmann. 'Aber die 'Tagesschau', der Deutschlandfunk oder wir sind natürlich immer noch gewaltige gesellschaftliche Verstärker, hinter denen sich auch mancher mit trüben Absichten verstecken möchte. Da schmerzt jeder Fehler, da hilft jede aufklärerische Leistung" im großen WE-taz-Artikel, in dem Daniel Bouhs auch noch mal das "Agenturprivileg"erläutert.

+++ Die alte, aber lange ungesendete Sat.1-Serie "23 Morde" auf joyn.de "ist einfach unanschaubar" (dwdl.de) bzw. "kann man gucken" (welt.de).

+++ Und eine schöne Reminiszenz an Peter Fonda, noch bevor er dann gestorben ist, gelang der Medienkorrespondenz.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.