Das Altpapier am 12. August 2019 Massenmedienerregungsmüdigkeit
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Reflexe, Eskalationsspiralen, kontroverse Diskussionen: Am Wochenende wurde mediale Erregung selbst verstärkt zum Gegenstand von Medien. Weitere Erkenntnis aus dem Fall Tönnies: Das Entwicklungsministerium steht offensichtlich weniger unter journalistischer Beobachtung als Schalke 04. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Wie Medien an der Erzeugung von Erregung beteiligt sind, von der sie sich dann nähren, während sie sie auch kritisieren: Das ist ein relevanter Stoff, und es ist gut, dass er behandelt wird.
Dirk von Gehlen analysiert in der Süddeutschen Zeitung vom Samstag zum Beispiel aus gegebenem Anlass die “typischen Aufregungs-Muster bei rasch und vehement hochschießenden öffentlichen Diskussionen“. Er hat dabei erst einmal “die Algorithmen der sozialen Netzwerke“ im Visier, die “genau dafür programmiert wurden, die menschlichen Aufregungs-Reflexe zu bedienen“. Er hat allerdings ebenfalls im Blick, dass sich Medien bereitwillig der Hoheit dieser Reflexzurichtung unterordnen. Ein Verhalten, für das der Theatermacher Milo Rau vor etwa zwei Jahren den Begriff der “Metasklaven“ (Altpapier) geprägt hat: Metasklaven, so Rau, seien jene, die sich allen eigenen Beurteilungsfähigkeiten zum Trotz mit einer Sache in dem Moment beschäftigen, in dem es alle anderen auch tun. Selbst dann, wenn sie die Beschäftigung mit der Sache kritisieren.
Im Fall Carsten #Linnemann, über den von Gehlen schreibt, ist die Unterwerfung unter die Hoheit der Reflexe etwa erkennbar daran, auf welchem Weg das Erregung auslösende Zitat des CDU-Politikers Verbreitung fand – etwa über eine Textkarte der dpa: “Solche Bilder sollen die memetische Verbreitung von Informationen in sozialen Netzwerken nutzen. Das Bild löst das Zitat aus seinem Kontext und ist leicht teilbar und kommentierbar.“ Das ganze Interview mit Kontext war dagegen nur nach Registrierung bei der Rheinischen Post lesbar. (Was er forderte und was nicht: siehe auch Altpapier.)
Nun kann man sich fragen, ob der Kontext in diesem Fall am Ergebnis viel geändert hätte. Harald Staun bezweifelt das in der “Die lieben Kollegen“-Rubrik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Im Kontext mache Linnemann “klar, dass es ihm weniger um die Chancen der benachteiligten Kinder geht, als vielmehr um die 'Absenkung des Leistungsniveaus‘, die oft mit einem 'Migrationsanteil ab 30-40 Prozent‘ einhergehe. Die meisten haben das richtig falsch verstanden.“
Thesen als Sprungbretter
Ermüdend findet Jagoda Marinić in der, wiederum, Süddeutschen Zeitung die Debatte trotzdem.
Ihr geht es um die Instrumentalisierbarkeit medialer Mechanismen: Thesen wie die von Linnemann seien “Sprungbretter“; “der Versuch, der Öffentlichkeit seinen Namen einzuprägen“. Sie sei “massenmedienerregungsmüde“, schreibt sie – und landet dann ebenfalls bei der Erregungsanalyse: “Ein sich selbst wiederholender Reflex wird derzeit als Diskurs bezeichnet. Jedes Mal derselbe Einschlag, kurz darauf derselbe Ausschlag.“
Eine Analyse, die ebenso gut für die Freibad-Thematik der vergangenen Wochen gelten kann: Vom “Krawall“ in Düsseldorfs Großstadtfreibad, ausgelöst durch “junge auffällige Männer“, die “oft einen Migrationshintergrund haben“ (“Tagesthemen“ vom 29. Juli, Minute drei) bleibt nach ein paar Recherchen tatsächlich nichts, wie “Monitor“ vergangene Woche gezeigt hat.
Themen der Konkurrenz sind Themen
Nun wäre es wohl ziemlich optimistisch, zu glauben, dass sich Zurückhaltung durch Appelle (“Die mediale Aufmerksamkeit darf sich nicht auf die Erregungsschleifen über twittertaugliche Thesen richten, sondern…“, schreibt Marinić) herstellen ließe. Es gibt “die Medien“ ja nicht als gemeinsamen Adressaten, dem man mal ein paar neue Verhaltensweisen impfen könnte. Die aktuell arbeitende Redaktion, die sich den Themen verweigert, mit denen Konkurrenten verlässlich ihre Klicks machen, wird in der Regel nicht gelobt, sondern nur weniger wahrgenommen. Weshalb Themenverweigerung für die meisten nicht infrage kommt. Und weshalb “die Medien“ dann andererseits eben doch als “die Medien“ bezeichnet werden können: Sie funktionieren schließlich nach den Logiken “der Medien“.
Was aber durchaus im Bereich des Machbaren wäre, ist, Erregungsdebatten konstruktiv zu wenden und, wenn man ihnen schon nicht so einfach entkommt, den Weg der Vertiefung einzuschlagen. Der Fall Tönnies etwa könnte ohne größere Verrenkungen zu einer journalistischen Inspektion der Afrika-Politik der Bundesregierung führen – wofür sich dann vielleicht mehr Menschen interessieren würden, als wenn es keinen allgemein bekannten Anlass gäbe.
Die Äußerungen des Aufsichtsratsvorsitzenden von Schalke 04 sind in den vergangenen Tagen rauf- und runterzitiert und -kommentiert worden (siehe etwa dieses Altpapier). Sportredakteur Michael Horeni begrüßt in der in der Samstags-FAZ (0,45 € bei Blendle) auch erst einmal, dass es nicht einfach übergangen wird, wenn jemand in dieser Funktion Rassistisches sagt: “(M)it dem Aufstieg des Fußballs zur relevanten gesellschaftlichen Kraft ist es unter den Augen einer sensiblen Öffentlichkeit für Funktionäre schwer geworden, noch etwas unter den rechten Teppich kehren zu können. Nach vielen Jahren der Ignoranz ist das ein echter Fortschritt.“
Horeni hat allerdings vor allem auch einiges auszusetzen am Verlauf der Debatte: “Die Eskalationsspirale schraubte sich (…) im Fall Tönnies im Zusammenspiel zwischen traditionellen und sozialen Medien höher und höher, zu einer Radikalität eigener Art“, findet er. Horeni sieht einen Ausweg aus der “Eskalationsspirale“ in jener “inhaltlichen Debatte“, die der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, Günter Nooke, angeregt hat. Der sagte: “Die von Tönnies angesprochenen Probleme wie das Verschwinden des Regenwalds und das Bevölkerungswachstum auf dem afrikanischen Kontinent sind real. Und darüber muss gesprochen und gegebenenfalls kontrovers diskutiert werden.“
Man könnte die Empörung über Fußballfunktionär Tönnies also konkret, wie gesagt, etwa zum Anlass nehmen, endlich mal die Afrika-Berichterstattung größer zu fahren, die es ohnehin schwer genug hat. Die Welt hat das auch versucht: Korrespondent Christian Putsch bekam Platz für “Fakten zum Bevölkerungswachstum in Afrika“ (Abo). Er kam allerdings im Ergebnis nicht wirklich bei Tönnies raus (“Afrika ist nach wie vor deutlich dünner besiedelt als Europa und Asien. Und die CO2-Emissionen pro Einwohner sind in Deutschland 300 Mal so hoch wie im Kongo“).
Fußballfunktionär sticht Afrika-Beauftragten
Was wiederum die Frage aufwirft, was eigentlich Günter Nooke, den persönlichen Afrika-Beauftragten der Kanzlerin, dazu bringt, Tönnies in der Sache zu verteidigen. Man ahnt, dass ihm das nicht aus Versehen passiert ist, wenn man das Interview liest, das er 2018 der B.Z gab. Darin sagte er etwa, der Kolonialismus habe auch seine guten Seiten gehabt, oder dass die Männer in Niger am liebsten elf Kinder hätten.
Medial ist Nooke zwar derzeit recht präsent (er hat es etwa in die “Leute“-Rubrik auf der Panorama-Seite der SZ geschafft), allerdings vor allem, weil der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Schauspieler Charles M. Huber seinen Austritt aus der Partei kommuniziert und ihn mit Nookes Äußerungen über Tönnies begründet hat. Huber sagte: “(D)ie Kanzlerin leistet sich einen Afrika-Beauftragten, der in Bezug auf Afrika überhaupt noch nie positiv in Erscheinung getreten ist.“
Das ist meines Erachtens der Satz, der Journalisten wirklich aufhorchen lassen müsste. Aber es kam bislang nichts dazu. Was tut dieser Afrika-Beauftragte? Warum hat ausgerechnet er diesen Posten? Warum verbreitet der Afrika-Beauftragte der Kanzlerin, wenn er sich mal zu Wort meldet, verlässlich negative Wertungen über den ganzen Kontinent? Kann er nicht differenzieren, weiß er, wovon er redet, verfolgt er eine Strategie, ist er eine Fehlbesetzung? Wie kann man ihn im Namen der Kanzlerin zu afrikanischen Regierungen schicken, wenn er zugleich Interviews gibt, in denen er behauptet, die Kolonialzeit sei so schlimm für Afrika dann auch wieder nicht gewesen? Alles Fragen, die nicht gestellt wurden. Warum nicht?
Vermutung: Zum einen sind Tönnies und Charles Huber die Gesichtsprominenten in der Debatte; da ist Nooke wohl nur Beifang, der hier der Verlängerung der postdemokratischen Tönnies-Mediendebatte dient. Zum anderen arbeitet Nooke im Entwicklungsministerium, das journalistisch ohnehin hardcore unterbeobachtet ist. Es steht jedenfalls weit weniger unter Beobachtung als Schalke 04. Der Verdacht, dass es im deutschen Journalismus kaum jemanden gibt, der die Arbeit des persönlichen Afrika-Beauftragten der Kanzlerin wirklich einordnen kann, liegt nicht ganz fern. Wann, wenn nicht jetzt, wäre sonst Gelegenheit, es zu tun?
Altpapierkorb (Fall Buschmann, Marie Sophie Hingst, FJ Wagner, Jan Fleischhauer)
+++ Die Welt am Sonntag hat im von Übermedien zuerst aufgebrachten“Fall Buschmann“ (Altpapiere vom 31. Juli und 7. August) weiterrecherchiert, in dem es um einen Spiegel-Artikel von 2014 über vermeintliche Spielmanipulationen bei der Fußball-WM geht: “Der betreffende Dokumentar, der den Buschmann-Artikel im Jahr 2014 verifizieren musste, habe keine hinreichenden Dokumente oder Beweise für die These finden können, dass das Spiel manipuliert gewesen sei (…). Neben das auf DIN-A4-Papier ausgedruckte Manuskript habe er notiert: 'Kein Beleg‘.“ So berichten es zwei Mitarbeiter des 'Spiegel‘ unabhängig voneinander.“ Online (Abo) heißt der WamS-Text: “Relotius ist nicht das einzige Problem des 'Spiegel’“.
+++ Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner spricht im Interview (€) mit der Süddeutschen Zeitung (“Vogelgezwitscher weht in den Altbau in Berlin-Charlottenburg“) über das Schreiben (“Ich bin kein begeisterter Leser meiner Kolumne. Ich weiß, dass ich an die Grenze gehe. Ich mag dieses auf der Rasierklinge Schreiben“), aber zeigt auch, warum er Kolumnen für die Bild schreibt (“Sie schreiben 'Liebes Mobbing-Mädchen‘ an eine Schülerin, die sich getötet hat… “ – Wagner: “Sind Sie von der SZ oder von der Sprachpolizei?“)
+++ Deniz Yücel kritisiert in der Welt Spiegel-Autor Martin Doerry für seinen Text über Marie Sophie Hingst, die ihm, Yücel, täglich eine Postkarte ins Gefängnis geschickt habe: “diese Unerbittlichkeit im letzten Detail, dieser Furor, der auch jene Dinge nicht ausließ, die nichts mit der Enthüllung einer Lügenstory zu tun hatten, dieses Ausblenden von Widersprüchlichkeiten und Zwischentönen bei einem Menschen, der allenfalls am Rande eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens war, dieses Anpassen von Begebenheiten an ein in sich schlüssiges, aber eben auch fragwürdiges Gesamtbild – nein, das wäre nicht notwendig gewesen.“
+++ “Nichts ist so drückend wie die Kuhstallwärme der Gesinnungsgemeinschaft. Wenn es einen Grund gibt, warum ich bei der Linken Reißaus genommen habe, dann dieser Hang, sich ständig gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, wie widerständig man doch denke“, schrieb Jan Fleischhauer in seiner letzten Spiegel-Online-Kolumne. Nun, beim Focus, schreibt er, damit es im neuen Kuhstall schön warm bleibt, gleich mal über die “Ökodiktatur“. Das ist schon ein bisschen witzig.
Neues Altpapier gibt’s am Dienstag.