Das Altpapier am 07. August 2019 “Members of the press, what the fuck?!“
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Politiker der Demokraten in den USA sind wütend ob der Naivität und “Feigheit“ von Journalisten in ihrem Land. Und manche Redakteure der New York Times sind es wegen einer “ungeheuerlichen“ Überschrift in ihrer Zeitung. Ein Altpapier von René Martens.
“Der Fall Buschmann“ lautet die Spitzmarke eines aktuellen Übermedien-Artikels, und gemeint ist damit der Spiegel-Redakteur Rafael Buschmann. Man könnte angesichts der Dimension, die die Sache angenommen hat, mittlerweile auch fast schon von einem “Fall Spiegel“ sprechen. Es geht in diesem Nachdreher Stefan Niggemeiers um einen unter anderem in der vergangenen Woche im Altpapier bereits thematisierten vermeintlichen Wettbetrugsfall, über den Buschmann 2014 berichtet hatte. Niggemeier schreibt nun:
“Obwohl viele Argumente, Indizien und Belege gegen die Spiegel-Geschichte sprechen, hält das Nachrichtenmagazin seit über fünf Jahren an ihr fest, ohne je zu erklären, warum (…) Ich habe in den vergangenen Wochen mit vielen Kollegen Buschmanns über das Thema gesprochen. Keiner konnte mir erklären, warum der Spiegel diese Geschichte seit fünf Jahren verteidigt, obwohl alles dafür spricht, dass sie falsch ist. Keiner konnte mir erklären, warum der Spiegel ihren Autor zum Investigativchef machen will, obwohl eine Reihe von Redakteuren, die mit ihm zusammengearbeitet haben, seine Arbeitsweise problematisch finden und einige, so sieht es zumindest aus, lieber das Team verlassen, als unter ihm zu arbeiten.“
Niggemeiers Fazit:
“Die ganzen Vorgänge wären zu jedem Zeitpunkt zweifelhaft gewesen, aber wie kann der Spiegel auch nach dem Relotius-Skandal noch glauben, mit (seiner) Vernebelungstaktik durchzukommen?“
Die Bredouille, in die der Spiegel steckt: Buschmann war beteiligt an den Recherchen zur “Sommermärchen-Affäre“, für die ein Spiegel-Team 2015 den Nannen-Preis bekam, und ohne ihn hätte es die Berichterstattung zu den Football Leaks vielleicht nie gegeben (der der Spiegel einiges an Reputation verdankt). Denn: Buschmann war die Kontaktperson zum Whistleblower. Er war außerdem (gemeinsam mit Michael Wulzinger) Autor zweier Football-Leaks-Bücher, auf denen das Spiegel-Logo prangt. All diese Erfolge und Leistungen würden, vermutlich zu Unrecht, in Mitleidenschaft gezogen, wenn - immer vorausgesetzt, dass Niggemeier Recht hat - der Verlag nun zugäbe, dass bei einem anderen Artikel Buschmanns etwas Entscheidendes nicht stimmt. Andererseits: In manchen Kreisen dürfte das Gesamtwerk Buschmanns angesichts der Debatte, die Übermedien ausgelöst hat, schon jetzt anders gesehen werden als vorher.
Feiger Journalismus
Jeff Jarvis - long time no read! - hat sich bei Medium mit einem Wutausbruch des demokratischen Politikers Beto O’Rourke befasst, mit dem dieser auf eine TV-Reporterin reagierte, die ihn angesichts des rassistisch motivierten Massenmords in El Paso (Altpapier) gefragt hatte: “Is there anything in your mind the President can do to make this better?“ O’Rourke dazu:
“What do you think? You know the shit he’s been saying. He’s been calling Mexican immigrants rapists. I don’t know, members of the press, what the fuck? [Reporter tries to interrupt.] Hold on a second. You know, it’s these questions that you know the answers to. I mean, connect the dots about what he’s been doing in this country. He’s not tolerating racism; he’s promoting racism. He’s not tolerating violence; he’s inciting racism and violence in this country…. I don’t know what kind of question that is.“
Andere US-Medien haben dieses Zitat ebenfalls aufgegriffen, etwa Mother Jones, das auch den entsprechenden Ausschnitt des Senders Channel 4 News parat hat.
Jarvis fühlt sich von O’Rourke zu folgendem weitergehenden Ratschlag an Journalisten animiert:
“Stop getting other people to say what you should. It’s a journalistic trick as old as pencils: Asking someone else about racism so you don’t have to say it yourself.“
Kleiner Exkurs: “Stop getting other people to say what you should“ - das sollte für jede Art der Berichterstattung gelten. Allzu oft sind Politiker*innen und vor allem (sogenannte) Expert*innen ja bloß O-Ton-Lieferant*innen, sie sagen das, was auch die ihn befragenden Journalist*innen sagen könnten bzw. wissen.
In einem Interview mit CNN bzw. bei Twitter legt O’Rourke in Sachen Trump noch mal nach:
“You cannot leave it up to me. Members of the press: You too have to call him out for being the most racist president since Andrew Johnson.“
Und was war Johnson noch mal für ein Vogel? Siehe dazu Die Welt vor rund einem halben Jahr.
“Unusual times, indeed, when politicians know better how to do journalism than too many journalists“,
meint Jarvis dann auch noch - und erwähnt in dem Kontext einen Ratschlag von O’Rourkes Parteikollegin Alexandria Ocasio-Cortez. Journalisten dürften rassistische Positionen nicht dadurch adeln, sie zum Teil eines “Konflikts” oder einer “Debatte” zu erklären, schreibt sie in einem Twitter-Thread.
Zu einem der großen Themen der aktuellen US-Medienkritik äußert sich Ocasio-Cortez auch. Gemeint ist die New-York-Times-Überschrift “Trump urges unity vs. racism” - also eine Headline ungefähr auf dem Niveau von “Pyromane gegen Pyromanie“.
“Let this front page serve as a reminder of how white supremacy is aided by - and often relies upon - the cowardice of mainstream institutions“,
schreibt Ocasio-Cortez.
Ist ihre Kritik an der Feigheit übertragbar auf deutsche Verhältnisse? Um mal ein aktuelles Beispiel ins Spiel zu bringen: Wenn Dr. Kai Gniffke, einer unser öffentlich-rechtlichen Spitzendenker, sich in den “Tagesthemen“ weigert, den rassistischen Schalke-04-Oberboss Clemens Tönnies einen Rassisten zu nennen - dann könnte das imho auch etwas mit Feigheit zu tun haben.
Auf Gniffke könnte man übrigens aktuell mit Jeff Jarvis antworten:
“If you prevaricate, refusing to call what you see racism (…), you give license to the public to do the same and give license to the racists (…) to get away with it.“
Jon Allsop (Columbia Journalism Review) schreibt, die Überschrift “Trump urges unity vs. racism” sei
“particularly egregious, and quickly attracted fierce backlash online. (The Times changed the headline for its second edition, but ‚Assailing hate but not guns‘ isn’t much of an improvement.) Early this morning, the top headline at the Times online was still crediting Trump with 'condemning bigotry‘; the subhead parroted Trump’s argument that 'video games and mental health‘ are to blame for shootings, without pointing out that that isn’t true. 'I have never received more texts from furious NYT reporters/writers than I have tonight,‘ Yashar Ali, a freelance journalist, tweeted. 'They feel like their hard work is being sullied by a horrible headline (…)‘“
Allerdings:
“The Times wasn’t the only offender: numerous headlines and story openers quoted Trump’s words without any effort at context. A prominent Washington Post headline asked, 'Trump says white supremacy and sinister ideologies ‘must be defeated.’ Will he lead the way?’”
An dieser Stelle zitiert Autor Alssop dann Beto O’Rourkes oben erwähnten Tadel “Members of the press, what the fuck?! It’s these questions that you know the answers to”.
In einem weiteren Columbia-Journalism-Review-Artikel geht es um die redaktionsstrukturellen Gründe und Hintergründe, die zu der komplett misslungenen Headline beigetragen haben könnten:
“There was a time when A1 of The New York Times was one of the most scrutinized parcels of journalistic real estate on earth; the process of choosing each word and image that appeared on it defined the daily rhythm of the entire news organization. But the old ‚Page One meeting,‘ in which the executive editor would hear pitches for the front page from various desk editors, was discontinued in 2015, and—in an effort to reorient the newsroom away from print and to its digital platforms—the entire function of producing papers was placed in a separate department.“
Geschichtsvergessener Journalismus
Günter Bannas, der langjährige Politikchef der FAZ in Bonn und Berlin, der 2018 in Pension gegangen ist (Altpapier), hat für Die Politische Meinung, eine Zeitschrift der Konrad-Adenauer-Stiftung, einen Artikel geschrieben, den sich zu Gemüte führen sollte, wer mal wieder darüber zu schreiben gedenkt, dass die politischen Debatten aus den Fugen geraten bzw. heute härter und heftiger seien als wann auch immer. Bannas schreibt in dem von newsroom.de republizierten Beitrag:
“Längst vorbei und fast schon vergessen sind die Jahre, als sich bei Wahlen zum Bundestag und zu den Landtagen zwei Lager gegenüberstanden und bekämpften. 'Lagerwahlkampf‘ hieß das zu Zeiten Helmut Kohls. 'Freiheit statt Sozialismus‘ war ein Wahlkampfmotto der Unionsparteien zur Bundestagswahl 1976, als 'Sozialismus‘ mit Sowjetunion und DDR und den Unterdrückungssystemen dort gleichgesetzt wurde. Über die Ostverträge und über ‘Hessische Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre’ (in der Bildungspolitik) wurde gestritten, als ob es um den Bestand von Demokratie und Freiheit in der Bundesrepublik gehe.“
Man vernimmt hier den Wunsch, dass die heutigen Politikberichterstatter sich gewisse Kenntnisse zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aneignen. Bannas weiter:
“Dermaßen in Vergessenheit geraten ist jene Zeit in den 1970er-Jahren, dass in Politik und Medien heutzutage Begriffe verwendet werden, die einer entpolitisierenden Verharmlosung ihrer Ursprünge gleichkommen. Gibt es in einer Partei – gleich welcher – Bestrebungen, eine Führung abzuwählen, ist von 'Putsch‘ die Rede. Gibt es in einer Partei – wiederum gleich welcher – eine Führung, die ihren Auftrag mit harter Hand durchsetzen will, gar von 'Stalinismus‘. So als ob die Benutzer dieser Termini gedankenlos nicht wüssten, was ein Putsch wirklich ist und welche Verbrechen sich Stalin hatte zuschulden kommen lassen.“
Dass Journalisten bei irgendwelchen parteifolkloristischen Phänomen gern mal die Formulierung “Putsch“ zur Hand haben, hat natürlich auch damit zu tun, dass sie so stolz sind auf ihr Wissen über irgendwelche, sich womöglich “hinter den Kulissen“ abspielenden Querelen. In diesem Kontext sei noch einmal ein Altpapier aus der vergangenen Woche empfohlen.
Altpapierkorb (#dichterdran, “Grundschulverbot“, Anti-Bild-Zeitungs-Song, mehr Kritik am Spiegel, “der Donald Trump der Oberstudienräte“, Recht auf Vergessenwerden, “Shooting the Mafia“, 20.20)
+++ Wie es sich liest, “wenn Frauen über Autoren schreiben, wie sonst nur Männer über Autorinnen schreiben“, rekapituliert watson.ch. Es geht um unter dem Hashtag #dichterdran zu findende Miniaturen wie diese (“Richard David Precht pustet sich kapriziös eine kecke Haarsträhne aus dem Gesicht, schlägt grazil die in modischen Satinshorts steckenden schlanken Beine übereinander und …“) Ausgangspunkt von #dichterdran ist eine von Sexismus nicht freie Rezension im Tages-Anzeiger, die die freie Journalistin Nadia Brügger kritisiert hatte.
+++ “Nicht 16,4 Prozent der Einschulkinder in Duisburg sprechen kein Deutsch, sondern 16,4 Prozent der Kinder, die einen Migrationshintergrund haben. In absoluten Zahlen handelt es sich um 345 von 4.433 Kindern, also 7,8 Prozent“ - hier dröselt Christopher Lauer auf der Seite des Podcasts Lauer und Wehner auf, dass der CDU-Politiker Carsten Linnemann nicht in der Lage ist, Statistiken richtig zu lesen. Was sich Linnemann allerdings nicht nachsagen lässt: Dass er in jenem Interview mit der Rheinischen Post, in dem er falsche Zahlen präsentierte, ein “Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können“, forderte. Dies hätten zahlreiche Medien falsch von der dpa übernommen, berichtet der “Faktenfinder“ der “Tagesschau“.
+++ Kritik am Spiegel hat in dieser Kolumne in der vergangenen Woche einigen Raum eingenommen (etwa hier) und auch heute weiter oben, bisher noch kein Thema war an dieser Stelle dagegen bisher das epochal bekloppte Cover der aktuellen Ausgabe des Magazins Spiegel Geschichte (siehe u.a. Deutschlandfunk, Welt am Sonntag). Aktuell schreibt die RBB-Hörfunkredakteurin Gabriela Hermer für die Jüdische Allgemeine darüber - und holt dabei etwas weiter aus: “Nach zehn Jahren Israel sehnte ich mich zurück nach Roggenbrot und Herbstblättern, nach der vertrauten Sprache und meinen Freunden. Ich ging nach Berlin. Hier, hoffte ich, könnte ich in der Multikulti‐Großstadtszene abtauchen. Endlich eine von vielen sein, ohne ständig auf meine Herkunft reduziert zu werden. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Doch spätestens seit Veröffentlichung der jüngsten Spiegel-Geschichte-Ausgabe ist meine Hoffnung in ein tiefes Koma gefallen. Das Cover der Ausgabe zeigt zwei ärmliche Juden mit langen Bärten, Schläfenlocken und Kopfbedeckung. Die Illustration erinnert an ein ganz anderes deutsches Blatt aus der Vergangenheit. Dazu die Überschrift: "Jüdisches Leben in Deutschland – Die unbekannte Welt nebenan.“ Das Titelblatt sei “keine Provokation, auch keine Anregung zur Diskussion“, sondern “hochgradig diskriminierend und bedient alte, wie ich dachte, längst überwundene antisemitische Klischees“.
+++ Alexander Nabert (taz) kritisiert einen Anti-Bild-Zeitungs-Song von “extra 3“ als “unkreativ, peinlich, platt und ja, stumpf“, ohne dabei zu erwähnen, dass er bereits ein Jahr alt ist. In diese pop-kritische Debatte will ich mich ja gar nicht einmischen, nehme sie aber gern zum Anlass, darauf hinzuweisen: Das beste “extra 3“-Lied bleibt die "Hamburg, meine Perle"-Umdichtung von 2013.
+++ Der frühere Titanic-Chefredakteur Tim Wolff ist hart im Nehmen, jedenfalls liest er, was Harry Martenstein so schreibt, also “der Donald Trump der Oberstudienräte“. So lautet jedenfalls die Überschrift von Wolffs aktueller Kolumne fürs Neue Deutschland.
+++ Die FAZ schreibt auf ihrer Literatur- und Sachbuchseite über Kate Eichhorns Buch “The End of Forgetting. Growing Up with Social Media“: “Das Erwachsenwerden im digitalen Zeitalter werde erschwert, weil die sozialen Medien es nicht zuließen, mit Teilen der eigenen Vergangenheit abzuschließen, meint Eichhorn, das soziale Netzwerk werde 'immer mit einem umziehen‘. Für Eichhorn ist das Erwachsenwerden ein Zusammenspiel von Wissen und Erfahrungen, aber auch von aktivem Vergessen. Sie spricht von einem 'Recht zu vergessen‘ sowie einem 'Recht auf Vergessenwerden‘, das die sozialen Medien ihren Nutzern durch die Massendokumentation entziehen.“ Siehe auch NZZ.
+++ Ebenfalls in der FAZ: eine Rezension der in der ARD zu sehenden Dokumentation “Shooting the Mafia“, in der die britische Filmemacherin Kim Longinotto die heute 84-jährige Fotografin Letizia Battaglia porträtiert: “Der Film erzählt die Emanzipationsgeschichte dieser Frau nach, die sich den Respekt ihrer mehrheitlich männlichen Kollegen hart erarbeiten muste. Der Schmerz, mit dem sie bei ihren Einsätzen konfrontiert gewesen war, ließ sie nicht unberührt. In einem Interview mit der New York Times von 2001 merkte sie an, dass sie ihr Werk als 'bewegliches Leichenschauhaus‘ empfinde, es sei voller 'Tränen und Blut.‘“ Der Tagesspiegel bespricht den Film auch.
+++ Über die erste Ausgabe des mit Blick auf die Olympischen Spiele 2020 konzipierten Magazins 20.20 (siehe Altpapier) schreibt nun auch Cordt Schnibben (Übermedien): “Die große Leistung des Magazins 20.20: Wer sich einlässt auf die 20 Stories über Menschen, die den Kampf gegen sich und für ihren Traum aufgenommen haben, kann diesen Zauber spüren, der jedem Fernsehzuschauer verborgen bleibt.“
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.