Das Altpapier am 01. August 2019 Digitales Lagerfeuerpotenzial

Was es braucht, um Unterhaltungsfernseh-Zyniker schwachwerden zu lassen. Warum die Frage “Muss die Presse die Herkunft eines Täters nennen?“ falsch gestellt ist. Sind Nachrichtenportale so verzweifelt, dass sie ihre Leser für Klicks bezahlen? Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Ein in dieser Kolumne tendenziell eher unterrepräsentiertes Thema ist wahrscheinlich die Unterhaltung in der deutschen Privatfernseh-Landschaft. Aber wann, wenn nicht heute, würde es sich anbieten, etwas in dieser Region herum zu lavieren: Heute sendet ProSieben das Finale des “Gesangsshow-Ratespiel-Mummenschanzes“ (Anja Rützel bei SpOn) “The Masked Singer“.

Auch die hiesige Variante der koreanischen Show sei “völlig plemplem, gnadenlos überdreht - und toll“, schrieb die SpOn-Kritikerin nach der ersten Sendung. Kurz für alle, die den Wahnsinn nicht verfolgt haben: In Kostümen bis zur Unkenntlichkeit vermummte Promis singen um die Wette. In jeder Folge scheidet jemand aus und muss dann die Maske fallenlassen. Die Show habe “echtes Digitales-Lagerfeuerpotenzial, das über die bloße Lästergemeinschaft bei Trash-Formaten hinausgeht“, fand Rützel. Und das sei “heute ein seltenes Gut“. Dabei bleibe allerdings zu hoffen

“dass die Show ihre guten Anlagen nicht durch ein allzu inzestuös aus typischem Senderpersonal zusammengecastetes Ensemble verramscht. Dann kann 'The Masked Singer‘ wirklich wertiger Wahnsinn sein, eine sonst schlimm vernachlässigte Unterhaltungsfarbe.“

Bisher hat sich diese Befürchtung teilweise bewahrheitet. Der Effekt nach den Demaskierungen bewege sich eher auf dem Level der Freude über “Papas alte Socken“, vor allem in jüngeren Zielgruppen, spöttelt Philipp Walulis auf seinem Youtube-Kanal “Walulis sieht fern“. So kamen bisher z.B. die Schauspielerin Susan Sideropoulos, die Volksmusikerin Stefanie Hertel und der Schauspieler Heinz Hoernig zum Vorschein.

Audiovisuelles Suchtmittel

Zwar klinge das Grundkonzept des Formats noch seltsamer als bisherige “Promi-Recycling-Shows“ des Senders wie “Völkerball“ oder “Die Alm“. Pro7 habe mit der Show aber das “perfekte audiovisuelle Suchtmittel“ importiert, findet Walulis.

Als vier Faktoren, die die Sendung so erfolgreich machen identifiziert er: Den Schauwert der irren, aufwändigen Kostüme. Die durch kleine Marotten der jeweiligen Charaktere forcierte Figurenbindung (der Kakadu, der alles nachplappert, das Eichhörnchen, das hinter der Bühne Nüsse nascht oder der Astronaut, der sie auch nach dem Auftritt noch wie in der Schwerelosigkeit bewegt). Die Curiosity Gap (Nicht-Marketings-Sprech: Lücke der Neugier) durch die Nutzer:innen unbedingt mehr wissen wollen, weil ihnen Infos vorenthalten werden. Und Pro7 spiele trotz vieler C-Promi-Demaskierungen mit der Hoffnung der Zuschauer:innen: Durch kleine Tipps und Prognosen der Jury werde die Erwartung hochgehalten, dass sich unter einem der Kostüme doch noch eine Sensation verberge, jemand, mit der oder dem auch jüngere Zuschauer mehr anfangen könnten als eben mit bereits erwähnter Fußbekleidung. In der koreanischen Version der Show verbarg sich unter einem der Kostüme z.B. überraschenderweise der US-Schauspieler Ryan Reynolds.

Beim Tagesspiegel zeigt sich Jan Freitag überrascht von dem Erfolg und Unterhaltungsfaktor des Formats und sieht sich genötigt, Abbitte zu leisten für seine erste Einschätzung. Der Ehrgeiz, “Prominente und solche, die es gerne wären, ulkig verkleidet in einen Gesangswettbewerb zu schicken“ sei ihm vor der ersten Live-Sendung als “zu berechnend für größere Resonanz“ erschienen, “von Relevanz ganz zu schweigen“. Der Erfolg habe ihn sein vorschnelles Urteil nochmal überdenken lassen:

“Die Einschaltquote nämlich tat etwas, das die Branche seit Jahren nur ausnahmsweise mal erlebt: statt von Beginn an zu sinken, stieg sie Folge für Folge auf mittlerweile mehr als drei Millionen Zuschauer. Allein in der ominösen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen dürfte der Anteil heute die 30 Prozent knacken. Ein Riesenerfolg. Und kein unverdienter.“

Nun ist die Quote nicht unbedingt der einzige Gradmesser für gutes Fernsehen (wobei man über diesen Ausdruck ebenfalls lange diskutieren kann). Aber Freitag sieht in der Show vor allem auch noch etwas Anderes:

“Die gut zwei Stunden durchzieht bisweilen eine Leidenschaft, von der sich das öffentlich-rechtliche Unterhaltungsprogramm ein paar Scheiben an die LED-Wände kleben darf. Es macht einfach Spaß, dieser Maskerade beizuwohnen.“

Und sogar die FAZ rang sich vergangene Woche Prädikate wie “wunderbar originell“ und “seltener Glücksfall“ ab, als Harald Staun einräumte, es werde “sogar die größten Zyniker schwach, wenn ein sehr eleganter Unbekannter mit Insektenaugen und goldenen Fühlern auf dem Kopf eine unwiderstehliche Version des Imagine-Dragons-Hits 'Believer‘ auf die Bühne bringt.“

Falsche Frage

So, Hardcut zu einem ganz anderen Ende des Altpapier-Spektrums, dem journalistischen Berufsethos. Vielleicht hängt Ihnen die Richtlinie 12.1 im Pressekodex mittlerweile zum Halse heraus. Hier kommt er dennoch der Vollständigkeit halber nochmal:

“In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Im Zusammenhang mit der Tötung eines Achtjährigen am Montag am Frankfurter Hbf wird die Frage, ob die Herkunft von Verdächtigen in der Berichterstattung genannt werden muss, aktuell unter Journos wieder hitzig diskutiert (auch im Altpapier gestern und vorgestern angeschnitten). Das Spektrum reicht von

“Warum es wichtig ist, die Herkunft des Täters zu nennen“ (Jannik Wilk im Cicero)

bis

 “Die Frage, um die es geht ist aus meiner Sicht: Steckt dahinter einer Struktur, die man erklären kann aus einer Herkunft und die war nach all dem was wir bisher wissen hier gar nicht gegeben.“ (Medienjournalist Michael Meyer im SR)

Eine weitere Frage dürfte bei der Diskussion allerdings etwas mehr in den Vordergrund gerückt werden: Wer entscheidet denn, ob solche Informationen publik werden oder nicht? Vor 20 Jahren mögen das noch Journalist:innen gewesen sein. Heute haben wir diese Gatekeeper-Funktion aber doch längst abgegeben (jedenfalls bei der Berichterstattung über Straftaten) oder teilen sie zumindest mit Augenzeugen, die twittern oder sonst wo posten, der Polizei, Bloggern und Influencerinnen.

Mittlerweile wissen wir auch, dass nach jeder Straf- oder Gewalttat, bei der ein Mensch verdächtigt wird, bei dem auch nur das kleinste Gedankenfitzelchen an andere Länder oder Religionen gefunden werden kann, die immer gleichen Erregungsmuster aus der rechten Ecke abgespult werden: gezielte Emotionalisierung, Polarisierung, Verallgemeinerung, Rassismus…

Die Frage: “Muss die Presse die Herkunft eines Täters nennen?“ ist deshalb falsch gestellt.  Nein, sie muss es natürlich nicht in jedem Fall, aber sie kann es eben tun. Das soll nicht heißen, dass die Diskussion überflüssig wäre. Eine klare Antwort gibt es auf die Frage was in diesem Fall richtig oder falsch ist allerdings nicht. So schrieben Laura Hertreiter und Tom Soyer bei der Süddeutschen Mitte Juli nach einem anderen Fall:

“Klare Regeln würden die Redaktionsarbeit leichter, das Ergebnis jedoch nicht immer richtiger machen.“

Statt nach einer Deutungshoheit zu suchen sollte die Frage deshalb lauten: “Wie kann die Presse ihre redaktionelle Entscheidung klarer kommunizieren?“ Ich würde dafür plädieren, von Fall zu Fall eine selbstbewusste, redaktionelle Entscheidung zu treffen und diese an offensichtlicher Stelle zu kommunizieren. Nicht irgendwo versteckt in den Weiten des eigenen Online-Angebots (wie z.B. beim WDR), sondern direkt unter der Berichterstattung oder als Kasten mitten drin.

Statt vorauseilenden Gehorsams und Angst vor “Lückenpresse“-Vorwürfen könnte man z.B. direkt erklären, dass die Redaktion zu Herkunft, Religion und was auch immer des Verdächtigen keine Angaben macht, bis es genauere Ermittlungsergebnisse gibt. Andererseits könnte man, statt Informationen auszusparen, aber auch begründen, warum man Angaben zur Herkunft macht und das z.B. nicht rechten Hetzern überlassen will. So heißt es beim Main-Echo z.B.:

“Tatsächlich hat die Herkunft des Mannes mit der Tat nichts zu tun. Allerdings (…) kann eine Tat eine derart ungewöhnliche Dimension haben, dass ein öffentlicher Anspruch auf möglichst umfassende Information auch zum Täter besteht. Diese Dimension ist nach unserem Dafürhalten in diesem Fall gegeben.“

Statt intern zu entscheiden und dann in Journalist:innenkreisen, in separaten Kommentaren oder KGs über richtig und falsch zu diskutieren sollte die Entscheidung direkt in/unter der Berichterstattung transparent gemacht werden. So griffe man Vorwürfen vorweg und würde klar signalisieren: Das ist unsere Entscheidung, das sind unsere Beweggründe, deal with it.

Dazu müssten wir uns allerdings die Zeit nehmen, die Lage vor der ersten schnellen Meldung die erstmal ansatzweise einzuordnen. Und darin liegt wahrscheinlich die größte Herausforderung.

Sie werden gemerkt haben, ich habe hier keine Angaben zur Nationalität des Mannes gemacht. In der Meta-Diskussion sehe ich dadurch keinen Erkenntnisgewinn. Verschiedene Standpunkte zum Thema hat z.B. auch der Mediendienst Integration zusammengetragen.

Altpapierkorb (Böhmermanns Schmähkritik, Hutbürger, bezahlte Klicks)

+++ Das Schmähkritik-Gedicht von Jan Böhmermann bleibt weiterhin verboten, berichtet der Tagesspiegel. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat gestern mitgeteilt, dass er eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen hat. 

+++ Der Hutbürger-Skandal hat auch ein Jahr später nicht für ein “grundsätzliches Umdenken gesorgt oder für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Presse- und Berichterstattungsfreiheit in den Schulungen der Bundespolizei“, kritisiert Steffen Grimberg bei der taz. Er hat sich durch Modulhandbücher und Ausbildungspläne gewühlt.

+++ “Wie kommt es eigentlich, dass politische Verfehlungen so konsequenzlos scheinen? In der Vergangenheit mussten Politiker für weit Geringeres zurücktreten, als wir heute Woche um Woche in der internationalen Presse lesen. Heute passiert über reißerische Überschriften hinaus oft nicht viel“, kommentiert Maria Weisband bei Deutschlandfunks “@mediasres“ mit Blick auf die Trumps und Johnsons dieser Welt. Den Ursprung dessen sieht sie in den 1930er-Jahren.

+++ Digitale Zeitungen und Magazine können bald mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz verkauft werden, berichtet Meedia. Die Zeitschriftenverleger sind aber nicht ganz zufrieden mit dem Beschluss des Bundeskabinetts (ebenfalls Meedia).

+++ Ist es so weit? Müssen Nachrichtenseiten mittlerweile fürs Angeklickt werden bezahlen? fragt Jaqueline Dinser bei der Süddeutschen. Das Nachrichtenportal OE24 experimentiert aktuell mit einer verzweifelt klingenden Strategie: “Die Nutzer kriegen Geld für ihre Klicks. Die Betonung muss dabei auf dem Wort 'Klicks‘ liegen. Denn ob Inhalte tatsächlich gelesen werden, ist zunächst egal.“ Dem Geschäftsführer gehe es aber nach eigener Aussage nicht um frisierte Zahlen.

+++ Zum siebten Mal wurde in diesem Jahr ein:e Journalist:in in Mexiko getötet. Die Leiche von Rogelio Barragán, Leiter des Internetportals Guerrero Al Instante, wurde laut dem österreichischen Standard am Dienstag im Kofferraum eines verlassenen Autos gefunden. Reporter ohne Grenzen stufe Mexiko nach Syrien und Afghanistan als eines der gefährlichsten Länder für Journalist:innen ein. Auch auf der FAZ-Medienseite (leider nicht frei online) gibt es dazu eine ausführliche Analyse.

+++ Wikileaks durfte Mails aus einem Hack gegen die US-Demokraten veröffentlichen. Ein New Yorker Bezirksrichter wies eine Klage des DNC (Democratic National Comittee) ab und entschied zugunsten von Presse- und Meinungsfreiheit, berichtet SpOn.

+++ Die SZ-Redaktion hat ihre Serien-Lieblinge für den August zusammengestellt. Darunter ist auch die siebte und letzte Staffel der Netflix-Serie “Orange is the New Black“, die die Sehgewohnheiten der Nutzer:innen subversiv revolutionierte.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.