Das Altpapier am 22. Juli 2019 Stoppt die Hufeisen-Werfer!
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Die AfD droht dem NDR, und die FAS versucht, sich dem Phänomen Maaßen psychologisch zu nähern. Die erste Kritik an den neuen "Sommerinterviews" von ARD und ZDF ist auch schon da. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
Morddrohungen gegen Journalisten sind zwar leider längst nicht mehr ungewöhnlich. Dass ein Sender Strafanzeige stellt, wenn ein Mitarbeiter entsprechend bedroht wird, dagegen schon. Der WDR sah sich am vergangenen Freitag angesichts einer Morddrohung gegen den "Monitor"-Chef und gelegentlichen "Tagesthemen"-Kommentator Georg Restle dazu veranlasst. Ende der vorvergangenen Woche, am 12. Juli, war aus der üblichen Hassprediger-Ecke bereits eine Pöbel-Welle gegen Restle losgebrochen.
Laura Hertreiter rekapituliert in der SZ, dass die WDR-Sendung "Aktuelle Stunde" berichtet habe, Restle habe "am Donnerstag per Mail ein Drohschreiben" bekommen, "das 'Begriffe aus dem rechtsextremen Spektrum' enthalten habe sowie Begriffe, 'die schon für sich strafrechtlich relevant sind'".
Hertreiter schreibt weiter:
"Es sei nicht ausgeschlossen, dass es sich um denselben Absender handle, der bereits Morddrohungen an die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und den Altenaer Bürgermeister Andreas Holstein verschickte. Ob der WDR Anzeige gegen unbekannt oder eine bestimmte Person gestellt hat, wurde zunächst nicht bekannt. Aber der Sender ließ keine Gelegenheit ungenutzt, klar Position zu beziehen (…) Intendant Tom Buhrow gab zu Protokoll: 'Dass es eine Morddrohung gegen einen unserer Journalisten gibt, entsetzt und erschüttert mich. Georg Restle ist ein ausgezeichneter investigativer Journalist, der die politische Landschaft in Deutschland kritisch begleitet.'"
Der Kommentar der SZ-Medienressortchefin dazu:
"Wie unzählige Male zuvor hat die AfD damit das bekannte Dilemma heraufbeschworen: Dagegenhalten, für die eigenen Werte einstehen? Oder ignorieren, um die Aufmerksamkeit nicht noch zu mehren? Der WDR hat sich diesmal für ersteres entschieden."
In anderen Zeitungsberichten (Welt,Tagesspiegel) fehlt eine Einschätzung, die Verfasser rocken lediglich das Agenturmaterial runter. Der BR-Hörfunkkanal B5 ordnet in seinem "Medienmagazin" die Morddrohung gegen Restle dagegen in einen größeren Kontext ein. Mehrere Journalisten, die solche Bedrohungen aus eigener Erfahrung kennen, äußern sich in dem Beitrag, etwa Andrea Röpke und Hanning Voigts. Aber:
"Längst nicht alle Journalistinnen und Journalisten gehen so offen mit Einschüchterungsversuchen um. Unter der Bedingung, anonym zu bleiben, berichteten mehrere Lokalreporter dem BR von massiven Bedrohungen, denen sie jeden Tag ausgesetzt sind. Einer von ihnen erhielt bereits Todesanzeigen mit Namen und Fotos sowie klaren Anspielungen auf den Holocaust. Beim Umzug in ein neues Redaktionsgebäude überprüfte er zuallererst die Fenster – aus Angst vor Angriffen. Zum eigenen Schutz habe die Redaktion deswegen Überwachungskameras installiert."
Was die AfD nicht will
Neues zur Medienstrategie der AfD hat der NDR zu berichten: Laut der Nachrichtenwelle NDR Info hat ein Pressesprecher der Partei dem Sender mit juristischen Schritten gedroht, falls dieser darüber berichtet, dass eine Mitarbeiterin der AfD-Landtagsfraktion in Niedersachsen bei den "Identitären" mitmischt. "Vom NDR unter anderem mit der Frage konfrontiert, ob man angesichts der jüngsten Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über eine Trennung von der Mitarbeiterin zumindest nachdenke", habe der Sprecher indes nicht geantwortet, berichtet Stefan Schölermann.
In einem Interview mit einem Funke-Mediengruppenmenschen hat Jörg Meuthen gerade ein lustiges Märchen zum Thema IB verkaufen können ("Wir haben mit denen nichts gemein, und wir halten maximale Distanz"), vielleicht hat der Parteisprecher also so, sagen wir mal: unprofessionell reagiert, weil sich dieses Meuthensche Narrativ nun nicht mehr so gut an den Mann und die Frau bringen lässt.
Dass Schölermanns Kommentar zu dem Thema überschrieben ist mit "Identitäre: AfD lässt die bürgerliche Maske fallen", ist natürlich ein Brüller. Abgesehen davon, dass ungefähr schon seit 2016 immer mal wieder irgendjemand diese "Maske fallen" sieht: Es bedurfte ja schon einer recht beachtlichen Phantasie, vorher diese "Maske" wahrzunehmen.
Teilweise in einem auf andere Zielgruppen ausgerichteten Sound ("Drohung an den NDR: Die AfD will nicht, dass du diese Meldung erfährst") greift Thomas Laschyk für den Volksverpetzer das Thema auf - und nimmt das zum Anlass, auf die vielfältigen "personellen Überschneidungen" zwischen AfD und IB hinzuweisen (siehe auch Tagesspiegel neulich).
Hansi auf der Suche?
Unter der Headline "Protokoll einer Radikalisierung" versucht Anne Prizkau in der FAS (Blendle-Link), sich dem, tja, Phänomen Hansi Maaßen psychologisch zu nähern:
"Schon vor drei Jahren sprach er von radikalisierten Männern, da ging es noch um Salafisten – um junge, um migrantische. Wenn man diese zwei Wörter in seinen Sätzen aber ändert, dann hat man auch eine Erklärung, wie Hans-Georg Maaßen zu Hashtag-Westfernsehen-Maaßen wurde: 'Vor allem *alte* Männer sind gefährdet. Sie sind orientierungslos, oft *ohne* muslimischen Migrationshintergrund, auf der Suche nach ihrer Stellung in der Gesellschaft.' Ja, er sagte selbstverständlich nicht 'alte', sondern 'junge' Männer, und 'mit' Migrationsstory, nicht 'ohne', doch etwas anders und im Jetzt klingt das wie eine Prophezeiung. Denn so ist es geschehen: Der Meinungsmensch Hans-Georg Maaßen fühlt sich in der Gesellschaft offensichtlich auch verloren, das weiß man, wenn man liest, was er auf Twitter teilt und meint."
Ein anderes (noch älteres) Zitat, das Prizkau bringt:
"'Es hat nichts mit Gesinnungsschnüffelei zu tun, wenn jemand in seinem Umfeld augenfällige Veränderungen feststellt und sie auch meldet. (...) Das ist Bürger-Engagement, auch um den Betroffenen zu helfen.' Das sagte Maaßen vor sechs Jahren, es ging um Salafisten, selbstverständlich. Vielleicht war es aber auch ein prophetischer Hilferuf."
Das ist gewiss eine reizvolle, aber letztlich dann doch kontraproduktive Spielerei, denn sie lenkt davon ab, dass Maaßen ideologisch schon immer dort war, wo er jetzt angekommen zu sein scheint. Dass Hansi, der Supertroll, den Beinamen "Hashtag-Westfernsehen-Maaßen" (siehe unter anderem dieses Altpapier) gar nicht unbedingt verdient hat, weil sein Ex-Parteibuddy Alexander Gauland (CDU-Mitglied von 1973 bis 2013) bereits 2018 gesagt hat, "die Schweizer Zeitungen" seien "das neue Westfernsehen" - darauf verweist die WoZ in ihrer aktuellen Ausgabe in einem Artikel über die "AfD-Gouvernante" NZZ.
Der tödliche Mittelweg
Ein derzeit beliebtes Phänomen im Journalismus ist das Hufeisenschmeißen. Die Werfer werden nach dem Motto "Aber die Linken!" nicht müde zu betonen, dass man sich von Radikalen aller Art distanzieren müsse - und die vermeintliche "Mitte" zwischen den "Extremen" die einzig akzeptable Position sei. Des Hufeisenwerfens mächtig ist auch der Spiegel-Online-Autor Peter Maxwill, wie er in einem aktuellen Riemen beweist, der wiederum den Blog Überschaubare Relevanz zu einer feurigen Replik animiert hat, in dem es unter anderem heißt:
"Wir haben es (…) mit der Zentristen-Untergattung des Debattier-Bros zu tun, der uns jetzt gleich erklären wird, dass Extremisten GlEiCh WeLcHeR aUsRiChTuNg schlimm sind."
Eine Perle aus Maxwills Text:
"Natürlich muss niemand mit gewaltbereiten Rassisten plaudern oder vermummte Steinewerfer auf Podien einladen."
Die Überschaubare Relevanz dazu:
"Für alle, die es noch klarer brauchen, fasst Herr Maxwill das ganze Elend seiner Position in einem Absatz zusammen, der aus zwei Sätzen besteht (…) Wir sehen hier sehr schön noch mal das Hufeisen, das bei Leuten wie ihm nach und nach das politische Urteilsvermögen ersetzt. Niemals darf irgendwo der Eindruck entstehen, dass Nazis vielleicht ein größeres Problem sein könnten als Leute, die gegen Nazis kämpfen."
Man fragt sich darüber hinaus, auf welchen "Podien" Maxwill denn Autonome hat sitzen sehen. Maxwill weiter:
"Aber ist es zu viel verlangt, einem halbwegs zivilisierten Gegenüber erst mal zuzuhören und gegebenenfalls sachlich zu widersprechen?"
Das Problem in den aktuellen Debatten sind für Maxwill der Tonfall und die Lautstärke, und nicht etwa die Forderungen, die dort laut werden. Die Überschaubare Relevanz dazu:
"Satz zwei zeigt noch mal sehr schön die völlig unreflektierte bräsige Privilegiertheit, die aus diesem ganzen Text trieft (…) Ist euch aufgefallen, worum es ihm geht? Solange das Gegenüber 'zivilisiert' ist, hat 1 zuzuhören und 'sachlich zu widersprechen'. Tone Policing ist übrigens ein sehr altes, sehr abgenutztes, und sehr ekliges Unterdrückungsinstrument, Herr Maxwill, und es wird nicht besser, wenn Sie es unter dem Deckmantel der Rettung der Demokratie ins Spiel bringen, denn es wird immer unter dem Deckmantel der Rettung der bestehenden Ordnung ins Spiel gebracht, das ist sein Trick."
Das Sprichwort "In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod" ist ja nun auch schon rund 400 Jahre alt, aber Peter Maxwill hat es vielleicht noch nie gehört. Damit steht er als Journalist ja nicht alleine da.
Die Langeweile ist zurück
Leute, ’s ist wieder Sommerinterview-Besprechungszeit! Thema im Altpapier war das "langweilige und antiquierte" (Lutz Hachmeister 2017) Format Sommerinterview im vergangenen Jahr zum Beispiel hier. Die Sendungen des gestrigen Sonntags bespricht nun Hans Hütt für die FAZ. Seine Beschreibung des ARD-Interviews mit dem FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner ist so hübsch geraten, dass man beinahe dazu geneigt ist, dieses Format dann doch wieder zu rechtfertigen:
"Tina Hassel bemüht im Gespräch mit (…) Lindner das Bild der vergangenen Woche: die Bundeskanzlerin, die frisch gewählte Präsidentin der Europäischen Kommission und die neue Verteidigungsministerin. Lindner will das nicht kommentieren. Ihm scheint, was Bilder betrifft, die von ihm ausgestellte Muskulatur seines linken Unterschenkels wichtiger als das Posing der Damen in Schloss Bellevue. Er will Kraft zeigen, aber im Leerlauf einer Sitzhaltung, die Orthopäden für schädlich halten. Symbolik scheint Lindner nicht zu interessieren."
Hassel führe das Gespräch "erstaunlich desinteressiert und gelangweilt", konstatiert Hütt. Vielleicht ein Symptom für Hassels Gelangweiltheit:
"Nächste Woche, so beendet Frau Hassel das Gespräch, sei Annalena Bärbach zu Gast. Zuvor nannte sie die FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberger. Eine Korrektur der Namen schien der ARD entbehrlich. Das ist ein bisschen zu wurstig, um als Format ernst genommen werden zu können."
Die Sportifizierung des Wissenschaftsjournalismus
Die Entscheidung, wer sich künftig "Exzellenz-Uni" nennen darf, ist am Freitag gefallen, aber ein in der vergangenen Woche erschienener Vorbericht aus der SZ verdient an dieser Stelle noch Erwähnung - auf den ich freilich nicht aufmerksam geworden wäre, hätte ihn nicht Stefan Gärtner in seinem "kritischen Sonntagsfrühstück" für die Titanic verarztet. Der SZ-Text geht folgendermaßen los, und Gärtner zitiert’s genüsslich:
"Wolfram Ressel weiß genau, was er am Freitag um 16 Uhr macht. Er wird im Beach-Club stehen, auf der Sandfläche, die Studenten diesen Sommer mitten auf dem Campus Vaihingen aufgeschüttet haben, in der Hand vielleicht einen Cocktail, noch alkoholfrei, um ihn herum ein paar hundert Wissenschaftler und Uni-Mitarbeiter. Und sie alle werden auf die Leinwand starren, auf der die Übertragung aus Bonn läuft (…) Partys, Bier, Public Viewings: Seit drei Jahren läuft das akademische Rennen um Geld, Ruhm und Ehre."
Dass hier jemand die Infantilisierung des Wissenschaftsbetriebs auf affirmativste Art beschreibt - das ist das eine. Dass der in der Online-Version mit "22 Unis spielen um den Elite-Titel" überschriebene Artikel hier und im Folgenden die Fußball-Metaphorik auf eine Weise ausreizt, die sich wohl nicht einmal der visionäre Soziologe und Adorno-Schüler Dieter Bott hat albträumen lassen, als er vor 25 oder vielleicht auch schon 30 Jahren die "Sportifizierung der Gesellschaft" kritisierte - das ist das andere. Eine Auswahl:
"Durch mehrere K.o.-Runden bis hierher geschafft" - "Damit war das Rennen noch nicht zu Ende" - "Es ist ein Wettbewerb, der Emotionen freisetzt" - "Spannung" - "Ausscheiden" - "Wettbewerbsfinale" - "Das 'ExStra'-Finale wird die Universitäten auf Jahre hinaus in eine erste und eine zweite Liga sortieren."
Der Autor Jan-Martin Wiarda war mal stellvertretender Ressortleiter bei der Zeit, und in der Selbstdarstellung in seinem Blog schreibt er:
"Ich will etwas von mir preisgeben, indem ich über die Welt um mich herum nachdenke."
Das ist ihm mit dem zitierten SZ-Artikel durchaus gelungen.
"Man kann nicht nicht konstruieren"
Mit Wirklichkeitskonstruktionen in politischen Reden und journalistischen Texten befasst sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Aufmacher des Gesellschafts-Teils der Wochenend-SZ, der für 79 Cent bei Blendle zu haben ist. Der Autor steigt hier ein mit der Pörksenianern sattsam bekannten Geschichte von dem Studenten, der vorhatte, in einer Vorlesung Pörksens einer Kommilitonin einen Heiratsantrag zu machen (siehe hier und hier), und kommt dann unter anderem zu sprechen auf die Relotius-Debatte sowie das Narrativ, das sich Ursula von der Leyen für ihre Bewerbungsrede im EU-Parlament ausgedacht hat bzw. hat ausdenken lassen. Pörksens Fazit:
"Eines ist gewiss: Man kann - erzählend - nicht nicht konstruieren. Wann aber wird die unvermeidliche Konstruktion endgültig zur manipulativen Inszenierung, die subjektiv aufbereitete Szene und das atmosphärische Detail zum vermeintlichen Beleg des Vorurteils? Wann wird der Sog der Story - vielleicht zunächst unbewusst, nicht einmal mit böser Absicht - zur Irreführung, zuerst zum Selbst- und dann zum Publikumsbetrug? Das ist die Schlüsselfrage auf dem Weg zu neuer Offenheit und echter Neugier."
Eine neue Treuhand-Doku
Am Dienstag ist bei Arte die von Inge Kloepfer und Jobst Knigge gedrehte Dokumentation "D-Mark, Einheit, Vaterland – das schwierige Erbe der Treuhand" zu sehen, beigesteuert vom MDR, bei dem auch das Altpapier erscheint. In der FAS ist anlässlich dessen im Wirtschaftsteil ein zweiseitiges Interview mit einer der Protagonistinnen des Films, der früheren Treuhand-Chefinn Birgit Breuel erschienen.
Bemerkenswert ist das insofern, als die TV-Autorin Kloepfer auch das Interview für die Zeitung geführt hat. "Das Gespräch mit Birgit Breuel entstand im Zusammenhang mit dem Film 'D-Mark, Einheit, Vaterland – das schwierige Erbe der Treuhand'", ist in einem Kasten zu lesen. Dass die Interviewerin Klöpfer selbst Co-Autorin des Films ist, wird hier also immerhin angedeutet. Eine weniger verklausulierte Formulierung als "entstand im Zusammenhang mit" wäre unter Transparenzaspekten allerdings wünschenswert gewesen. So, wie man es hier gelöst hat, wirkt das Interview bloß wie eine redaktionell camouflierte Werbung für die Dokumentation. Ein ähnliches Problem stellt sich mitunter bei Filmen des Rechercheverbunds SZ/NDR/WDR: An einem Film beteiligte Autor*innen schreiben für die Zeitung einen langen Artikel, in dem auf besagten Film hingewiesen wird. Der Text "ersetzt" dann gewissermaßen die Rezension.
Der geradezu kanonische Dokumentarfilm über die Treuhand lief übrigens bereits im vergangenen Jahr im MDR Fernsehen: "Bischofferode - Das Treuhand-Trauma." Er war für den Grimme-Preis nominiert (Disclosure: Ich war Mitglied der Nominierungskommission). Auf YouTube ist "Bischofferode" noch zu sehen.
Altpapierkorb (Zur Lage des kunstwissenschaftlichen Publizierens, die Strategie von Dazn, eine barrierefreie RTL2-Serie)
+++ Am Wochenende fand in München die Tagung "Die Zukunft des kunstwissenschaftlichen Publizierens" statt, bei der der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich einen Vortrag "über mein Selbstverständnis und meine Rolle als 'freier Autor'" hielt, den er in seinem Blog veröffentlicht hat. Ullrich sagt unter anderem: "Auflagen von Büchern werden kleiner, Rezensionen weniger, man wird seltener von Leser*innen kontaktiert. Dafür bekommt man Mails von Studierenden, die ein Referat über ein Buch halten sollen, es aber nicht lesen wollen, sondern darum bitten, dass der Autor ihnen Fragen dazu beantwortet. Für Journalist*innen gilt das noch mehr. Man muss also, je mehr man geschrieben hat, desto öfter darüber reden, hat also gleichsam doppelte Arbeit. Dabei droht das, was man in der schriftlichen Formulierung schon mal auf den Punkt gebracht hatte, in der Rückvermündlichung wieder ungenauer zu werden. Aber es gilt als O-Ton – und das ist meist wichtiger." Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Erstens: Redaktionen halten Interviews für gefälliger als Rezensionen. Zweitens: Redakteure haben immer weniger Zeit für Rezensionen. Und dann ist es natürlich auch günstiger, wenn ein Redakteur jemanden interviewt, der einen Film gedreht oder ein Buch geschrieben hat, als wenn ein freier Journalist den Film oder das Buch rezensiert. Dass der O-Ton die Rezension schlägt, gilt aus anderen Gründen ja auch für das oben gerade erwähnte FAS-Gespräch mit Birgit Breuel.
+++ Dass sich Dazn bis 2021 die Übertragungsrechte für 40 Bundesliga-Spiele gesichert hat, die bisher bei Eurosport lagen, war bereits am Freitag an dieser Stelle Thema. Martin Schneider ordnet das in der Wochenend-SZ folgendermaßen ein: "Nach dem Ende der Champions League im ZDF ist das die nächste große Umwälzung im Milliardenmarkt der Fußballübertragung (…) Hinter Dazn steckt die Perform Group, eine Firma des sowjetischstämmigen US-Amerikaners Leonard Blavatnik, einer der hundert reichsten Menschen der Welt. Mit diesem Kapital kann Dazn Kampfpreise anbieten und auf dem Markt deutlich günstiger agieren als Konkurrent Sky. Gleichzeitig versteht es die Firma wirklich gut, die sogenannte junge Zielgruppe anzusprechen. Deren Medienalltag ist von Diensten wie Netflix und Spotify geprägt, wo man für ungefähr zehn Euro im Monat mehr Filme, Serien oder Musik bekommt, als man konsumieren kann. Ähnliche Maßstäbe legt diese Generation an Livesport oder für Spielhighlights an (…) Die Art der Berichterstattung ist auf Nutzer ausgelegt, die sich zielgerichtet und konzentriert mit Sport beschäftigen wollen, während Sky zunehmend die Boulevardschiene bedient." Bei der Samstags-"Sportschau" der ARD sinkt derweil der Marktanteil der Zielgruppe zwischen 14 und 49 Jahren: "2013 lag der Anteil noch oft über 20 Prozent, in der abgelaufenen Saison schafften nur drei Spieltage diesen Wert."
+++ Apropos "Sportschau": Im Kommentatoren-Team ist jetzt auch endlich eine Frau dabei: Stephanie Baczyk vom RBB. Ihren ersten Einsatz hat sie am ersten August-Wochenende. Der Tagesspiegel berichtet.
+++ Vielfach rezensiert derzeit: die dritte Staffel der spanischen Netflix-Produktion "Haus des Geldes", die die Geschichte einer Gangsterbande erzählt, die in die staatliche Banknotendruckerei eindringt, um dort selbst Geld zu drucken. Besprochen wird sie unter anderem in der FAZ, in der von der bisher "meistgestreamten nicht-englischsprachigen Serie auf Netflix" die Rede ist. Was ist der wesentliche Unterschied zu den ersten beiden Staffeln? Dass es "jetzt politisch wird", wie es in der Überschrift zu Charlottes Optensteinens Spiegel-Online-Rezension heißt. Optensteinen schreibt: "Der stets verschmitzt grinsende Sonnyboy 'Rio' (…) ist gefasst worden, die Behörden verschweigen die Gefangennahme. Offenbar wird er an einem unbekannten Ort gefoltert, einem Richter wird er nicht vorgeführt. Der Rest der Bande stellt sich mit einem Befreiungsplan so auch gegen einen Staat, in dem offenbar rechtsfreie Räume existieren. Der Gauner-Größenwahn ist hier dringend nötig, um sich gegen ein Unrechtssystem aufzulehnen - und erschöpft sich so, im Gegensatz zu den ersten Staffeln, auch weniger in einer Pose, hinter der häufig gar nicht so viel steckte."
+++ Kathrin Müller-Lancé stellt auf der heutigen SZ-Medienseite die neue RTL2-Serie "Falkenberg" vor - weil diese "mithilfe einer App barrierefrei zugänglich" ist. Hintergrund: "Während die öffentlich-rechtlichen Sender teils seit den Achtzigern Untertitel und seit den Neunzigern Hörfassungen für Teile ihres Programms anbieten, ziehen die Privaten schläfrig langsam nach (…) RTL2 ist bislang der einzige Sender der RTL-Gruppe (…), der mit 'Falkenberg' ein Format mit Hörfassung anbietet."
+++ Allemal neugierig machen die Rezensionen, die zu Nina Wesemanns Dokumentarfilm "Kinder" (Arte) erschienen sind. Es geht um "zwei Jungs, zwei Mädchen, Christian, Emine, Arthur und Marie, alle um die zehn Jahre alt, Großstadtkinder auf der Schwelle zur Pubertät", schreibt Thomas Gehringer (Tagesspiegel), der dem Film wohlgesonnen ist: "'Kinder' ist kein pädagogischer Ratgeber- oder Thesenfilm, auf eigene Kommentare verzichtet die Autorin sowieso. Es werden auch keine besonderen Geschichten erzählt, geschweige denn Dramen inszeniert. Wesemann fängt eher die Stimmung dieser vier Kindheiten ein, folgt den Bewegungen der Kinder durch die Stadt, beobachtet ihr Spiel und lauscht ihren Gesprächen. In den von Wesemann ausgewählten Szenen wirken die Kinder jedenfalls unverstellt und nicht wie Schauspieler ihrer selbst." Ganz anders die Tonalität bei Heike Hupertz (FAZ): "'Kinder' hat als Filmessay eine poetische Qualität. Man sieht sein Ziel in jeder Minute. Er will nichts als Zaungast auf Augenhöhe sein. Je länger aber der Film dauert, desto weniger glaubt man ihm die vorgebliche Spontanität und das reine und ungefilterte Beobachten. Die Kinder, allzu deutlich milieusymmetrisch ausgewählt, wirken gecastet. Die Situationen größtenteils inszeniert."
+++ Gestorben ist im Alter von 93 Jahren die Magazinfotografie-Pionierin Ida Wyman, die unter anderem für die Illustrierte Life gearbeitet hatte. "In the 1940s and ’50s (she) roamed New York and other cities to capture compelling images of everyday people working, playing, idling, dancing or selling newspapers", schreibt die New York Times. Der Guardian zeigt einige von Wymans Fotos.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.