Das Altpapier am 9. Juli 2019 Das Internet ist ein weites Feld

Sowohl Hass und Gewalt als auch Unfreiheit und Zensur breiten sich weltweit aus, besonders im und durchs Internet (und das Darknet). Können sie international bekämpft werden, wenn das Gegenseitigkeit bedeutet? Die FAZ erntet Aufregung und regt sich auf hohem Ross zurück auf. Außerdem: Was machen Talkshowkritiker in der Sommerpause? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Das Internet ist ein weites Feld, in dem Ausmaße und Auswirkungen kaum abzuschätzen sind. Wer etwa, der oder die nichts zu verbergen hat, würde nicht sofort "für eine effektive Strafverfolgung der Autoren von Hasskommentare" sein? Auch dann noch, wenn es dazu zwangsläufig "unerlässlich" sein muss, "dass die Behörden ihre wahren Identitäten kennen", wozu freilich "die derzeit ausgesetzte Speicherung von sogenannten Verkehrsdaten – also etwa die Kennung des Internetanschlusses samt Nutzer und Standortdaten – schnellstmöglich auf eine neue Grundlage ... ausgeweitet werden" müsse?

So zitiert die dpa (hier bei heise.de) Bayerns Justizminister Georg Eisenreich. Des grenzüberschreitenden Charakters des Netzes ist sich der CSU-Mann natürlich bewusst. Zum Gesetzes-Pilotprojekt – das eine neuartige Kooperation von Landesjustizministerium, Staatsanwaltschaft und der Landeszentrale für neue Medien, also der für alles, was als privatwirtschaftlicher Rundfunk gilt zuständigen BLM –  darstellt, gehört daher überdies, "dass im Ausland abgesetzte Hasskommentare oder Volksverhetzungen in Deutschland bestraft werden können." Ist auch noch das, nach dem Mord an Walter Lübcke (auf den etwa die Meldung des Bayerischen Rundfunks hinweist), weitgehend zustimmungsfähig?

Andererseits macht netzpolitik.org auf einen Gesetzesplan aufmerksam, der im trendigen Gute-Gesetze-Sound auf den Namen "e-Evidence" hört und öffentlich bisher wenig diskutiert wurde, obwohl er schon seit über einem Jahr läuft. Es geht um ein Gesetz,

"das Richtern und Staatsanwälten alles viel leichter machen soll. Sie sollen elektronische Beweismittel über Grenzen hinweg beschlagnahmen können, direkt bei Providern in fremden EU-Staaten ... Diensteanbieter wie Google und Facebook, aber auch Handyprovider und selbst kleinste Serverbetreiber müssen künftig innerhalb von zehn Tagen, in eiligen Fällen sogar binnen sechs Stunden Nutzerdaten herausgeben".

Wenn nicht, sollen "Strafen von bis zu zwei Prozent ihres globalen Umsatzes" drohen, die bei kalifornischen Global-Monopolisten ja auch ins Gewicht fielen. Der Haken an dieser Sache: Leichter werden soll die schwere Arbeit auch für Richter und Staatsanwälte in Staaten wie Ungarn und Polen, "wo die Justiz zunehmend unter politischem Einfluss steht". Bzw.: deren Gesetze bereits jetzt anderes als strafbar definieren als deutsche es tun. Zum Beispiel:

"Ein deutscher Journalist recherchiert zur Veruntreuung von EU-Beihilfen in Staat X. Die dortigen Behörden ermitteln gegen seinen Informanten wegen Verletzung des Bankgeheimnisses. Das ist in Deutschland keine Straftat. Doch auf Anordnung von Staat X müssten die E-Mails des Journalisten herausgegeben werden. Damit setzen sie den Whistleblower unter Druck. Die deutschen Behörden sind machtlos, die Korrespondenz des Journalisten zu schützen."

Wobei dieser Staat X übrigens auch die USA sein könnten. Für deren von der Trump-Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte sollen die Regeln ebenfalls gelten. Das Beispiel entstammt einem "Hintergrundpapier" des deutschen Bundesjustizministeriums, das offenkundig gegen diesen noch nicht beschlossenen Plan arbeitet. Das heißt, einen parteipolitischen Spin hat die Sache auch (zumal die letzte Hoffnung der Gegner dieses Gesetzes "die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel" im EU-Parlament sei).

Jedenfalls greifen die unterschiedlichen Gesetzespläne unterschiedlicher politischer Einheiten, des von einer vergleichsweise stabilen Koalitionsregierung regierten Bundeslandes Bayern und der auseinanderdriftenden EU, ineinander. Grenzüberschreitende Regelungen, ohne die im Internet nahezu nichts sinnvoll ist, wird es ohne Gegenseitigkeit nicht geben. Ist das gut und richtig?

Die Vor- und Nachteile des Darknet

Taucht Bayerns Justizminister Georg Eisenreich eigentlich bei netzpolitik.org auf? Einmal, im März. Da wurde er erwähnt, als er gemeinsam mit dem Düsseldorfer Kollegen "das Gesetz zur Kriminalisierung von 'Darknet-Märkten'" in den Bundesrat brachte. Wo natürlich eine Färbung mitschwingt. In Wahrheit heißt das Gesetz nicht so, sondern "Einführung einer eigenständigen Strafbarkeit für das Betreiben von internetbasierten Handelsplattformen für illegale Waren und Dienstleistungen".

Nun ist es im Bundestag gelandet. Der Geschäftsführer der Reporter ohne Grenzen (ROG), Christian Mihr ist weiterhin strikt dagegen. Allerdings leitet er seinen Gastkommentar in der taz dialektisch ein:

"Zugegeben, wer zum ersten Mal ins Darknet abtaucht, findet weder Schauplätze tiefgreifender Polit-Debatten noch mutige Journalist*innen, die brisante Informationen über Diktatoren veröffentlichen. Der Einstieg in die dunkle Seite des Internets führt geradewegs zu Marktplätzen für Drogen, Waffen, Kinderpornografie oder gestohlene Daten ..."

Das müsse aber akzeptiert werden, weil diese Dinge ja schon immer irgendwo gehandelt wurden und es weiter würden, "würde man das Darknet 'abschalten'". Und dessen internationaler Nutzen sei größer, da in autokratisch und diktatorisch regierten Staaten "die Anonymität im Darknet" "Journalist*innen und ihren Quellen ihr Überleben sichert". So argumentiert Mihr, weil sich die ROG im Tor-Netzwerk, dem des Darknet-Browsers, engagieren, um "die Umgehung von Zensur zu ermöglichen". Was dem aktuellen bundesdeutschen Gesetzesentwurf zufolge kriminell wäre ...

Und dafür, dass Zensur zu umgehen immer wichtiger wird, kommen ja laufend frische Belege rein. Im chinesischen Internet sind, wie gestern hier im Korb erwähnt und von "@mediasres" weitergeführt, deutschsprachige Onlinemedien nicht mehr zu empfangen.

Welche Wege, die Ausbreitung von Hass und Gewalt, aber auch Unfreiheit und Zensur im weltweiten Internet zu bekämpfen, sind richtig und sinnvoll? Ich weiß es gerade nicht genau. Zumindest Nischen-Kolumnen haben ja das Vorrecht, nicht immerzu auf alle Fragen Antworten geben zu müssen.

Peinlichkeiten und Anführungszeichen in der FAZ

Scharf im Fokus der deutschen Medien-Öffentlichkeit stehen zurzeit die FAZ-Medien. Vorige Woche wurde die FAS für ihre Laura-Karasek-Berichterstattung (Altpapier) kritisiert. Gleich die folgende Ausgabe der Sonntagszeitung leistete sich dann diese "Peinlichkeit der Woche" (@marteimer). Es geht wieder ums "Frauenbild". Hat das Blatt da "eine 60-jährige Konservative", die womöglich künftige EU-Kommissionspräsidentin, "als Playboy-Bunny sexualisiert"? Urteilen Sie bei Interesse selbst. Beim gedruckt so bebilderten Artikel handelt es sich um diesen (€), online anders illustrierten.

Um gedruckt fehlende, online ergänzte Anführungszeichen in einer Überschrift entspann sich am Montag gleich noch eine Debatte. "Die Überschrift lautet im Netz "AfD-Vorstand fürchtet rechtsextremistische 'Unterwanderung'"". Auf Papier ohne Gänsefüßchen zu sehen ist sie im Tweet von Ruprecht Polenz. Muss man sich darüber aufregen, wenn man zurselben Zeit ja auch irgendwas Aufregenderes thematisieren könnte, zumal die Anführungszeichen um "unterwandert" gleich im ersten Satz des folgenden Textes auftauchen?

Jedenfalls tat es eine schwarz-rot-gelbe Koalition (wie sie ja vielleicht in künftigen Wahlen Mehrheiten erringen könnte) aus Polenz, Sawsan Chebli und Alexander Lambsdorff. Worauf sich seitens der FAZ Herausgeber und Feuilleton-Häuptling Jürgen Kaube unter der Überschrift "Lektüre bildet", vom hohen Ross herab, zurück aufregte:

"Hoffentlich sind auch wir nicht zu kritisch, wenn es uns bezeichnend und traurig vorkommt, dass Politiker nicht nur  ausschließlich Überschriften zu lesen scheinen, dem aber Gesamtdiagnosen für die Haltung einer Zeitung entnehmen. Nicht weniger traurig mag es erscheinen, wenn mit Begriffen wie 'unmenschlich' sehr freizügig umgegangen wird."

"Unmenschlich" dazuzutwittern hatte zuvor SPD-Frau Sawsan Chebli für sinnvoll gehalten. Aus Medien-Sicht interessant: Hilft es der Reichweite und Profitabilität von Medien noch, häufig Aufregung zu verursachen oder in ihrem Zentrum zu stehen? Ob der Bild-Zeitung die fleißigen Bildblogger, die von den großen, oft echten Titelseiten-Aufregern bis zu kleinen Fehlern in Bayern-München-Meldungen alles aufspießten, was kritikwürdig oder falsch war, dem Geschäftsmodell der Springer-Zeitung nachhaltig geschadet haben oder es eher stützten (weil ja jeder Zeitungskauf ein Zeitungskauf ist oder war, und jeder Klick ein Klick ist, egal, ob er in aufklärerisch-kritischer oder affirmativer Absicht geschieht ...), darüber ließe sich ja länger streiten. Ich hoffe, es hilft der FAZ.

Sommerinterviews und Staatsferne

Was machen Talkshowkritiker in der Talkshowpause? Na ja, erstens ist die deutsche Talkshow-Landschaft ist so dicht besetzt, dass ihre Protagonisten zeitversetzt Urlaub machen und es eine Talkshowpause im ursprünglichen Sinn kaum mehr gibt. Frank Plasberg, frisch kritisiert und gestärkt von seinem Sender (Altpapier gestern), ist weiter im Dienst. Gestern talkte er ganz ohne AfD-Gäste über die Lage der EU und war, wie Klaus Raab bei SPON notiert, "sich auch nicht zu schade, in der Anmoderation noch die Formulierung ... 'im Hinterzimmer ausgekungelt' obendrauf zu kalkulieren". Die gerade in der uebermedien.de-Rubrik "Hasswort" auftauchte.

Und zweitens laufen in der Sommerpause ja die "Sommerinterviews", in denen ARD wie ZDF Parteichefs oder Spitzenpolitiker aller im Bundestag vertretenen Parteien solo vor Urlaubskulisse interviewen. Frank Lübberding hat sich für faz.net angesehen, wie Theo Koll (den ich hier Anfang des Jahres vergleichsweise euphorisch an seinem neuen Einsatzort Berlin willkommen hieß), Annegret Kramp-Karrenbauer interviewte. "Koll fragte brav die aktuellen Themen ab", selten nach und selten sinnvoll, lässt die harsche Kritik sich zusammenfassen:

"Etwa als es um den Atomkonflikt mit Iran ging. Frau Kramp-Karrenbauer setzte sich für ein Festhalten am Atomabkommen mit Teheran ein, trotz der angekündigten Produktion waffenfähigen Urans. Dagegen ist nichts zu sagen. Allerdings gegen ihren seltsam anmutenden Hinweis auf Gespräche mit der Regierung in Israel. Diese teilt in diesem Konflikt die Position der Vereinigten Staaten. Koll hätte diesen offensichtlichen Widerspruch thematisieren müssen, tat er aber nicht."

Was dafür spricht, dass das ZDF noch immer ist, was es unter der Ägide des erwähnten Ruprecht Polenz (der von 2002 bis 2016 Vorsitzender des ZDF-Fernsehrats war), wenn nicht geworden, dann geblieben ist: CDU-nah. Gewiss nicht CDU-näher als wichtige ARD-Anstalten SPD-nah waren oder sind (und der BR CSU-nah). Proporz war ja immer wichtig. Doch darf bei aller teilweise berechtigten Aufregung über Talkshows und ihre einzelnen Gäste nicht vergessen werden, dass die Diskrepanz zwischen theoretisch geforderter Staatsferne einerseits und der in der Praxis häufig zu beobachtenden Staats- und Regierungsnähe der Öffentlich-Rechtlichen ein älteres, größeres und ziemlich ungelöstes Problem darstellt.

Altpapierkorb (DAB+ gar nicht digital?, gefährliche Politiker-Kolumnen, nutzt Firefox!, Frauenfußball in der "Sportschau"!, Klaus Lemke)

+++ Auf der FAZ-Medienseite geht die neue DAB+-Debatte weiter, also um den digitalen Standard, der neuen Beschlüssen zufolge (Altpapier) vielleicht doch nicht irgendwann UKW ablösen wird. "DAB ist nicht digital in dem Sinne, wie heute Agenturen, Werbetreibende, Kunden und Nutzer digital verstehen. Stichwort: Adressierbarkeit!", schreibt Radio Regenbogen-Geschäftsführer Klaus Schunk schreibt namens des Vaunet, also Privatsenderverbands.

+++ Über eine Studie der regierungsnahen türkischen Seta-Stiftung, die "türkische Mitarbeiter internationaler Medienhäuser ... an den Pranger" stellt, berichtet Oliver Mayer-Rüth aus Istanbul auf tagesschau.de.

+++ "Wenn ein Politiker zum festen Autor einer Zeitung wird, regelmäßig Meinungsbeiträge schreibt und damit Geld verdient, dann weicht das auf ungute Weise die Funktion der Presse auf", meint Anne Fromm in der taz anlässlich regelmäßiger Kolumnen von Großverdienener Sigmar Gabriel in Holtzbrinck-Medien und, neu, Friedrich Merz in der Welt am Sonntag.

+++ "Ein Gedankenspiel veranschaulicht Googles Macht: Alle Menschen brauchen Brillen, um sehen zu können. Ein Großteil vertraut auf kostenlose Produkte eines einzelnen Unternehmens. Es verdient Geld, indem es Brillenträgern am Rande ihres Sichtfelds Werbung anzeigt. Gleichzeitig kontrolliert der Brillenhersteller das gesamte Verkehrssystem. Er bestimmt, wie die Menschen die Welt sehen und welche Orte sie besuchen": Da appelliert Simon Hurtz auf sueddeutsche.de sozusagen, lieber Firefox zu nutzen als Chrome – und damit Googles Macht noch weiter zu stärken (siehe auch Altpapier).

+++ "Die Pressefördermittel für Tageszeitungen sind 2019 großteils vergeben" – in Österreich, meldet der Standard, der ganz gut dabei abschnitt.

+++ Es gibt nicht viel, was sich in den vergangenen vier Jahrzehnten in den Medien nicht verändert hat, aber doch das: "Männer sind im deutschen Fernsehen unterm Strich insgesamt doppelt so oft vertreten wie Frauen". Hat Tilmann Gangloff einer aktuellen Rostocker Studie entnommen und fordert daher im epd medien-"Tagebuch" Frauenfußball in der wöchentlichen ARD-"Sportschau".

+++ Gestern Nacht zeigte das ZDF einen frischen Klaus-Lemke-Film, der nun bis Oktober in der Mediathek steht. "Intensiver kann Fernsehen/Kino kaum sein" schreibt Markus Ehrenberg am Ende eines kleinen, aber auch nicht unintensiven Tagesspiegel-Porträts des fast 80-jährigen Veteranen des ehemals Jungen Deutschen Films ...

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.