Die DNA des Ostens Der Verlust des großen Bruders – Die Ostdeutschen und das Ende der Sowjetunion
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21. Dezember 2021, 05:00 Uhr
Mit dem Vertrag von Alma Ata wurde 1991 das Ende der Sowjetunion besiegelt, Michail Gorbatschow bleibt der letzte Präsident der Sowjetunion und die einstige Weltmacht wird zur Regionalmacht. Diese Entwicklung wurde in Ostdeutschland sehr genau verfolgt. Denn der einstige "große Bruder" hat viele Menschen hier geprägt, sie erleben ähnliche Transformationsprozesse und erkennen dabei Parallelen zwischen den eigenen und den russischen Biografien.
Vor 30 Jahren gab sich die untergehende Sowjetunion ein neues Gewand: Aus der Union sozialistischer Sowjetrepubliken sollte eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten werden, die GUS. Nur Georgien und die baltischen Republiken wurden damals keine Mitglieder. Doch die GUS konnte den Einfluss und Zusammenhalt der untergegangenen Sowjetunion nicht wieder zurückerlangen. Zu groß waren die postkommunistischen Fliehkräfte. Es gab neue Grenzen, neue Währungen, neue Abhängigkeiten, gewaltige politische und wirtschaftliche Transformationen.
Prozesse, die auch die Ostdeutschen in den 90er Jahren erlebten. Vielleicht kommt auch daher ein größeres Interesse und Verständnis für Russland und die postsozialistischen Staaten. Umfragen zeigen heute, dass nur 54 Prozent der Westdeutschen, aber 72 Prozent der Ostdeutschen für eine Annäherung an Russland eintreten. (Anm. d. Red.: Die Umfragewerte stammen aus der Zeit vor Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine.)
Schicksalsgemeinschaft zwischen Russen und Ostdeutschen?
Aber wie kommt es, dass die Ostdeutschen den einstigen Besatzern Verständnis und Sympathie entgegenbringen? Wirtschaftliche Argumente, wie sie von Politikern oft vorgebracht werden, taugen als Begründung kaum. Der Handel ist seit geraumer Zeit eher rückläufig - lediglich zwei Prozent der ostdeutschen Güter werden noch nach Russland exportiert. Und auch der Streit um die Ostseepipeline "Nord Stream 2", für die sich ostdeutsche Politiker stark machen, erklärt das Phänomen nur unzureichend. Liegt es vielleicht doch eher an einer Art Schicksalsgemeinschaft, durch die sich die einstigen Bürger der DDR und der UdSSR verbunden fühlen? Durch eine mehr als 40-jährige gemeinsame Geschichte, durch den Verlust der Heimat Anfang der 1990er-Jahre und das ungute Gefühl, vom Westen "über den Tisch" gezogen worden zu sein?
Die Sowjetunion war im Alltag präsent
Die Sowjetunion war in der DDR überall präsent. Russisch-Unterricht war in den Schulen der DDR ab der fünften Klasse Pflicht. Es wurden "Russisch-Olympiaden" abgehalten und Brieffreundschaften angeregt. Und es gab die russische Literatur, die die Deutsch-Stunden prägte: Werke wie Nikolai Ostrowskis "Wie der Stahl gehärtet wurde", aber auch Tschingis Aitmatows stilles Meisterwerk "Djamila". Manche Schulklassen hielten morgens sogar eine Art "Presseschau" aus russischen Zeitungen ab. "Das war alles fernab der großen Politik", sagt die im Osten geborene Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. "Das macht ja auch das ostdeutsche Verhältnis zu Russland aus, dass viele von uns die Russen kennengelernt haben, über Brieffreundschaften etwa, Schüleraustausch und Reisen." So etwas prägt natürlich. "Solche Erfahrungen beeinflussen alle Bewertungen", sagt Silke Satjukow, Professorin am Historischen Institut der Universität Halle-Wittenberg, "... ob politische oder kulturelle Bewertungen, alles passiert auf der Basis: die Russen gehören zu uns."
Sowjetische Soldaten in der DDR
Zur DDR gehörten natürlich auch die Sowjetsoldaten. Mehr als eine halbe Million waren stets im Osten Deutschlands stationiert. Es gab Garnisonsstädte, in denen die fremden Soldaten sogar die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Private Kontakte zwischen DDR-Bürgern und Sowjetsoldaten waren nicht erwünscht, dennoch kam es zu etlichen Begegnungen zwischen DDR-Bürgern und Russen - in Betrieben, in der Schule, bei Feiern und Festen. Die Sowjetsoldaten, obgleich hinter hohen Mauern eingepfercht, gehörten dazu. Und aus den Besatzern wurden mitunter Kollegen, Freunde, manchmal sogar Lebenspartner. "Man hat sich befreundet, verliebt und gemeinsam gefeiert", resümiert Silke Satjukow.
Glasnost und Perestroika
Natürlich hegte kaum ein DDR-Bürger große Sympathien für die Machthaber im Kreml, wie Breschnew oder Andropow. Einen deutlichen Wendepunkt markiert der Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Frühjahr 1985. Mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika setzte der neue KPdSU-Chef einen revolutionären Prozess in Gang, den die DDR-Bürger mit Staunen und teilweise mit Sympathie verfolgten. Von Stund an galt die UdSSR nicht mehr als verrottetes stalinistisches Riesenreich, sondern als ein Land, von dem entscheidende Impulse zur Überwindung des Kalten Krieges ausgingen. Die DDR-Bürger erhofften sich eine Demokratisierung ihres Landes und brachten Gorbatschow gegen die Machthaber im eigenen Land in Stellung, die sich vehement gegen das neue Denken aus Moskau sträubten. Doch auch im Westen war der spätere Friedensnobelpreisträger aus dem Kreml hoch angesehen. Die Hoffnung auf eine menschlichere Welt kam Ende der 1980er-Jahre jedenfalls aus der Sowjetunion. Und Gorbatschow war ganz zweifellos "einer von uns".
Bücher und Filme aus der Sowjetunion
In diesen Jahren spielten auch Bücher und Filme aus der Sowjetunion in der DDR eine große Rolle. Romane und Erzählungen von Alexander Bek, Jurij Trifonow, Alexander Tendrjakow, Anatoli Pristawkin und Valentin Rasputin avancierten zu Geheimtipps, die in den Buchläden der DDR bald nur noch unter der Ladentheke zu haben waren. Bestimmte Werke durften auch in der Sowjetunion erst unter Gorbatschow publiziert werden, wie etwa Rasputins Erzählung "Abschied von Matjora", in der ein Dorf für ein Kraftwerk in einem Stausee versinken soll. Die Themen kamen den Ostdeutschen sehr vertraut vor. Es waren auch ihre Probleme und gesellschaftlichen Konflikte, die damals in den Büchern und Filmen aus der Sowjetunion verhandelt wurden.
Die Ostdeutschen hatten plötzlich nur noch die Russen
Im Zuge der deutschen Einheit kamen die Russen den Ostdeutschen dann noch einmal näher. Plötzlich, im Angesicht des Verlustes der eigenen Biografie, als der Westen den Osten geradezu aufsaugte und scheinbar nur noch das grüne Ampelmännchen übrigbleiben sollte, besannen sie sich auf ihren "großen Bruder". "Die Westdeutschen sagten uns: Wir waren faul, haben nicht gearbeitet, haben nichts erarbeitet. Und nun überlegten sie sich, was sie exklusiv haben - nämlich die Russen", erklärt Silke Satjukow. Die Russen kannten sie nun ganz besonders gut. Und sie wollten das den Westdeutschen auch zeigen, etwa durch T-Shirts oder Postkarten, auf denen in kyrillischen Buchstaben stand: 'Wenn du das nicht lesen kannst, bist du ein dummer Wessi.'"
Putins Machtversessenheit ist auch den meisten Ostdeutschen zuwider
Natürlich sind Putins Machtversessenheit und sein autokratischer Führungsstil auch vielen Ostdeutschen nicht geheuer. Und auch im Osten ist man betrübt darüber, dass Russland den Weg nach Europa seit einiger Zeit ganz offensichtlich verlassen hat. Da unterscheiden sich die Ansichten der Menschen im Osten nicht stark von denen im Westen. In beiden Landesteilen hält eine absolute Mehrheit der Menschen Putin für einen Diktator. Insofern sind die meisten Ostdeutschen ganz sicher keine unkritischen Russland- oder Putinversteher. Auf Grund ihrer langen gemeinsamen Geschichte mit Russland haben die Ostdeutschen womöglich nur ein größeres Verständnis für den einstigen „großen Bruder". Sie wollen ihn verstehen, statt ihn rasch zu verurteilen. "Ich glaube, es ist für die Ostdeutschen ein Zwiespalt. Sie haben eine Vergangenheit und wissen, wie sich Diktatur anfühlt", meint Silke Satjukow. "Auf der anderen Seite fühlen sie sich den Russen weiterhin eng verbunden. Sie sind Teil ihrer Vergangenheit und sie sind Teil ihrer Identität heute."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Wie russisch ist der Osten? | 01. Oktober 2021 | 22:20 Uhr