"Öhrchen"-Podcast Das ist unser blinder Protagonist: Daniel Martin
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08. Oktober 2022, 08:00 Uhr
Daniel Martin ist 38 Jahre jung, wohnt in Reichenbach und arbeitet bei der Landkreisverwaltung in Zwickau. Wenn er dort nicht gerade Menschen am Telefon behilflich ist, tritt er als stellvertretender Vorsitzender des Sächsischen Blindenverbandes e.V. leidenschaftlich für die Belange von Blinden und Sehbehinderten ein. Nicht zuletzt weil er im Laufe seines Lebens selbst erblindete.
Wie bist Du zu deinem jetzigen Job gekommen?
Daniel Martin: Nach meiner Schulzeit 2003 habe ich mit der Ausbildung zum Baumschulgärtner angefangen. Da war es noch nicht ganz so schlimm mit den Augen, auch wenn das Arbeiten mit einigen Hindernissen verbunden war. Aber ich hatte einen supertollen Chef, der mir die Chance gegeben hat, diesen wunderbaren Beruf zu erlernen. Ich habe den Beruf also unter ganz normalen Bedingungen erlernt, nicht an einer speziellen Schule oder so. Durch viele nette Helfer und Klassenkameraden hat das auch sehr gut geklappt.
Doch irgendwann haben sich die Bäume beschwert, weil sie eher gestreichelt als gepflegt wurden. Viele Pflanzen habe ich zum Beispiel zu kurz geschnitten. Mein damaliger Chef hatte außerdem keinen Platz mehr für mich und so bin ich zu einem Konkurrenzbetrieb gewechselt. Aber auch dort konnte ich nicht lange bleiben, nicht zuletzt wegen meiner voranschreitenden Augenkrankheit. Früher oder später musste ich also umschulen und bin so im Bereich Service-Information und Telefonie beim Landkreis Zwickau gelandet.
Wie war das mit Deiner Augenkrankheit?
Ich gehöre zu den "Spät-Erblindern". Das heißt, ich habe bis zu meinem 15. Lebensjahr noch mehr oder weniger normal gesehen. Ich weiß quasi noch, was es heißt "normal" zu sehen. Ich habe die Welt aus einer ganz anderen Perspektive kennengelernt als solche, die von Geburt an blind sind. Man könnte auch sagen, durch die schleichende Erblindung habe ich das Glück, einzelne Sachen noch zu haben, wie zum Beispiel ein räumliches Vorstellungsvermögen. Bei Geburtsblinden ist das nicht der Fall, weil die nicht wirklich wissen, was ein Viereck, ein Rechteck oder ein Kreis ist. Solche Menschen haben die Welt nie gesehen, sondern nur erfühlt. Und der Kopf malt sich dann irgendwas zurecht.
Ich gehöre zu den 'Spät-Erblindern'.
Wie kann man sich das bei Dir vorstellen? Was beziehungsweise wie viel siehst Du noch?
Ich sage den Leuten, die diese Frage stellen, immer gerne, sie sollen sich bei Dämmerung eine dunkle Sonnenbrille aufsetzen. Dann hat man ungefähr meinen Visus (Sehstärke/Sehschärfe). Ich sehe nur noch Punkte und einzelne Lichtquellen. Abhängig vom Sonnenstand sehe ich dann noch die Umrisse von Personen und Gegenständen. Das nennt man auch Nachtblindheit. Man muss sich dann eben sehr viel auf sein Gehör verlassen.
Wenn Du nicht so viel siehst, warum verreist Du dann trotzdem?
Sein gewohntes Umfeld verlassen, einfach was zu erleben. Ein Museum zum Beispiel ist ja meist thematisch staubtrocken, aber wenn man eine gute Führung hat, kann man das auch als Blinder toll erleben. So zum Beispiel im Schumann-Haus in Zwickau. Dort sind die Ausstellungsstücke mit QR-Codes versehen, die man scannen und sich ein Audio dazu anhören kann. Selbst als Blinder kann man das Museum aus einer ganz anderen Perspektive erleben, als nur auf einer Website oder einem Wikipedia-Eintrag. Ein anderes gutes Beispiel ist das August-Horch-Museum in Zwickau, in dem Blinde gewisse Exponate anfassen dürfen. So kann man einen ganz anderen Eindruck mitnehmen und nur durch das Fühlen nochmal eine ganz andere Welt kennenlernen.
Wenn Du allen Leuten da draußen sagen könntest, wie sie mit Blinden umgehen sollten, was wäre das?
Mein Wunsch wäre es, wenn die Leute die Scheu verlieren würden, einen anzusprechen. Wir beißen nicht. Man kann uns gerne etwas fragen, ob man Hilfe braucht oder nicht. Das ist uns sogar lieber, als wenn man uns einfach am Arm packt und über die Straße zieht oder von irgendeiner Ecke zuruft: "Achtung! Da ist ist eine Treppe." Das verwirrt uns nur noch mehr. Auch beim Fahrradfahren zum Beispiel sollten Leute, die einem Entgegenkommen, einfach die Klingel nutzen. Fußgänger könnten sich ebenfalls frühzeitig bemerkbar machen und nicht erst, wenn man direkt vor ihnen steht. Aber ansonsten wollen wir nicht großartig anders behandelt werden als jeder andere auch. Wir sind Menschen wie jeder andere auch, nur, dass wir die Welt aus einer anderen Sicht betrachten.
Mein Wunsch wäre es, wenn die Leute die Scheu verlieren würden, einen anzusprechen. Wir beißen nicht.
Was macht der Blindenverband? Wie kann man sich Eure Arbeit vorstellen?
Wir machen Lobbyarbeit für Blinde und Sehbehinderte in ganz Sachsen. Dafür ist der Landesvorstand zuständig. Und dann teilt sich der Verband auf in 13 Teile, sogenannte Koordinierungsstellen, die überall im Freistaat verteilt liegen. In diesen Stellen organisieren sich verschiedenste Leute und koordinieren zum Beispiel gemeinsame Reisen und Ausflüge. Außerdem führen wir Gespräche mit den einzelnen Fraktionen im Landtag, zum Beispiel über die Erhöhung des Blindengeldes oder Barrierefreiheit.
Was läuft aus Deiner Sicht gut im Freistaat für Blinde oder Menschen mit Sehbehinderung und wo gibt es Nachholbedarf?
Fangen wir mal mit dem Negativen an. In erster Linie läuft es nicht so gut, wie man es gerne hätte, da für viele Verbesserungen Förderanträge gestellt werden müssen. Solche Anträge auszufüllen dauert recht lange, sie sind oft nur zeitlich begrenzt wirksam und werden oft abgelehnt. Es ist ein großer Aufwand, dass Barrierefreiheit für Blinde und Sehbehinderte entsteht. Deswegen trauen sich viele einfach nicht ran. Viele Museen sagen, da noch weniger bis gar keine Blinde da waren, machen sie sich nicht die Mühe barrierefrei zu werden.
Es ist ein großer Aufwand, dass Barrierefreiheit für Blinde und Sehbehinderte entsteht. Deswegen trauen sich viele einfach nicht ran.
Positiv hervorzuheben ist aber auch, dass es einige Museen gibt, die jetzt nachrüsten. Das August-Horch-Museum in Zwickau zum Beispiel gibt sich große Mühe, wie man Barrierefreiheit für Blinde und Sehbehinderte umsetzen kann. Und dann gibt es Museen, die haben schon vieles umgesetzt, aber nicht nach der vorgeschriebenen DIN-Norm, die es dazu gibt. Da sind manchmal kluge Leute dabei, die meinen, für uns Blinde und Sehbheinderte denken zu können, was nicht unbedingt richtig ist. Für sowas sind wir als Blindenverband auch gerne Ansprechpartner.
Was hat es mit Deinem Tattoo in Blindenschrift auf sich?
Das ist etwas, wo ich sieben Jahre lang drüber nachgedacht habe. Besonders die Frage "Was lasse ich mir stechen?" hat mich beschäftigt.
Dann hatte ich zwei gute Freundinnen aus dem Allgäu, Janine und Jessica, auch bekannt als die Rock-Twins, weil sie viel auf Punkkonzerten unterwegs sind. Sie sind beide von Geburt an blind. Die haben mir den schönen, englischen Spruch mit auf den Weg gegeben "A life is not measured by the breaths that we take, but by the moments which take our breath away" (zu deutsch: Ein Leben wird nicht an den Atemzügen gemessen, die wir nehmen, sondern an den Momenten, die uns den Atem rauben). Eine kleine Lebensweisheit, die sehr passend ist für mich persönlich.
MDR (koh) | Erstmals veröffentlicht am 08.10.2022