Podcast - Folge 2 Mit dem "Öhrchen" Lieblingsorte in Dresden entdecken
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15. Oktober 2022, 08:00 Uhr
Wie reisen eigentlich Menschen, die nicht oder nur sehr schlecht sehen können? Diese Frage beschäftigt Podcasterin Marion Waldhauer. In Folge 1 ihres Podcastes "Augen zu und durch" lernte sie den stark sehbehinderten Daniel Martin kennen. In Folge 2 starten die beiden ihre Entdeckungstour in Dresden. Marion erlebt die die Stadt, in der sie schon viele Jahre lebt, auf eine ganz neue Art.
Wir sitzen am Dresdner Elbufer und genießen die Sonne. Nach all den Fragen, mit denen ich Daniel gelöchert habe und die er mir so geduldig beantwortet hat, steht uns der Sinn nach etwas Ruhe.
Wir packen das "Öhrchen" ein - unser kurios aussehendes Mikrofon. Es geht in den Norden der Stadt zum MDR Landesfunkhaus Sachsen.
Lieblingsorte gesucht
Ich zeige Daniel, wo ich sonst so meine Zeit als Videoeditorin mit vielen Stunden Videomaterial verbringe. Danach machen wir den kleinen Park auf der Rückseite des Gebäudes unsicher und schwatzen unter Bäumen weiter.
Schnell sind wir uns einig, dass es eine gute Idee wäre, Lieblingsorte zu finden, die in keinem Reiseführer stehen. Ja, so werde ich meinen Blick auf Dresden definitiv erweitern können! Während uns ein kleiner Regenschauer die Köpfe unter einem Schirm zusammenstecken lässt, findet sich der erste Lieblingsortspender unter den Bekannten von Daniel: Marco Rademann.
Marco ist blind. Er wohnt in Dresden-Johannstadt und schlägt vor, ihn am Bönischplatz zu treffen. Also schnell in Straßenbahn und Bus. Als wir eintreffen, meint es das Wetter wieder gut mit uns. Marco nimmt uns geschwind in Empfang und stiefelt vornweg. Sein Tempo ist beeindruckend. Ich keuche ganz gut. Ja, eindeutig: Als Schreibtischtäter sollte ich definitiv mehr raus! Erster Zwischenstopp ist ein kleiner Wochenmarkt. Auf dem Markt kennen die Verkäufer Marco bereits. Alle gehen auf ihn und seine Wünsche herzlich ein und befüllen sogar seinen Einkaufsbeutel. Ich habe das Gefühl, dass sich hier eher Freunde denn Geschäftspartner miteinander unterhalten. Eine wirklich schöne Atmosphäre.
Stock ist nicht gleich Stock
Wir setzen uns wieder in Bewegung. An einer Ampel fällt mir auf, dass Marcos Stock laut vibriert. Er erklärt mir, dass sein Stock einen Sensor hat, um gefährliche Dinge in Kopfhöhe anzuzeigen, bevor sie einen nicht so besonders schönen Eindruck hinterlassen. Daniels Neugier ist geweckt. Die Männer fachsimpeln über Gewicht und Handhabung des Taststocks. Meine Augen werden immer größer. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Unterschiede an einem Stock geben könnte. Kurzerhand beschließen wir, die Stöcke später im Garten einmal zu tauschen.
Die Johannstadt mit ihren Hochhäusern und viel befahrenen Straßen wird nach einer Biegung auf einmal wesentlich stiller. Ich höre Vögel zwitschern. Marco nennt mir den Namen des Sängers. Ich als Naturbanause kann nur anerkennend nicken. Was keiner der anderen sieht. Der Klassiker.
Oase mitten in der Stadt
Und schon sind wir am quietschenden Gartentor. Der Internationale Garten inmitten der Häuser ist eine kleine Oase. Marco und seine Frau betreuen hier ein Beet. Der Internationale Garten ist ein großer Gemeinschaftsgarten, der von seinen Mitgliedern aus etwa 15 Nationen gepflegt wird. Ein Ort, an dem man sich begegnet. Marco, der als Kellner im "Dunkelrestaurant Sinneswandel" arbeitet, findet hier nicht nur Ruhe, sondern auch leckeres Gemüse, das er selbst mit angebaut hat.
Marco stellt seinen Stock an die Seite des Gartenhauses. Hier ist alles zu eng, um mit dem Stock gut voranzukommen. Marco zählt seine Schritte. Zielsicher findet er zu seinem Beet.
Im Hintergrund erkenne ich einen kleinen Spielplatz. Die Bienen surren um uns. In mein Herz kehrt Ruhe ein. Wir suchen uns eine Bank. Ich bin neugierig, was Marco Reisenden empfehlen würde, die Dresden mit ihren Ohren entdecken wollen. Er erzählt mir von seinem Besuch der Kasematten, den er mit seiner Familie gemacht hat. Besonders von dem Audioguide und der interaktiven Geschichte ist er begeistert.
Das bringt mich auf eine Idee. Die Staatlichen Kunstsammlungen bieten auch Führungen an und ich war ewig nicht mehr dort. Zeit, das zu ändern. Und Daniel? Den nehme ich nachher einfach mit. In Gedanken mit einem dicken Schmunzeln auf den Lippen verpasse ich fast das Highlight: Der Stocktausch! Daniels Finger dürfen Marcos Stock sorgfältig begutachten. Langsam wiegt er ihn hin und her. Ich glaube, Daniel hat einen Weihnachtswunsch mehr auf dem Zettel.
Die Zeit bei Marco ist viel zu schnell um. Aber unser Tag noch jung! Nächster Halt: Albertinum.
Kunst mit Ohren und Händen sehen
"Alle Macht der Imagination! Tschechische Saison in Dresden" heißt es bei dem gerade stattfindenden Kunstfestival. Im Albertinum warten bereits die Kunstvermittlerin Lydia Hänsel und ihre Assistentin Felicia Daniel auf uns. Gemeinsam werden sie uns durch eine Skulpturenschau führen. Aber nicht nur Daniel und mich. Zu der öffentlichen Führung des Albertinums haben sich auch zwei weitere Gäste eingefunden. Nach einer kurzen Begrüßung geht es für unsere kleine Gruppe auch schon los. Das Besondere an dieser Führung speziell für Blinde und Sehschwache: Lydia Hänsel ist selbst blind ist. Vereinfacht gesagt: Eine Blinde vermittelt Kunst für Blinde.
Felicia Daniel trägt für die Besucher kleine Klapphocker. Wir laufen Richtung Frauenkirche. An einem Café bleiben wir stehen und blicken über die Toreinfahrt zu der Hochschule für Bildende Künste. Der erste Ort der Schau ist erreicht. Felicia Daniel stellt für alle Hocker auf, die den Erläuterungen von unserer Kunstvermittlerin im Sitzen lauschen wollen.
Lydia erzählt lebhaft, was es mit dem Kunstwerk "Hasn't There Been a Better Bad Idea?" und der Künstlerin Milena Dopitová auf sich hat. Auf den ersten Blick sieht das Werk aus, wie ein Basketballkorb, dessen Netz irgend etwas Schlimmes erlebt und dann Tennisbälle verschluckt hat. Dass die Tennisbälle eigentlich nicht dazugehören und eher das Werk von Scherzbolden waren, amüsiert mich. Mit Lydias Erklärung zum Hintergrund der Künstlerin und des Werkes formen sich bei mir komplexere Bilder und Interpretationen. Auch die anderen beginnen zu deuten. Wir kommen ins Gespräch.
Es ist mehr als interessant, wie ein solches Werk die Fantasie anregen und Debatten starten kann. Unsere kleine Gruppe läuft zurück zum Georg-Treu-Platz. Auf der Wiese vor dem Albertinum stehen drei glockenartige "Käfige". Sie sind von Rost bedeckt. Im Inneren hängen Lampen. Aber dieses Werk hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem ersten: Es ist in Reichweite und man kann es anfassen. Lydia ermuntert ihre Teilnehmer, einen dieser drei Metallkäfige mit den Händen zu entdecken. Mehr als den Künstler und den Namen des Werkes verrät sie absichtlich erst einmal nicht.
Nachdem alle das Werk "OPUŠTENÁ OBYDLI" von Čestmír Suška auf ihre eigene Art entdeckt haben, beginnen schon die Diskussionen, was man mit solch alten Getreidesilos noch anstellen könnte. Wir haben Spaß, uns für den eigentlich ausgedienten Gegenstand einen Nutzen einfallen zu lassen. Nach all den bunten Ideen erfahren wir natürlich auch Details zu Künstler und Werk.
Lydia führt uns von Kunstwerk zu Kunstwerk und mit all den Werken geschieht die gleiche amüsante Reise: Erst berühren und erfühlen, dann diskutieren und anschließend all die Hintergründe erfahren. Wir fühlen uns wohl!
Auf der Brühlschen Terrasse begegnen wir den Bronzefiguren von Michal Gabriel: Raubkatzen, Pferde und Menschen mit viel zu langen Armen. Jede der Figuren des Werkes "Mission" hat ein löchriges Muster. Wieder haben die Hände der Besucher richtig Freude am Erkunden und unsere Gedanken beim Interpretieren.
Die Führung endet beim Werk "QUO VADIS?" von David Černý: Ein Trabi auf riesigen Füßen. Lydia lädt uns alle herzlich ein, an einer weiteren Veranstaltung teilzunehmen, bei der wir auch die anderen Kunstwerke entdecken können, die alle in der Altstadt zu finden sind. Die Zeit verging schnell. Wir haben Appetit auf mehr. Aber das muss leider etwas warten.
Immer in Bewegung bleiben
Für uns geht es weiter zu einem meiner Lieblingsorte in Dresden. Die Straßenbahn überquert mit uns die Elbseite und erklimmt den Hügel. Wir plaudern. Ich erzähle ein paar Geschichten, die mir zu dem Ort einfallen, an dem wir sind. Geschichten vom "Weißen Hirsch".
Über enge Bürgersteige und Gässchen führe ich Daniel zu meinem Lieblingsort in Dresden. Genau genommen bewegt sich dieser Lieblingsort. Ich möchte Daniel die Standseilbahn zeigen. Er kann zwar die Aussicht nicht so genießen wie ich, aber dafür klingt es spannend, der alten Technik beim Arbeiten zuzuhören.
Aber nicht nur der Technik pur zu Lauschen ist der Reiz für mich: Während der Fahrt wird via Lautsprecher eine Geschichte erzählt. Übrigens ist die leicht anders, je nachdem ob man nach oben oder unten fährt.
Unten angekommen sind wir beide mehr als zufrieden. Was für ein schöner Tag! Was für Erlebnisse! Wir schmieden gleich Pläne, was wir als nächstes gemeinsam entdecken möchten. Ich schlage den Zoo in Leipzig vor. Es soll dort Safaritouren für Blinde geben. Safari klingt gut! Und einen Hut habe ich. Ich würde sagen: perfekt vorbereitet!
Zum Abschied "droht" mir Daniel noch an, dass er sich mit dem Lieblingsort bei mir revanchieren möchte. Er lädt mich ein, Zwickau zu entdecken. Das werden herrlich schöne und aufregende Tage!
MDR (maw)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Tag | 14. Oktober 2022 | 12:31 Uhr