Blick auf den Markt mit dem Rathaus und dem Kirchturm der Kirche "Zu unserer lieben Frauen" dahinter.
Roßwein in Mittelsachsen ist stellvertrtend für viele Gemeinden, in denen sich Menschen für ihre Stadt ehrenamtlich engagieren. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael

Dienstags direkt | 04.06.2024 | Podcast Angriffe, schlechte Stimmung und oft wenig Geld in der Kasse: Wer hat noch Lust auf Kommunalpolitik?

03. Juni 2024, 18:37 Uhr

Demokratie lebt von Mitbestimmung. Doch immer mehr Menschen, die sich engagieren und für die Gesellschaft immense Aufgaben übernehmen, werden angefeindet und angegriffen. Die Kassen sind oft klamm, die Stimmung schlecht. Wer hat noch Lust auf Kommunalpolitik? Und warum lohnt es sich, trotz aller Schwierigkeiten, die eigene Gemeinde und ein "Wir" zu gestalten?

Gäste:

  • Dr. Hendrik Träger, Politologe Uni Leipzig und Vize-Chef des Sächsischen Kompetenzzentrums für Landes- und Kommunalpolitik (SKLK)
  • Anita Maaß, Bürgermeisterin Lommatzsch
  • Justus Geilhufe, Pfarrer Großschirma - hier hat sich sein Bürgermeister das Leben genommen
  • Martina Angermann, ehemalige Bürgermeisterin Arnsdorf

Interviews:

  • Kathrin Uhlemann, Oberbürgermeisterin Niesky
  • Markus Nierth, ehemaliger Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt und Autor des Buches "Brandgefährlich"
  • MDR-Sachsen-Moderator Silvio Zschage über seine "Unterwegs in Sachsen"-Tour

Demokratie lebt von Mitbestimmung. Doch Menschen, die sich engagieren werden häufiger als früher angefeindet und angegriffen. Oft ist die Stimmung aufgeheizt und eine gemeinsame Sachpolitik fern. Die immensen gesellschaftlichen Aufgaben durch Digitalisierung, Klimawandel, Migration und Energiewende scheinen durch klamme Kassen, besonders in kleinen Gemeinden nur schwer möglich.

Die meisten KommunalpolitikerInnen arbeiten ehrenamtlich

"Die Kommunen nehmen wichtige Aufgaben im Lebensumfeld ihrer Bürgerinnen und Bürger wahr. Sie werden häufig als die 'Schule der Demokratie' bezeichnet, weil die Kommunalpolitik auf die sogenannte 'große Politik' auf Landes- oder Bundesebene vorbereiten kann", erklärt Hendrik Träger von der Universität Leipzig MDR SACHSEN. "In der Öffentlichkeit wird jedoch oft vergessen, dass Stadt- und Gemeinderatsmitglieder ebenso wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von kleinen Gemeinden ehrenamtlich tätig sind und sich neben ihrem Beruf und ihrem Familienleben für die Gemeinschaft engagieren."

Dr. Hendrik Träger, Politikwissenschaftler der Universität Leipzig.
Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Willnow

In der Öffentlichkeit wird oft vergessen, dass sich Stadt- und Gemeinderäte ebenso wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kleiner Gemeinden ehrenamtlich für die Gemeinschaft engagieren - neben ihrem Beruf und ihrem Familienleben.

Weniger Bewerber für kommunale Mandate

Laut einer Analyse der Freien Presse geht die Anzahl der Menschen, die sich um ein kommunales Mandat bewerben in der Region zurück. Insgesamt 6.983 Kandidatinnen und Kandidaten treten in Südwestsachsen zu den Stadt- und Gemeinderatswahlen an. Das sind 105 weniger als 2019 und 311 weniger als 2014 (ohne Grünhain-Beierfeld).

Politische Standpunkte werden zum Bösen erklärt

"Wir erleben in jedem Dorf, jeder Klein- und Großstadt mittlerweile eine Art des Miteinanders, die wir uns noch vor zehn Jahren kaum vorstellen konnten", erklärt Justus Geilhufe, Pfarrer von Großschirma MDR SACHSEN. In seinem Ort hat sich der ehemalige Bürgermeister das Leben genommen. "Politische Standpunkte, Entscheidungen und Personen werden nicht nur zu Problemen, sondern am Ende zum Bösen selbst erklärt. Das haben wir auch in Großschirma erlebt. Wenn das einmal passiert ist, dann geht es nur noch darum, eben diese Probleme und Menschen aus der Welt zu schaffen."

Politische Standpunkte, Entscheidungen und Personen werden nicht nur zu Problemen, sondern am Ende zum Bösen selbst erklärt. Das haben wir auch in Großschirma erlebt.

Justus Geilhufe Pfarrer von Großschirma in Mittelsachsen

Hass und Hetze schon im Jahr 2019 und früher

Martin Angermann, ehemalige Bürgermeisterin von Arnsdorf bei Dresden, legte ihr Amt vor fünf Jahre nieder. Damals hatten unter anderem vier Männer einen irakischen Geflüchteten und Patienten der Arnsdorfer Klinik aus einem Supermarkt gezerrt und an einen Baum gefesselt. "Nach vielen Jahren Hass und Hetze bin ich damals auf der Arbeit einfach mit Burnout zusammengebrochen", sagt Martina Angermann MDR SACHSEN. "Ich bin froh, dass es mir wieder gut geht. Über ein Jahr konnte ich nicht mehr nach Arnsdorf fahren, mir hat es immer die Kehle zugeschnürt."

Martina Angermann, ehemalige Bürgermeisterin Arnsdorf
Martina Angermann, ehemalige Bürgermeisterin von Arnsdorf bei Dresden Bildrechte: Martina Angermannn

Nach vielen Jahren Hass und Hetze bin ich damals auf der Arbeit einfach mit Burnout zusammengebrochen. Über ein Jahr konnte ich nicht mehr nach Arnsdorf fahren, mir hat es immer die Kehle zugeschnürt. Jetzt hat mich der Suizid des Bürgermeisters in Großschirma neu wachgerüttelt. Wir können Hass und hetze und den damit verbundenen Zerfall unserer politischen Kultur nicht mehr hinnehmen.

Martina Angermann Ehemalige Bürgermeisterin Arnsdorf

Die ehemalige Bürgermeisterin verfolgt bis heute das Geschehen, bundesweit und in Sachsen. "Jetzt hat mich der Suizid des Bürgermeisters in Großschirma neu wachgerüttelt", erzählt die Ex-Kommunalpolitikerin heute. "Ich möchte nicht mehr länger schweigen. Wir können Hass und hetze und den damit verbundenen Zerfall unserer politischen Kultur nicht mehr hinnehmen.“

Respektlosigkeit darf nicht dazu führen, dass sich Menschen nicht mehr engagieren

Zunehmende Respektlosigkeit und eine Krise der politischen Kultur erlebt auch die Bürgermeisterin von Lommatzsch Anita Maaß. "Kommunalpolitik ist die Schule der Demokratie und auch Ausdruck der aktuellen politischen Kultur im Land", erklärt Maaß MDR SACHSEN. "Die Entscheidungen im Gemeinde- oder Stadtrat wirken sich unmittelbar auf das Leben der Menschen vor Ort aus. Respektlosigkeit oder (verbale) Anfeindungen dürfen nicht dazu führen, dass kluge Menschen sich nicht mehr in den Kommunen engagieren." Für echte Demokraten müsse es wichtiger sein, "kontinuierlich und aktiv das Gemeinwesen mitzugestalten als ab und zu gegen Extremisten zu demonstrieren.“

Anita Maaß, Bürgermeisterin Lommatzsch
Anita Maaß, Bürgermeisterin Lommatzsch Bildrechte: Anita Maaß

Die Entscheidungen im Gemeinde- oder Stadtrat wirken sich unmittelbar auf das Leben der Menschen vor Ort aus. Respektlosigkeit oder (verbale) Anfeindungen dürfen nicht dazu führen, dass kluge Menschen sich nicht mehr in den Kommunen engagieren.

Mitgestalten und Erfüllung versus Frust

Neben den Herausforderungen bedeutet das Gefühl, selbst zu gestalten für viele auch Erfüllung. Wie ist die politische Realität in der Kommunalpolitik? Wie groß ist der Glücks- und der Frustfaktor? Wie lässt sich der enormen finanziellen Unterschiede in der Ausstattung der Kommunen begegnen? Wie attraktiv ist ein politisches Amt in der Kommune?

Wer hat noch Lust auf Kommunalpolitik? Und warum lohnt es sich, trotz aller Schwierigkeiten, die eigene Gemeinde und ein "Wir" zu gestalten? Das fragen wir bei Dienstags direkt.

Moderation: Jan Kummer
Redaktion: Katrin Tominski
Redaktionsleitung: Ines Meinhardt

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Die Gäste im Fakt-ist-Studio 58 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 04. Juni 2024 | 20:00 Uhr