Ökumenische Martinsfeier in Erfurt Der doppelte Martin: Wie Erfurt einen katholischen Heiligen und den Reformator feiert
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15. Oktober 2024, 04:00 Uhr
Seit über 50 Jahren vereint die ökumenische Martinsfeier tausende Menschen auf dem Erfurter Domplatz. Sie gilt sowohl dem Stadtpatron, dem heiligen Martin von Tours als auch Martin Luther, der eng mit Erfurt verbunden ist. Wie es dazu kam, haben wir Matthias Rein, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Erfurt und seit Jahren Mitorganisator der Martinsfeier, gefragt.
MDR Religion und Gesellschaft: Tausende Menschen versammeln sich am 10. November mit ihren Kindern auf dem Domplatz, die Gloriosa, die nur zu hohen Feiertagen erklingt, wird geläutet. Seit wann ist die Martinsfeier in Erfurt eigentlich eine so große Sache?
Matthias Rein, Superintendent Evangelischer Kirchenkreis Erfurt: Seit schätzungsweise 200 Jahren. Die Schulen der Stadt haben sich damals daran beteiligt. Da gibt es beispielsweise einen Zeitzeugenbericht von 1820 darüber, wie die Kinder aus den Schulen singend und mit Laternen auf den Domplatz zu einer gottesdienstlichen Feier laufen.
Für Nicht-Erfurter vielleicht verwirrend: Es geht zu "Martini" nicht nur um den katholischen Heiligen, der seinen Mantel teilte, sondern auch um den anderen Martin, also Luther, aber nicht am 11., sondern am 10. November. Wieso das?
Sankt Martin ist der Stadtpatron. Das geht zurück auf die Anfänge Erfurts, das bis 1803 zum katholischen Erzbistum Mainz gehörte. Im 19. Jahrhundert war Erfurt dann jedoch eine protestantisch geprägte Stadt und Martini vor allem eine protestantische Martin-Luther-Gedenkfeier. Erfurt ist eng mit dem Reformator, der als Mönch in Erfurt lebte und studierte, verbunden. Geboren wurde Luther am 10. November 1483 und einen Tag später auf den Namen des Heiligen Martin getauft. Der wiederum war an einem 11. November im Jahr 397 beigesetzt worden.
Eine Besonderheit ist auch der ökumenische Martinsgottesdienst, den es seit 1972 gibt. Wie kam es ausgerechnet zu DDR-Zeiten dazu?
Da haben mir Zeitzeugen erzählt, dass die Anfänge dafür in den 1960er-Jahren liegen. Dass es zu einem gemeinsamen ökumenischen Martinsgottesdienst kam, hat wiederum auch damit zu tun, dass der damalige katholische Bischof Hugo Aufderbeck und der evangelische Probst Verwiebe gut miteinander konnten und ein gesamtchristliches Zeugnis in der Stadt ablegen wollten. Es gab ja damals mit dem 2. Vatikanischen Konzil 1972 auch einen großen Aufbruch in der katholischen Kirche. Sich ökumenisch zu öffnen und Brücken zu schlagen, gehörte dazu und bedeutete für Aufderbeck, sich gemeinsam deutlich in der DDR-Öffentlichkeit zu positionieren.
Welche Rolle spielte diese große kirchlich geprägte Veranstaltung auf dem Domplatz dann zu DDR-Zeiten, gab es da staatliche Interventionen?
Martini hat einfach stattgefunden aus einer langen städtischen Tradition heraus, die selbst in Kriegszeiten nicht abgerissen ist. Nicht nur Christinnen und Christen nahmen daran teil: Zu Martini mit den Kindern und Laterne auf den Domplatz zu gehen, war für viele Erfurterinnen und Erfurter ein festes Ritual. Danach zogen Kinder noch von Tür zu Tür, um zu singen und um Süßes zu bitten, lange bevor Halloween in Mode kam.
Interventionen von staatlicher Seite hätten wohl großen Unmut erzeugt. Damals in den 1970er-Jahren gab es sogar eine Menge Berichterstattung in der Lokalpresse. Gegen den Heiligen Martin und die Geschichte vom geteilten Mantel lässt sich ja auch wenig einwenden. Die kirchlichen Verantwortlichen mussten natürlich jedes Wort bedenken, das sie in so großer Öffentlichkeit sprachen. Die SED-gelenkten Stadtoberhäupter haben dies dann zähneknirschend hingenommen.
Was hat Sie beim Blick zurück in die Geschichte der Martinsfeier in Erfurt besonders beeindruckt?
Wie sich der Geist der Zeit darin spiegelt, aufgrund des Datums auch auf dramatische Weise: Etwa am 10. November 1938, also einen Tag nach der Pogromnacht, da wurde die Erfurter Synagoge in Brand gesetzt, Geschäfte jüdischer Inhaber wurden zerstört, Menschen aus ihren Wohnungen geholt und in eine Sporthalle getrieben, verprügelt oder ins KZ Buchenwald gebracht. Und einen Tag später fand die Martinsfeier statt. Zeitzeugen, die damals Kinder waren, schildern die bedrückende Stimmung, wie sie über Scherben laufen, vorbei an der zerstörten Synagoge.
In einem Buch aus dem Jahr 1943, "Luther und Erfurt", herausgegeben von Hans Tümmler, heißt es unter einem Foto der Martinsfeier auf den Domstufen, die Stadt feiere zum Geburtstag Luthers "ihr schönstes Fest". Der "abendliche Feuerzauber" vor den Domstufen wird interpretiert als "Nachleben germanischen Lichtkultes": "Droben auf der Domtreppe bildet ein Chor lämpchentragender Kinder eine weithin leuchtende Lutherrose." Das ist der Zeitgeist 1943.
Nach dem Krieg bzw. zu DDR-Zeiten lag die Gestaltung der Feier in kirchlicher Hand, die Schulen nahmen nicht mehr teil. Zur ökumenischen Feier "beider Martins" entwickelte sich Martini in Erfurt erst Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre.
Und einen Neuanfang bedeutete natürlich auch der 10. November 1989. Die Predigt zur Martinsfeier hatte über die Jahre ja immer einen aktuellen Bezug zur Zeit, zur Friedensfrage wurde beispielsweise oft gesprochen. Nun, nach dem Fall der Mauer am 9. November, musste sie natürlich schnell aktualisiert werden.
Interview aus dem Jahr 2022, die Fragen stellte Katrin Schlenstedt, MDR Religion und Gesellschaft.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Thüringen Journal | 10. November 2022 | 19:00 Uhr