Slack, Mini-Konferenzen & die Zielgruppe Learnings aus zwei Monaten Gastredakteurin bei "The Verge"
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18. November 2019, 12:54 Uhr
"We live in the future, because there’s nowhere else to go!", so beschreibt sich The Verge, wo Anorte Linsmayer im Sommer im Rahmen des renommierten Burns Fellowships zwei Monate als Gastredakteurin gearbeitet hat. Hier beschreibt sie ihre Learnings und Erfahrungen.
Wieso gelingt es uns in deutschen Medienunternehmen nicht, (junge) Leute mit unseren digitalen Angeboten anzusprechen und teils richtig gute Produkte nur selten erfolgreich zu machen? Eine Frage auf die wir wohl alle gerne eine Antwort hätten. Ich hatte die Vorstellung, dass es bei den Amis einfach besser läuft und sie das veränderte digitale Medienkonsumverhalten schon etwas länger beobachten und darauf ihre Produkte zuschneiden. Besonders gut darin ist das rein digital ausgerichtete Medienunternehmen Voxmedia mit dessen erfolgreichster Redaktion The Verge. Natürlich auch, weil sie es müssen. Kein Rundfunkbeitrag. Kostenloses Angebot. Die gesamte Finanzierung kommt aus Werbeeinnahmen.
The Verge & unsere Zukunft
Aus der Bloggerszene 2011 entstanden, berichtet The Verge über Technologien und Zukunftstrends. “The Verge is an ambitious multimedia effort to examine how technology will change life in the future for a massive mainstream audience.“ Bei The Verge geht es um Technologie - im weitesten Sinne. Neben Reviews der neuesten Surface-Laptops, AR-Brillen oder iPhones, behält die Redaktion im Blick, was Elon Musk, aber auch Autohersteller und Start-Ups treiben. Thematisch ist das Spektrum über die Zukunft relativ breit: digitale Kultur, Transport, Wissenschaft, aber auch jegliche Debatte über Hate Speech bei Facebook und Twitter, Donald Trumps Ausfälle gegen Google und natürlich der Weltraum. Ich habe zum Beispiel einen schnellen tagesaktuellen Artikel darüber geschrieben, wie E-Scooter Verleiher auf Hurricane-Warnungen reagieren. Auch das ein Teil der Zukunftsthemen, nur eben klein-klein.
Das Kerngeschäft sind schnelle, fundierte News. Aber auch häufig Analysen, Reportagen und ab und zu Investigativgeschichten stehen auf der Homepage. Statt auf allen Plattformen präsent zu sein, hat sich The Verge entschieden, den Traffic immer auf die Homepage zu kanalisieren. Zwar gibt es auch bei Instagram und Facebook einen Account, aber nur als Vorgucker, um „for more“ auf die Seite zu wischen oder klicken. Und das funktioniert richtig gut.
Auch wenn The Verge in Deutschland nicht sehr bekannt ist, erreichen sie Zahlen, von denen deutsche Medien nur träumen können. Laut Comscore hat die Webseite allein in den USA 28 Mio. Visits im Monat. Die Social Plattformen (Facebook, Twitter, Youtube etc.) zusammen über 16 Mio. Follower. Einige Videos vom Science-Kanal werden bis zu 12 Mio. mal geklickt und geschaut. Täglich gibt es zwei Newsletter: zum Tagesbeginn einen mit dem Vorgucker auf die Themen des Tages und zum Abend einen analytischeren zu den Themen des Tages. Podcasts gibt es natürlich auch – geht in den USA gar nicht mehr ohne, aber das ist widerum ein Thema für sich.
Die Redaktion & ihre Kommunikation
In New York City hat Voxmedia und The Verge den Hauptsitz. Dort arbeiten ca. 60 Redakteure. So ganz genau kann ich es nicht sagen, weil es ein ständiges Kommen und Gehen ist. Zusätzlich zum NYC-Büro gibt es eins in San Francisco und einzelne Kollegen in London, Amsterdam und irgendwo in Asien. Sie schalten sich zu Konferenzen per Zoom dazu und sind über Slack auch jederzeit angebunden. Auch Homeoffice ist gang und gebe. Die Redakteure sind digital sowieso verbunden, egal ob nun in NYC, in San Francisco, in der U-Bahn oder im Gartenhäuschen. Zusätzlich zu den Redakteuren, die die Artikel für die Webseite schreiben, gibt es ein großes Kreativteam, das Videos, Fotos und Grafiken produziert. Ich habe im kleineren Westküstenbüro in San Francisco gearbeitet, zusammen mit ca. 8 Verge-Redakteuren und insgesamt mit ca. 60 Kollegen in einem Raum, da auch die anderen Voxmedia-Redaktionen „Vox News“, „Eater“, „Recode“, „Curbe“ und die Promo- und Marketingkollegen dort arbeiten. Für mich hatte das den Vorteil, dass ich in alle Teams und deren Arbeit schauen und mich mit den Kollegen austauschen konnte.
Die interne Kommunikation läuft fast nur über Slack. Auch mit den direkten Sitznachbarn. Das war für mich etwas gewöhnungsbedürftig, da ich mit meinen Sitznachbarn doch genauso reden könnte, statt sie anzupingen. Der Vorteil: Es gibt immer sofort Feedback auf Themenideen, Texte oder auch einfach nur Quatschkommentare. Überhaupt war das Emoji und Gifs schicken ganz groß. Am ersten Tag wurde ich natürlich auch per Slack der Redaktion vorgestellt. Als Antwort kamen viele Grüße und Emojis - und schon war ich eine Mitarbeiterin wie jede andere. Ich bekam einen super professionellen „Onboarding Guide“ in dem wirklich alles zum Unternehmen, den Arbeitsabläufen und der Produktion erklärt war, noch dazu super designt. So etwas muss es in US-amerikanischen Firmen auch geben, weil die Jobs viel schneller rotieren als bei uns. In meinen zwei Monaten dort wurden bei The Verge sechs neue Leute eingestellt, vier haben sich verabschiedet und fünf wurden befördert – natürlich alles per Slack. Der Nachteil: An manchen Tagen haben wir im Büro kein Wort gewechselt, dafür glühte der Emoji-Kontakt heiß. Die Recherchen liefen auch größtenteils über Mail oder Messenger. Telefoniert wurde selten. Und wenn, dann in den zwei modernen Telefonkabinen, damit das im Großraumbüro nicht stört. Die Schreibtische bestehen übrigens wirklich nur aus einem Tisch und einer Steckdose. Die Mitarbeiter bringen ihre Lap Tops meist selber mit, setzen sich tagsüber auch manchmal um, aufs Sofa oder in eins der kleineren Zimmer oder auch raus in ein Café. Telefon und Drucker habe ich im ganzen Großraum nirgends entdecken können. Funktioniert alles mit Smartphone oder Pad – Hauptsache mobil und flexibel.
Auch anders: ganz flache Hierarchien. Ich hab bis zum Ende nicht gewusst, wer denn eigentlich der Oberchef ist und war dann ganz schön überrascht als ich es tatsächlich am Ende erfragen musste war der Kollege, der am meisten selber gemacht hat, der sich auch gut um mich gekümmert hat, um mir das CMS zu erklären oder für mich Bilder hochzuladen. Welcher Chef bei uns würde das machen? Das hat mich total beeindruckt. Was auch anders war: Gossip im Büro und Neid auf Beförderungen oder Gehaltserhöhungen gab es nicht – im Gegenteil. Jeden Montag gab es eine 20-minütige Wochenkonferenz mit allen Kollegen weltweit per Zoom dazu geschaltet, teils acht kleine Videofenster. Dabei wurde direkt zuerst verkündet, wer befördert wurde. Die Reaktion: ehrlicher Applaus. Ich habe das als unglaubliche Wohltat empfunden. Die Konferenz war gut durchorganisiert und straff geleitet. In 20 Minuten gab es Personalinformationen und jedes Ressort hatte seine Topthemen der Woche vorgestellt. Keine Wichtigtuerei, sondern auf den Punkt mit viel Empathie für die Kollegen. Eine halbe Stunde nach der Sitzung hatte ich das Protokoll im Maileingang und eine Videoaufzeichnung der Konferenz zum Anschauen – je nachdem, ob ich lieber lesen oder anschauen wollte. Für jedes Ressort gab es ein Mal pro Woche noch eine längere Sitzung, um Themen und Recherchen zu besprechen.
Die Abläufe & ihre Inhalte
The Verge weiß, für wen sie produzieren und schreiben. Und sie wissen, was die Leute lesen, hören und sehen wollen. Klar, ist bei einem monothematischen Technikangebot auch irgendwie einfach, aber irgendwie auch nicht. Die Ansprache und auch Sprache der Texte und Videos orientiert sich ganz stark an unserer Alltagssprache. Das versuche ich bei meinen Beiträgen im MDR immer, aber es gelingt mir nicht so, wie es den Autoren bei The Verge gelingt. Es ist total OK und sogar gewünscht, dass der Reporter seine Perspektive einbringt. Die Artikel und Videos sind anders und zwar erfrischend anders. Die Autoren erzählen viel mehr und nehmen mich als Leser und Zuschauer viel besser mit durch die Struktur ihrer Geschichte. In der Unterzeile der Überschrift soll idealerweise ein kleiner Twist oder ein ironischer Kommentar das Thema anteasen. Die Perspektive des Autoren ist wichtig. Es wird dabei nicht unjournalistisch – im Gegenteil: Es ist so authentischer und auch viel näher an meiner Sprache. Jeder Autor soll mindestens einen Artikel am Tag schreiben, damit er/sie präsent ist und die Leser wissen, wer für welche Themen Expertise hat und so eine stärkere Nutzer-Redaktionsbindung entsteht. Das ist gar kein übermäßiges Personalisieren, sondern ein simples präsenter sein, um sich und die Marke zu etablieren. Am Tagesende wird dann immer ein Ranking rumgeschickt, wer wie viel an dem Tag veröffentlicht hat. Damit habe ich ein bisschen meine Schwierigkeiten, weil Quantität im Journalismus eben keine Qualität ist – aber es soll mehr Erinnerung und kleiner Ansporn sein.
Zum Arbeitsablauf: Nachdem ich mit einem Text fertig bin, redigiert ein Redakteur und ich ändere entsprechend, damit er oder sie noch mal final drüber lesen kann. An dieser Stelle wäre das Redigieren in den meisten Redaktionen, die ich kenne, schon vorbei. Bei The Verge folgte die nächste Kontrolle durch die Copy Editors, die die korrekte Rechtschreibung und Grammatik checken. Dann nimmt sich der Social Redakteur den Beitrag vor, um zu überprüfen, ob er für Suchmaschinen und soziale Medien optimiert ist. Das ist für The Verge unglaublich wichtig: Artikel werden immer SEO-optimiert und idealerweise bei kuratierenden Plattformen wie Apple News, Flipboard usw. präsent ins Schaufenster gestellt. So wollen sie Leser anlocken und zwar durch jede Geschichte immer wieder aufs Neue. Eine derart gründliche Arbeitsweise habe ich bisher in keiner Onlineredaktion erlebt. Zumal die Bilder zu den Artikeln nicht immer von mir, sondern von Bildredakteuren ausgewählt werden. Für eine Story designt ein hauseigener Grafiker sogar Artwork als kleines Bild zum Artikel. Diese Ressourcen, wirklich bis ins Detail gute Storys abzuliefern, ist auch ein Teil des Erfolgs. Nicht nur die Inhalte sind gut, sondern sie sind ansprechend gestaltet. Die Homepage ist wie ein Schaufenster eines Ladens, in den ich auch nur gehe, wenn mir die Auslage gefällt. Und The Verge hat das verstanden und lebt es. Design ist wichtig. Das ist zu sehen und es macht Spaß, hier Dinge anzuklicken. Die Werbung ist ganz dezent. Mir ist sie manchmal gar nicht aufgefallen. Auch die Bildsprache der Videos ist grandios. Super produzierter Look – damit ist es immer nur „one guy“, der filmt und Ton macht.
Großartig übrigens auch das redaktionseigene CMS. Voxmedia hat das selber nach den eigenen Bedürfnissen entwickeln lassen und ich muss sagen, es ist total intuitiv und einfach. Die Investition hat sich gelohnt, da jeder neue Mitarbeiter direkt ohne große Schulung loslegen kann. Fehlermeldungen habe ich nie erlebt, niemand hat geflucht darüber, dass wieder etwas nicht geht – im Gegenteil: das CMS wurde gerne benutzt und täglich gelobt. Dem kann ich mich nur anschließen. Wenn ihre Werkzeuge gut funktionieren, können sich die Autoren und Redakteure ganz auf ihre Inhalte konzentrieren. Und das ist dem Produkt anzumerken.
Die Zielgruppe & meine Learnings
Was mir zwar schon immer klar war, aber bei The Verge noch mal ein ganz neues Niveau erreicht hat: Du musst deine Zielgruppe kennen! Und zwar wirklich kennen. Für wen sind die Inhalte? Wer soll das nutzen? Und daraufhin wird dann das inhaltliche Angebot optimiert. Mir kommt es oft so vor, als ob wir direkt auf jede technische Entwicklung drauf springen und unsere Inhalte dort publizieren wollen. Aber was bringt es mir beispielsweise, meine für Ü60 interessanten Inhalte auf Instagram zu bringen? Da passen Angebot und Plattform nicht zusammen. „Don’t jump on everything you see“, war bei The Verge die Maxime gleich nach „Know your audience. Like really know your audience.“ Als Beispiel Instagram: Dort sind die Nutzer vor allem männlich aufgrund der techniklastigen Themen. Die Inhalte der Webseite jetzt 1:1 auf Instagram zu packen, wo viel mehr Frauen unterwegs sind, wäre Quatsch. Die Frage ist: Muss man überhaupt überall unterwegs sein? Und was bringt es? Welche Plattform bringt was? Und wer ist dort unterwegs? Kann ich mit meinen jetzigen Inhalten die Leute auf den neuen Plattformen erreichen? Wenn nein: Dann lass es. The Verge hat trotzdem einen Instagramaccount aufgebaut, aber legt dort den Fokus mehr auf digitale Kultur, Lifestyle und Entertainment, weil das in der Regel eher Frauen interessiert. Dennoch haben alle Themen immer etwas mit der Zukunft zu tun. Dem Kern bleibt The Verge immer treu.
Was nach zwei Monaten bleibt? Ganz viel! Nicht alles lässt sich übertragen und adaptieren, aber die Zielgruppe und für wen welches Angebot auf welcher Plattform sinnvoll ist – das werde ich künftig immer wieder hinterfragen und überdenken. Noch mehr als jetzt schon. The Verge ist ein aufregendes Medium, das mit seinen Texten, seinem Design und seinen Videos zu den innovativsten Newsrooms gehört, die es derzeit gibt, und dabei einen wirklich bemerkenswerten Qualitätsstandard hält.
Am 17. Dezember berichtet Anorte Linsmayer in einem MDR next-Impuls über ihre Learnings und Erfahrungen.