Sexarbeit Corona und Inflation: Zahl der Prostituierten in Sachsen sinkt

10. Juli 2022, 08:30 Uhr

Während der Corona-Pandemie konnten auch Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter nicht ihrem Beruf nachgehen. Schulden und Existenzängste sind die Folgen. Zudem kritisieren Verbände und Beratungsstellen, dass Sexarbeit immer noch stigmatisiert und Sexarbeitende diskriminiert werden. Was sagen Betroffen dazu? MDR SACHSEN hat nachgefragt.

Die Zahl der in Sachsen angemeldeten Sexarbeitenden ist erneut gesunken. Wie das Statistische Landesamt mitteilte, waren im vergangenen Jahr 572 Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter im Freistaat gemeldet. 2020 waren es 675. Damit ist die Zahl seit 2019 (800) um rund 30 Prozent gesunken.

Auch die Zahl der angemeldeten Prostitutionsgewerbe ist seit 2019 leicht rückläufig. Insgesamt sank laut Landesamt die Zahl der Anmeldungen in den letzten drei Jahren um rund drei Prozent. Waren damals noch 90 Gewerbe gemeldet, stieg die Zahl 2020 leicht auf 93. Im vergangenen Jahr gab es noch 74 Prostitutionsgewerbe.

Corona und Pflicht zur Beratung

Dass die Zahlen einen verlässlichen Ist-Stand abbilden, bezweifelt der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. Die Zahl der angemeldeten Sexarbeitenden sage nicht viel aus, weil sich viele Kolleginnen und Kollegen nicht der Gefahr aussetzen wollten, geoutet zu werden. Ähnliches berichtet auch Linda Apsel von der Fachberatungsstelle Sexarbeit bei der Aidshilfe Leipzig. Die rückläufigen Zahlen bei den Anmeldungen erklärt sie sich mit den Arbeitsverboten währende der Pandemie. Teilweise hätten Sexarbeiterinnen aus finanziellen Gründen weiterarbeiten müssen und seien so in die Illegalität verdrängt worden. "Danach haben sich einige nicht wieder angemeldet", erklärt Apsel.

Wie viele Sexarbeiterinnen sind in Thüringen und Sachsen-Anhalt gemeldet? Die Zahl der angemeldeten Prostituierten ist in Thüringen zum Jahresende 2021 deutlich gesunken. Im Vergleich zum Vorjahr waren noch 138 Sexarbeitende gemeldet, teilte das Landesamt für Statistik mit. Das seien 62 Prozent weniger als im Vorjahr (226).

In Sachsen-Anhalt hingegen hat sich die Zahl der gemeldeten Sexarbeitenden nahezu verdoppelt. Waren 2020 noch 183 gemeldet, stieg die Zahl 2021 auf 336.

Im Bereich der Sexarbeit sei die Dunkelziffer erfahrungsgemäß sehr hoch, so das Landesamt in Thüringen.

Zudem sei das "Zwangssetting", dass sich Sexarbeitende per Gesetz von Behörden beraten lassen müssen, egal, wie viel Arbeitserfahrung sie schon haben, für viele ein Problem, berichtet Apsel. "In einigen Fällen erfolgt die Beratung von Personen, die gar keinen Bezug zum Thema haben und wertend oder sogar abwertend darüber sprechen. Das spricht sich unter den Sexarbeiterinnen herum", so Apsel.

In Leipzig sei die Situation zum Glück eine andere. "Im Gesundheitsamt arbeiten seit Jahren Sozialarbeiterinnen, die eine sehr wertschätzende Perspektive haben. Das ist in Sachsen sicher nicht überall so", vermutet die Beraterin.

Seit 18 Jahren Sexarbeiterin

Eine der Menschen, die sich für die Sexarbeit entschlossen hat, ist Lydia aus Leipzig. Seit 18 Jahren arbeitet die studierte Sozialarbeiterin in der Branche. "Mit 23 Jahren war ich in einer schwierigen finanziellen Situation. Und weil ich Sexarbeit schon immer irgendwie spannend fand und ein sexuell aufgeschlossener Mensch bin, habe ich es ausprobiert", erzählt die heute 41-Jährige im Gespräch mit MDR SACHSEN. Zwischenzeitlich hatte sie zwei Jahre als Sozialarbeiterin gearbeitet, doch diesen Beruf dann wieder für die Sexarbeit aufgegebene. "Mir hat die Sexarbeit gefehlt", sagt Lydia.

Corona gut überstanden

Seit Herbst 2017 habe sie sich professionalisiert – eine Wohnung gesucht, einen Kredit aufgenommen und eine Website bauen lassen. Nebenbei habe sie noch in einem Call-Center arbeiten müssen. 2021, mitten in der Pandemie hat sie sich komplett selbstständig gemacht. "Ich bin ganz gut durch die Pandemie gekommen", erinnert sich Lydia. 2019 sei finanziell ein richtig gutes Jahr gewesen, das auch die Grundlage für die Berechnung der Coronahilfen war. Auch von ihren Rücklagen habe sie leben können. Und ihre Kunden hätten ihr während der Pandemie immer wieder Hilfe angeboten.

Existenzängste und Gentrifizierung

So komfortabel wie für Lydia war und ist die Situation für viele andere Sexarbeitende nicht, weiß Beraterin Apsel. Die generelle Situation der Sexarbeiterinnen sei derzeit geprägt von Existenzängsten, die ihren Ursprung in einer "Mischung aus Pandemie und Inflation haben. Es fehlen Einnahmen, Erspartes musste aufgebraucht werden, Schulden wurden gemacht." Zudem habe auch die Gentrifizierung vor der Sexarbeit in Leipzig nicht Halt gemacht. "Durch Sanierung und Neuvermietung verlieren die Menschen ihre sicheren Arbeitsorte", meint Apsel.

Soziale Absicherung verbessern

In den nächsten Jahren müsse vor allem die soziale Absicherung von Sexarbeiterinnen verbessert werden. Sexarbeit sei geprägt durch Arbeitsmigration vor allem aus dem osteuropäischen Raum. Für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gebe es wenig Möglichkeiten für soziale Unterstützung. "Die medizinische Grundversorgung scheitert mitunter an bürokratischen Hürden", sagt Apsel und wünscht sich mehr Entgegenkommen von den Behörden.

Fachberatungsstelle Sexarbeit der Aidshilfe Leipzig Seit 2019 berät die Fachberatungsstelle der Aidshilfe in Leipzig Sexarbeitende zu den unterschiedlichsten Themen. Neben Steuerfragen hilft die Beratungsstelle bei Fragen zu Krankenversicherungen und begleitet Sexarbeitende bei Behördengängen.

Auch Lydia hat klare Vorstellungen von dem, was Sexarbeitende in Zukunft brauchen. "Angebote zur Professionalisierung müssen ausgebaut werden, damit Sexarbeiterinnen ihre Rechte kennen, Förderung erhalten und beraten werden können." Auch Umorientierungsangebote, für Menschen, die nicht mehr in der Sexarbeit tätig sein wollen, seien wichtig.

Beraterin: "Sexarbeit ist auch Arbeit"

Dass sich Sexarbeitende für ihren Beruf rechtfertigen müssen, sei ein nicht endendes Thema. Sexarbeit sei eben auch nur Arbeit, meint Apsel. Diese Sichtweise stelle "automatisch unserer eigenen Ansichten von Sexualität infrage", sagt sie weiter. "Wenn ich und viele andere Sex und Gefühle nicht trennen wollen, ist das okay. Und genauso muss es okay sein, dass es Menschen gibt, die das können und wollen. Wir sollten ihnen nicht die Freiwilligkeit absprechen."

Der Meinung ist auch Sexarbeiterin Lydia. Sie gehe offen mit ihrem Beruf um. Ihrer Mutter habe sie nach einem Jahr bereits erzählt, was sie macht. Auch ihr Partner habe nie ein Problem mit ihrem Beruf gehabt. "Als ich ihm erzählt habe, was ich mache, war es, also ob ich ihm sage, dass ich gerne Kartoffeln esse", erinnert sie sich. Nur mit der Familie ihres Partners sei es schwierig. Dort ist sie offiziell immer noch Sozialarbeitern. "Das belastet mich", gibt sie zu.

Als ich ihm erzählt habe, was ich mache, war es, also ob ich ihm sage, dass ich gerne Kartoffeln esse.

Lydia Sexarbeiterin aus Leipzig

Was tun gegen die Stigmatisierung von Sexarbeit?

Um in Zukunft etwas an der Stigmatisierung von Sexarbeit zu ändern, sei ein Blick in die Geschichte hilfreich, sagt Lydia. "Homosexualität war bis in die 1990er-Jahre strafbar. Aber die Menschen sind für ihre Rechte immer wieder auf die Straße gegangen. Und irgendwann wurde die gesellschaftliche Realität anerkannt." Auch Sexarbeitende versuchten immer wieder, auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Mit Sexarbeitenden sprechen

Wichtig sei in der Debatte, mit den Sexarbeitenden zu sprechen und nicht über sie, meint Lydia. Beraterin Apsel ergänzt, dass Sexarbeiterende als Experten in ihrem Beruf anerkannt werden müssten. Zusätzlich müsse die große Diversität in dem Berufsfeld anerkannt werden. "Es gibt nicht DIE Sexarbeit. Die Arbeitsrealitäten sind sehr vielfältig", sagt Apsel. In den Medien sei die Darstellung immer sehr dramatisch und emotionalisiert. "Das bedient unser Bedürfnis nach Voyeurismus und entspricht nicht der Realität", fasst Apsel zusammen. Auch das befördere das Stigma, dass Sexarbeitende immer arm seien und keine andere Möglichkeit hätten.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 10. Juli 2022 | 08:00 Uhr

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