Reportage Eisenbahnromantik oder Chaos? Mit dem 49-Euro-Ticket quer durch Deutschland
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09. Juli 2023, 12:00 Uhr
Seit Mai gibt es sie nun schon, die Flatrate für Nah- und Regionalverkehr. Das Deutschlandticket für 49 Euro erfreut sich großer Beliebtheit. Allein die Dresdner Verkehrsbetriebe haben Stand Ende Juni mehr als 100.000 Deutschlandtickets verkauft. Eines davon besitze ich. Klar, für den Nahverkehr ist das prima, und auch regional kann man sich die separate Fahrkarte nun sparen. Doch wie gut funktioniert das Ticket bei richtig langen Verbindungen?
Verträumt aus dem Fenster schauen, Musik hören, entspannt ankommen? Mit dem Deutschlandticket kann man den Regionalverkehr in Deutschland unbegrenzt nutzen. Bei einem Besuch in Ludwigshafen am Rhein habe ich es ausgiebig getestet. Der Deal ist klar: Man braucht keine extra Fahrkarte und nimmt dafür eine (weitaus) längere Reisezeit in Kauf. Doch wozu gibt es Wochenenden? Ich hatte an diesem schönen Sonntag genügend Zeit übrig. Von Ludwigshafen nach Dresden, mit dem Auto sind das 550 Kilometer. Mit einer guten ICE-Verbindung schafft man es in fünfeinhalb Stunden.
Über zehn Stunden - wenn alles klappt
Mit Regionalzügen sieht das schon anders aus. Zehn Stunden und 15 Minuten sagte die Bahn-App voraus. Wenn alles glatt geht. Doch ist das realistisch? Auch in Regionalzügen erlebt man viele Verspätungen mit teils kuriosen Begründungen. Zum Beispiel waren auf meiner Hinfahrt knapp zwanzig Minuten Verspätung entstanden. Begründung: "Ausfall der Technik. Der Lokführer muss leider vor jedem Bahnübergang halten und ihn manuell sichern".
An diesem Sonntag brachte ich folgenden Erfahrungswert ein: Wähle in der App eine "Minimale Umstiegszeit" von zehn Minuten. So umgeht man es wahrscheinlich, eine Stunde lang in Osterburken zu stehen, wenn der Anschluss schon weg ist. Kleiner Nachteil: Die Reisezeit verlängert sich dadurch. Bei mir summierten sich allein die Umstiegswartezeiten auf 111 Minuten.
Die Bahn bietet eine Vielzahl an Varianten, um regional von A nach B zu kommen. Die drei Kilometer von Ludwigshafen bis Mannheim wurde ich freundlicherweise chauffiert. Meine Verbindung lautete also wie folgt: Mannheim – Frankfurt – Kassel – Halle – Leipzig – Dresden. Ausgerüstet mit Stullen und Wasser für mehr als eine unerwartete Pampa-Pause stieg ich in die Bahn. Die Abfahrt erfolgte vier Minuten nach Fahrplan, was bei der Bahn bekanntlich offiziell als pünktlich gilt.
Über Stockstadt und Rhein
Wichtiger Faktor: der Akkustand des Handys. In Regionalzügen gibt es erfahrungsgemäß nur sehr selten Lademöglichkeiten. Im RE 70 Richtung Frankfurt fand sich an jedem Platz eine Steckdose – nur leider funktionierte keine davon, wie mir die junge Frau mit dem Laptop vor mir bestätigte. Ich hatte 97 Prozent Ladung und begann schon einmal zu rechnen: Zehn Stunden Fahrt bedeuten zehn Prozent Akku pro Stunde. Ich nahm sicherheitshalber mein Buch aus dem Rucksack und begann zu lesen.
Einheimische hatten mir Gruselgeschichten von dieser Verbindung erzählt: Ausfälle, Bauarbeiten, Verspätungen. Doch der Zug rollte zwischen Getreidefeldern und Industrieanlagen zügig durch die Rheinebene. Am östlichen Horizont erhob sich der Odenwald, als wäre er ein richtiges Gebirge. Wir hielten unter anderem in Gernsheim, Stockstadt, Mörfelden – keinen der Ortsnamen hatte ich je gehört. Doch auch das macht den Charme des Regionalverkehrs aus. Der Wagen war nur halb gefüllt und es wurde auch Richtung Frankfurt nicht eng. Nach siebzig Minuten erreichten wir die Mainmetropole mit nur einer Minute Verspätung.
Das Sechs-Quadratmeter-Urinal
Im Winterurlaub in Österreich hatte ich überall Aufkleber gesehen: "Schön hier, aber waren Sie schon Mal im Frankfurter Bahnhofsviertel?" Trotz 34 Minuten Umstiegszeit nutzte ich die Gelegenheit zur Besichtigung nicht. Zu viel Gepäck. Vorbei an Junkies, Familien und Geschäftsmenschen wechselte ich direkt zu Gleis 15. Und siehe da, der Anschlusszug Richtung Kassel stand schon bereit. Auf der Anzeigetafel stand die Hiobsbotschaft: "Ein Wagen fehlt". Das Bild völlig überfüllter Wochenend-Regionalzüge geisterte durch meinen Kopf. Die Fahrt Richtung Kassel dauerte zwei Stunden und die wollte ich nicht im Stehen verbringen.
Daher lief ich bis zum Anfang des Zuges und stieg in den zweiten Wagen. Hier roch es ziemlich unangenehm. Und ich fand auch schnell heraus, warum: Der Toilettenraum stand voller Urin. Der Boden klebte schon im Gang davor und der Gestank war unerträglich. Also ging ich noch einen Wagen weiter und ließ mich nieder. Am Fenster, im oberen Zugteil. Perfekt. Jedenfalls fast: Der Wagen hatte keine Toilette. Ich beschloss, mich also auf die Stärke meiner Blase zu verlassen.
Frieren im Sommer
Es war kalt im Zug. Neben mir zog ein Mann mittleren Alters seine wetterfeste Softshell-Jacke über, entschied sich dann um und wechselte auf Funktionspulli. Ich überlegte, meinen Schlauchschal und die lange Jeans zum Einsatz zu bringen. Diese Blöße war ich jedoch nicht bereit, mir zu geben, nachdem ich eine Woche lang über die Hitze gejammert hatte. Einen Pulli hatte ich nicht einmal dabei. Der Zug fuhr pünktlich an. Waggon zur Hälfte gefüllt, Akkuladestand: 81 Prozent. Steckdosen: Fehlanzeige. Die Devise blieb daher: lesen und aus dem Fenster schauen statt daddeln. Trotzdem beruhigend, dass ich das Ticket als Karte dabei hatte und nicht aufs Handy angewiesen war.
Das sollte man auf langen Regionalverbindungen dabeihaben:
- Warme Kleidung, denn die Klimaanlagen in den Zügen arbeiten auf Hochtouren.
- Essen und Getränke, denn es gibt keine Bordbistros und die Umsteigezeiten sind oft zu kurz, um sich etwas am Bahnhof zu kaufen. Zudem haben Provinzbahnhöfe oft gar kein Angebot.
- Ladebank fürs Handy, denn Steckdosen sind extreme Mangelware.
- Zeit und Geduld, denn es kann jederzeit zu Verspätungen und verpassten Anschlüssen kommen.
- Flexibilität, denn manchmal muss man einfach komplett umdisponieren, wenn ein Anschluss schiefgeht.
Die Fahrt durch Hessen verlief erneut ohne Zwischenfälle und langsam wurde ich misstrauisch. Hatte die Bahn etwas von meiner Idee mitbekommen, eine Reportage über die Reise zu schreiben? Gab man sich vielleicht besonders viel Mühe. Die Normalität war fast grotesk: Kinder spielten leise, es roch nach mitgebrachtem Mittagessen, hinter mir schnarchte ein beleibter junger Mann mit offenem Mund vor sich hin. Ich filmte ein bisschen die Landschaft aus dem Fenster, weswegen der Handyakku bei der Ankunft in Kassel-Wilhelmshöhe auf 65 Prozent gefallen war. Die Ankunft erfolgte pünktlich auf die Minute.
Kurz vor der Großstörung
Ich fasste langsam Zutrauen in diese Reiseverbindung und wagte mich nach draußen – Beine vertreten und kurz einen Blick auf Kassel werfen. Der Bahnhof Wilhelmshöhe wurde erst 1991 eingeweiht und ist eher ungewöhnlich. Er trägt den Spitznamen "Palast der tausend Winde", was nichts mit dem Geruch zu tun hat, sondern mit den sehr breiten, zugigen, eher düsteren Bahnsteigen, die über ebenso breite Rampen und Treppen zu erreichen sind. Der Bahnhofsvorplatz wird von einem riesigen, 15 Meter hohen Vordach überdeckt, das von knapp 60 Säulen gehalten wird.
Meine Faszination hielt mich nicht davon ab, den Zug nach Halle zu erwischen. Offizielle Abfahrtszeit: 14:06 Uhr. Tatsächliche Abfahrtszeit: 14:06 Uhr. Der Zug des privaten Unternehmens Abellio war gut gefüllt, doch auch hier fand sich trotz eines entsprechenden Vermerks in der DB-App keine Lademöglichkeit für Handys. Dafür gab es endlich eine geräumige Toilette. Barrierefrei und bestens für Rollstuhlfahrerinnen und Rohlstuhlfahrer geeignet, bot sie gleich drei SOS-Köpfe, einer sogar direkt am Boden. Beim kurzen Anstehen hatte ich mich aus Versehen an den grünen Türöffnungsknopf gelehnt und diesen aktiviert. Kurz darauf folgte eine Durchsage: "Werte Fahrgäste, bitte achten Sie darauf, dass Sie während der Fahrt nicht versehentlich die grünen Türöffnungsknöpfe betätigen, dies führt zu einer Fahrzeugstörung." Ich zog den Kopf ein und steckte ihn in mein Buch.
Verwirrung in Leipzig
Doch auch diesen potenziellen Großstörungsfall überstand die Bahn unbehelligt. Auf der Fahrt durch Thüringen wurde der Zug immer voller und einige Reisende mussten die freien Plätze neben sich tatsächlich für fremde Sitznachbarn freigeben. Der Handyempfang war auf dieser Strecke besonders schlecht. Nachdem ich mehrere Schachspiele wegen Verbindungsabbruchs verloren geben musste, entschied ich mich für den Flugmodus, um Energie zu sparen. Die ständige Suche nach Netzempfang zehrt nämlich am Akku. Als wir Halle/Saale nach drei Stunden Fahrt (und auf die Minute pünktlich) erreichten, stand mein Batteriezeichen noch bei 33 Prozent.
In Halle empfing mich frische Luft und ein angenehmer Wind. Das Haar saß auch und so wechselte ich bequem zu Gleis 10 - gerade genug Zeit, um die Glieder zu strecken - und stieg direkt in meinen Anschlusszug, die S-Bahn Richtung Leipzig Hauptbahnhof. Hier gab es einige Steckdosen, jedoch an Stellen, die erstens belegt und zweitens nicht gut zu erreichen waren. Doch egal, mittlerweile hatte mich sowieso der Ehrgeiz gepackt, es mit der Akkuladung bis Dresden zu schaffen. Die spannendere Frage war: Würde ich wirklich ohne jegliche Zwischenfälle und Verspätungen bis Dresden durchkommen?
Während ich darüber nachsann, blieb der Zug auf offener Strecke stehen, 500 Meter vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Unkommentiert durch jedwedes Personal bauten wir eine Verspätung von sechs Minuten auf, rollten an und kamen schließlich in einem gesichtslosen Tunnel zum Stillstand. Dann wurde statt Hauptbahnhof als nächster Stopp "Leipzig Markt" durchgesagt und ich dachte, dies sei nicht das erste Mal, dass ein großer Bahnhof unkommentiert umfahren wird. Doch drei Minuten später standen wir tatsächlich an Gleis 1 des Hauptbahnhofes.
Ein riesiger Glücksfall?
Die Zeit reichte, um entspannt in den Regionalexpress nach Dresden zu steigen und sogar noch früh genug da zu sein, um einen Sitzplatz zu ergattern. Denn dieser Zug war wirklich voll. Viele Menschen mussten stehen und mir wurde erneut bewusst, wie schon ein einzelner Neuzugang im Abteil das Geruchsbild des Raumes komplett verändern kann. Mit drei Minuten Verspätung und 24 Prozent Akkuladung verließen wir Leipzig. Gefühlt waren die Menschen in diesem Zug am diversesten. Das könnte aber auch an der schieren Menge liegen. Neben mir sprach ein Paar in einer geheimnisvollen Sprache und ich verwandte drei Prozent meiner übrigen Handyladung auf die Recherche, dass es dänisch war.
Kurz vor Dresden erreichte uns der Zugbegleiter und nun, an diesem Punkt, kurz vor dem Ziel, wurde mir bewusst, was ich heute für ein Glück gehabt hatte. Die Frau besten Alters mir gegenüber, die mit den Konzertbuttons an der Jacke, reichte dem Kontrolleur ihr Ticket und auf seine Feststellung dass ihr IC in Halle leider ausgefallen war, antwortete sie mit einem nachdrücklichen "Hörnse off!" und schaute mit Nachdruck in die andere Richtung. Vermutlich wusste der Zugbegleiter, warum er gerade auf dieser Strecke einen Security-Azubi dabei hatte.
Ich erreichte Dresden mit vier Minuten Verspätung, was ja bei der Bahn als pünktlich gilt. Und sechs Prozent Handyladung hatte ich auch noch übrig.
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