MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche (Folge 75) Ungenaue Leichenschauen - Wenn Morde nicht erkannt werden
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Wenn ein Mensch stirbt, muss ein Arzt den Tod feststellen. Immer wieder kommt es aber vor, dass dieser auf dem Totenschein „natürliche Todesursache“ ankreuzt und Morde übersehen werden. Kriminalreporterin Nadja Malak ist diesen Fällen nachgegangen und hat gefragt, was sich ändern muss, damit das nicht passiert.
Esther Stephan (EH): Als die Oma von Yvonne H. 2018 gestorben ist, scheint zunächst alles normal zu sein, und auch eine Ärztin hat damals eine natürliche Todesursache bescheinigt. Aber Yvonne H. fallen damals schon ein paar Merkwürdigkeiten zu Hause auf.
Die Schuhe lagen komisch im Flur und es waren einige Kleinigkeiten, wo ich halt gedacht habe: Irgendwas stimmt hier nicht. Aber wenn dann eine Ärztin zu dir sagt: friedlich eingeschlafen. Ja, dann gehste davon aus, dass es so ist.
ES: Später stellt sich raus: Yvonne H.s Großmutter ist ermordet worden. Der Ärztin, die den Tod bescheinigt hat, ist das nicht aufgefallen. Wie kann das sein? Darüber sprechen wir heute bei "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Hier sprechen wir mit Journalist*innen über ihre Recherchen, das Thema und die Erlebnisse während der Dreharbeiten. Ich bin Esther Stephan, ich arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks und ich spreche heute mit der Reporterin Nadja Malak. Hallo Nadja!
Nadja Malak (NM): Hallo Esther!
ES: Lass uns mal jetzt zum Einstieg, ganz am Anfang, beziehungsweise ganz am Ende anfangen. Da stirbt ein Mensch. Und was passiert dann?
NM: Das hängt so ein bisschen davon ab, ich sage mal in Anführungszeichen, in welchem "Setting" der stirbt. Also stirbt er auf der Straße und hat das sprichwörtliche Messer im Rücken, dann kommt die Polizei, und dann kommt die Mordkommission und der Rechtsmediziner. Was mich aber interessierte, waren eher diese Todesfälle zu Hause. Die eben auch in meinem Fall dann auch zu Problemen geführt haben. Wo meist ältere Menschen muss man sagen, zuhause starben. Menschen, in einem Alter, wo man es auch erwarten kann, dass sie sterben, jenseits der 80, vielleicht auch schon ein bisschen krank. Und wenn man zuhause stirbt, dann, gerade, wenn es nicht tagsüber zu den Geschäftszeiten ist, kommt dann halt der Arzt, der gerade Bereitschaftsdienst hat und dann geht das Prozedere los. Der Tod muss erstmal festgestellt werden. Also ist dieser Mensch wirklich tot? Und dann muss die Todesursache festgestellt werden. Und aus der Todesursache heraus ergibt sich dann die Art des Todes. Also natürlicher Tod, unnatürlicher Tod oder vielleicht sogar eine Gewalteinwirkung? Tötungsdelikte also fremder Hand? Und das muss also dieser Arzt, der dann eben nach Hause kommt, zum Beispiel, wenn er zuhause gestorben ist, bescheinigen in einer Todesbescheinigung. Und da haben wir eben entdeckt in der Recherche, dass, nicht immer diese Todesbescheinigungen richtig sind.
ES: Das heißt aber, wenn du sagst der Arzt, die Ärztin, die gerade Bereitschaft hat - das könnte im Prinzip jeder sein? Also das könnte jetzt auch ein Augenarzt oder Zahnarzt machen?
NM: Genau. Also das ist ja das Schräge daran. Also das kassenärztliche System sieht halt auch vor, dass Bereitschaftsdienste von Ärzten übernommen werden, am Wochenende und nachts. Und es ist so, wiederum in den Bestattungsgesetzen wird das geregelt, die zwar von den Ländern gemacht werden, aber von jedem Bundesland einzeln, aber in der Regel sind die alle sehr ähnlich oder fast identisch. Jeder Arzt, der gerufen wird, ist verpflichtet, eine Todesbescheinigung auszustellen. Und es kann halt im Zweifel wirklich auch der Hautarzt sein, der Augenarzt, der Orthopäde, der eben jetzt gerade Bereitschaftsdienst hat. Und ja, das war wahrscheinlich auch bei den Fällen, die wir so gefunden haben der Fall, dass es eben keine Fachärzte waren.
ES: Okay, genau. Also es geht eben explizit um Morde beziehungsweise um Tötungsdelikte, die nicht entdeckt werden. Trotzdem: auch ein Augenarzt müsste doch eigentlich feststellen können: okay, da sind jetzt in so ganz drastischen Fällen zum Beispiel Würgemale zu erkennen. Da kann ich jetzt nicht davon ausgehen, dass das jetzt ein natürlicher Tod war. Woran liegt das denn, dass dann eben in solchen Fällen, vielleicht auch in weniger offensichtlichen Fällen, Morde nicht entdeckt werden? Wie kann das passieren?
NM: Das ist ein bisschen Spekulation. Also grundsätzlich muss man sagen: jeder Arzt lernt das ja in der Ausbildung, im Studium ist es ja auch ein Teil des Studiums. Dass sie das auch lernen, Leichenschauen durchzuführen. Also jeder Arzt und jede Ärztin müssen das eigentlich intus haben. Aber natürlich ist es eine lange Zeit her, auch oftmals das Studium. Da kommt ja eine lange Facharztausbildung dazu. Und dann ist es natürlich auch so, ich glaube, ein Grund ist, das Umgehen-können mit dem Tod. Es ist, glaube ich, für manche da vielleicht auch eine Schwelle. Also die ärztliche Leichenschau hat stattzufinden an dem komplett entkleideten Körper. Also die Leiche muss entkleidet werden, da muss dann oberflächlich angesehen werden. Es muss in alle Körperöffnungen geguckt werden. Und ich weiß es nicht, wenn man die Fälle, die wir jetzt gefunden haben, anguckt, waren es alles Fälle, wo beim genauen Hinsehen man es hätte erkennen können. Aber wir wissen es nur eben nicht genau, die Ärzte offenbar keine ordentliche Leichenschau gemacht haben. Also nicht am entkleideten Körper der Leiche, die Leiche komplett angesehen haben, sondern dann gesagt haben: ja, friedlicher Tod.
ES: Jetzt sind ja Kriminalfälle so eigentlich dein Spezialgebiet. Wie bist du denn genau zu diesem Thema jetzt eigentlich hingekommen? Also hat das Thema dich gefunden? Oder wie ist das passiert?
NM: Ja, das Thema hat eher mich gefunden, weil ich bin genau eben über Kriminalfälle dahin gekommen. Ich bin erst auf die Fälle gestoßen. Tötungsdelikte, die dann eben auch erst spät erkannt worden sind. Und habe dann eben auch weiter recherchiert und dann eben festgestellt oder mich selber ja auch gefragt: wie kann das passieren? Der erste Fall, der auch im Film vorkommt, mit dem ich konfrontiert worden bin, war ein Fall in Bayern. Bis vergangenes Jahr gab es in Bayern keine zweite Leichenschau. Da kommen wir gleich noch mal drauf zu sprechen. Und die Leiche wurde in Thüringen kremiert oder sollte dort eingeäschert werden. Und in Thüringen hat man dann entdeckt, dass diese Frau eben nicht natürlich gestorben ist, sondern dass, wie die Polizei so schön sagt, Gewalt gegen den Hals stattfand. Und da habe ich dann angefangen zu recherchieren: wie kann das sein? Bayern ist ein Sonderfall. Aber wie kann es dann auch in einem sächsischen Fall sein, wo auch die alte Dame tot im Bett lag und die Hausärztin gesagt hat: sie ist friedlich eingeschlafen. So kam es dann, dass ich darüber mich dann tiefer in diese Thematik Leichenschauen eingearbeitet haben.
ES: Und wie hast du da Leute gefunden, die überhaupt bereit sind, mit dir zu sprechen? Also ich kann mir vorstellen von allen Seiten ist es wirklich etwas, worüber man vielleicht jetzt auch wirklich nicht gerne spricht, also sowohl vielleicht Angehörige der Verstorbenen, als auch die Polizei, als auch Ärzt*innen? Konntest du da ganz einfach anrufen? Oder wie bist du zu denen gekommen?
NM: Eigentlich habe ich bei fast allen offene Türen eingerannt. Weil die Problematik ist schon bekannt, die wird aber auch nicht oft thematisiert. Die einzige Seite, wo ich selber natürlich auch sehr vorsichtig rangehe, mit viel Fingerspitzengefühl, ist natürlich die Seite der Angehörigen. Weil die natürlich immer sehr schwierig ist, auch wenn der Fall schon ein paar Jahre her ist und geklärt ist. Trotzdem machst du ja was mit diesen Menschen, wenn du die anfragst. Und wir erzählen ja die Geschichte eines Falles, den letztlich die Enkelin ja aufgedeckt hat. Und da habe ich eben in der Recherche des Kriminalfalls erstmal Kontakte gehabt mit der Polizei. Das war die Polizeidirektion Görlitz. Da kenne ich ganz viele Mitarbeiter auch der Pressestelle sehr gut. Wir haben ein sehr vertrauensvolles Verhältnis, und da hat man mir dann eben auch die Tür geöffnet, mit dem Ermittler zu sprechen, der jetzt nicht so gerne vor die Kamera geht, aber das sehr toll gemacht hat. Und in so einem Vorgespräch, mit dem Ermittler um ihn auch kennenzulernen, damit er auch mich kennenlernt. Das ist ja auch so eine Vertrauenssituation, die sich da entwickeln muss. War es dann so, dass er dann auch gesagt: Er hat auch mit Yvonne H. gesprochen und gemeinsam würden sie es machen und hat mir dann eben selber den Kontakt zur Enkelin des Mordopfers vermittelt. Also so ist es. Ich versuche es immer über eine Vertrauensebene zu machen und erstmal wertfrei und ohne Forderungen mit Menschen zu reden. Und dann hoffe ich, dass sie bereit sind, es zu machen. Wenn sie nicht bereit sind, es zu machen, dann ist es halt so. Da muss man dann eben sich andere Wege überlegen und die Geschichte zu erzählen.
ES: Jetzt war Yvonne H. tatsächlich aber sehr bereit zu erzählen. Was ist denn ihre Geschichte?
NM: Naja, man muss es noch mal ganz kurz vorneweg einschränken. Sie hat dann mit mir gesprochen. Ich war ja auch sehr dankbar, weil sie das sehr eindrücklich erzählt hat. Aber das ist halt oft, was Opfer auch sehr bewegt und beschäftigt. Sie hat sich nicht kenntlich gemacht. Also wir zeigen sie im Film nur unscharf, weil sie sagt, in ihrem Umfeld wissen das die Leute, was passiert ist. Aber sie möchte jetzt nicht irgendwie in den Supermarkt gehen und die Verkäuferin spricht sie dann an oder die Kassiererin spricht sie dann an. Das möchte sie nicht. Also das war so ein Zwischenweg, den wir dann eben gefunden haben. Sie erzählt uns die Geschichte. Wir machen sie aber ein bisschen unkenntlich, um sie davor auch einfach zu schützen, dass sie immer wieder damit konfrontiert wird. Und die Geschichte ihrer Oma ist schon heftig. Man muss vorneweg erzählen, dass Yvonne H. von ihrer Oma großgezogen wurde. Ihr Vater hat Selbstmord begangen, ihre Mutter hatte kein Interesse für sie. Und dann hat ihre Oma sie als kleines Kind genommen und großgezogen. Und deswegen ist das eher ihre Mama und das, was ihre Oma dann noch gemacht hat, ist später dann, sie war dann quasi noch mal die Oma, obwohl sie die Urgroßoma war, für ihre Kinder. Sie hatte ein sehr, sehr, sehr enges Verhältnis zu ihrer Oma und die war ihr sehr wichtig. Und das hat man auch in vielen Situationen in dem Interview gemerkt. Und sie kriegt eben eines Tages die Nachricht oder den Anruf von der Nachbarin, die sagt: deine Oma macht nicht auf, komm mal bitte. Und sie entdeckt dann ihre Oma leblos im Bett liegend, zugedeckt. Aber es waren so ein paar Sachen in der Wohnung und das haben wir ja auch gerade schon gehört, die ihr aufgefallen sind. Und dann kommt natürlich die Notärztin in dem Fall. Entschuldigung, nicht die Notärztin, sondern es war die Hausärztin, kommt dann und tröstet sie mit den Worten, ihre Oma sei friedlich eingeschlafen. Sie hat dann begonnen, so ein bisschen die Sachen zu regeln, das Konto anzugucken und erfährt dann von der Bank, dass die EC-Karte ihrer Oma benutzt worden ist. Zu einem Zeitpunkt, da war die Oma schon tot.
ES: Und das ist ja super gruselig!
NM: Was super gruselig ist, was sie auch komplett umgeworfen hat. Sie hatte ihre beste Freundin dabei, die sie in dieser ganzen Zeit auch unterstützt hat. Und sie sind dann gemeinsam zur Polizei, und die hat dementsprechend richtig und wirklich, sie sagte selbst, sie fühlte sich da extrem gut betreut, reagiert. Das heißt, man hat sie ernst genommen. Schon der erste Beamte, dem sie das gesagt hat. Und ab dem Moment lief dann sozusagen die polizeiliche Maschinerie an. Es gab direkt eine sogenannte polizeiliche Leichenschau. Die wird durchgeführt durch den Kriminaldauerdienst, in der Regel. Das heißt, da kommen erfahrene Polizisten hin und machen eben noch mal so eine Leichenschau, wie der Arzt sie eigentlich schon gemacht hat. Und die haben dann eben entdeckt: Ne, das deutet auf Gewalteinwirkung hin. Und dann geht es an die Staatsanwaltschaft. Dann wird eine Obduktion beantragt, und dann war das Mordfall plötzlich und eben kein natürlicher Tod mehr.
ES: Okay. Aber da geht dann jetzt so diese ganze Maschinerie los. Das geht dann irgendwann vor Gericht. Und das Ganze ist dann ein Mordfall. Kann denn diese ungenau durchgeführte Leichenschau denn dann auch für den Arzt, die Ärztin denn irgendwelche Konsequenzen haben?
NM: Die Ärztin wurde nicht belangt. Da gibt es auch, glaube ich, gar keine rechtliche Grundlage dafür, die wirklich zu belangen. Das ist einfach ein ärztlicher Fehler. Menschen dürfen Fehler machen. Ich hoffe, dass sie ein schlechtes Gewissen, hat heute noch. Es gibt einen anderen Fall. Über den reden wir ja auch noch. Da wurde der Arzt belangt, aber nicht aus einem ärztlichen Kunstfehler heraus oder Ähnliches, sondern aus einem anderen Grund.
ES: Bevor wir hier weitermachen, möchte ich gern noch auf einen anderen Podcast aus dem MDR hinweisen. Die Kolleg*innen vom Podcast "Spur der Täter" haben die Bundespolizei auf der Spur von Menschenschmugglern begleitet. Die schleusen seit Jahren Menschen aus Vietnam nach Europa, wo diese Menschen in sklavenähnlichen Bedingungen in Massagestudios, Restaurants, Schlachtbetrieben und auch in Nagelstudios arbeiten müssen. "Spur der Täter" berichtet darüber, wie der Schleuserring letztendlich zerschlagen werden konnte und warum sich junge Vietnamesinnen und Vietnamesen überhaupt auf den Weg nach Europa machen und hier dann in Abhängigkeiten geraten. Die neue Folge "Gefangen in moderner Sklaverei", die gibt es ab jetzt unter anderem in der ARD Audiothek.
Ich komme zurück zu dir, liebe Nadja. Lass uns direkt mal über den Fall reden, den du gerade angesprochen hast. Da gibt's im Film eine Szene, die habe ich als sehr eindrücklich empfunden. Da bist du im Gespräch mit Professor Steffen Heide, und der ist der Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in Dresden, und ihr schaut euch eben die Verletzungen dieser Person an. Lass uns das einmal anhören.
Also das ist an einer Stelle, die eigentlich geschützt ist, wenn man darauf fällt. Wenn ich jetzt zum Beispiel auch ungebremst nach vorn falle, dann habe ich als Erstes das Gesicht und den Brustkorb und der Hals liegt tiefer. Also sollte das bei einem Sturzgeschehen nicht betroffen sein. Und zur Unterscheidung von eventuellen Würgemalen kommt es natürlich darauf an, ob wir auch andere Erstickungs-Befunde haben, wie zum Beispiel punktförmige Blutungen in den Augen und Bindehäuten der Mundschleimhaut, Hinterohrregion, ob wir bei der inneren Leichenschau überblähte, trockene Lungen haben, das muss man dann also in der Gesamtbetrachtung sehen. Und wenn das hier so eine flächenhafte Unterblutung ist, dann spricht das dafür, dass eben hier eine stumpfe Gewalteinwirkung zum Beispiel in Form von Schlägen oder Dritten erfolgt ist.
ES: Und bei dieser Frau, der diese Verletzung zugefügt wurden, wurde trotzdem auf dem Totenschein, trotz dieser ganzen Verletzungen angekreuzt "Natürliche Todesursache". Wie war das für dich? Wenn du solche Bilder siehst, wie ist es dann für dich als Reporterin?
NM: Dadurch, dass ich schon sehr lange mich auch auf Kriminalfälle auf Kriminalermittlungen spezialisiert habe, sind es nicht die ersten Bildmappen auch, die ich sehe, also die ersten Toten, die ich sehe. Der Tod ist nie schön. Nie. Auch, glaube ich, nicht beim Menschen, die wirklich sprichwörtlich, dann auch wirklich friedlich eingeschlafen sind. Ich glaube, der Tod ist nie schön. Es sind immer schlimme Bilder. Also die mich immer berühren. Und das versuche ich dann so ein bisschen in eine Rationalität umzuwandeln, um mir so eine kleine Mauer auch vorzubauen, indem ich einfach das sehr analytisch sehe. Und er hat natürlich Professor Heide, indem er mir das sehr genau erklärt hat diese Verletzungsmuster, hat da auch sehr geholfen. Weil ich konnte mich dann sehr auf diese Verletzungen konzentrieren und habe es für diesen Moment, vielleicht klingt es komisch, aber ich habe es geschafft, einfach diesen Menschen da so ein bisschen auszublenden, weil wenn ich diesen Menschen, diese alte Dame, da immer vor mir gehabt hätte, hätte mich das wahrscheinlich sehr mitgenommen. Und man muss auch, glaube ich, manchmal als Journalist, wenn man mit so etwas arbeitet, sich so ein kleines Schutzschild bauen. Und das ist meine Möglichkeit, mich da einfach, so eine kleine Mauer, Barriere zu haben, um diese Sachen einfach auch auf Dauer zu ertragen.
ES: Wie ist denn dieser Fall um diese alte Dame ausgegangen?
NM: Nicht so gut. Also, es ist spielte sich ich sage mal im Allgemeinen, also häusliche Gewalt war das. Es wurde dann auch Anklage erhoben gegen den Sohn und die Schwiegertochter dieser 76 Jahre alten Frau. Die kamen dann auch vor Gericht und mussten dann aber freigesprochen werden, und zwar weil ein genauer Tatnachweis, wer was gemacht hat, nicht mehr geführt werden konnte. Es war zwar klar es gab Verletzungen, aber die haben geschwiegen. Das ist ihr Recht. Und man konnte nicht nachweisen wer hat diese Verletzungen begangen? Wer hat letztlich diese alte Dame getötet und nach dem das das Gericht nicht nachweisen oder man nicht nachweisen konnte, mussten sie im Zweifel für den Angeklagten freigesprochen worden werden. Und das ist so ein Fall, wo ich sage: Mensch vielleicht, wäre es da besser gelaufen, wenn da direkt der Arzt das erkannt hätte und direkt die ordentliche Spurensicherung stattgefunden hätte. Weil dann gibt es natürlich Möglichkeiten, sozusagen tatrelevante Spuren einfach auch an dem Leichnam zu finden, wie zum Beispiel wirklich DNA an den Stellen, an denen sie verletzt worden ist. Das war nicht der Fall. Das ist natürlich erst nachdem sie gewaschen worden ist, viele Menschen sie noch mal berührt hatten, umgebettet haben. Und all diese Sachen. Das war natürlich dann nicht mehr möglich. Es ist dann aber trotzdem zu einem Urteil gekommen, und jetzt geht es eben darum, da wurde der Arzt verurteilt. Professor Heide hat das mir ganz schön geschildert. Er sagte da er hat sich da selbst ein bisschen für diesen Kollegen geschämt. Das war so, dass der Arzt dann also vor Gericht bei seiner Meinung blieb, dass sie friedlich eingeschlafen sei. Das sei ihm ja gesagt worden, und es hätte er ja auch gesehen. Und er hat sich dann offenbar wirklich hinreißen lassen vor Gericht als er mit den Bildern der Obduktion konfrontiert worden ist und hat gesagt, laut Herr Heide, das sei eine andere Leiche. Und er wurde wegen uneidlicher Falschaussage verurteilt.
ES: Okay also tatsächlich dann gar nicht für diese nicht korrekt ausgeführte Leichenschau, sondern eben für die Aussage.
NM: Genau. Nicht für den ärztlichen Fehler, sondern eben für diese Falschaussage.
ES: Wie groß ist denn dieses Problem? Also muss man tatsächlich davon ausgehen, dass es sehr viel mehr Tötungen in Deutschland dementsprechend gibt, wenn so viele unentdeckt sind?
NM: Es gibt gar keine Zahlen und das große Problem - Ich hatte auch versucht über die rechtsmedizinischen Institute, die ja sehr oft auch diese zweiten Leichenschauen, die sehr wichtig sind, die ja auch bei diesem Fall, den wir jetzt gerade erzählt haben, hat es Herr Professor Heide bei der zweiten Leichenschau vor der Einäscherung entdeckt. Und ich habe mal versucht, Zahlen zu bekommen, wie oft diese Einäscherungen gestoppt werden. Das wird nicht erfasst. Jedes Bundeland regelt das anders. Mal geht es ans Gesundheitsamt, mal machen das Amtsärzte. Das ist sehr schwierig, da verlässliche Zahlen zu bekommen. Es gibt Schätzungen, da sagt man: auf jedes Tötungsdelikt kommt ein weiteres unerkanntes. Das sind aber halt nur Schätzungen. Belegen kann man es nicht.
ES: Was muss sich denn ändern, damit dieses Verhältnisses verändert? Also dass eben nicht mehr so viele unentdeckte Morde gibt. Ist da die Lösung, mehr dieser zweiten Leichenschauen durchzuführen, die ja nur durchgeführt werden, wenn es Zweifel gibt oder wenn die Person eingeäschert werden sollen.
NM: Die gibt es. Also die zweite Leichenschau wird in Deutschland nur durchgeführt vor Einäscherungen. Oder ich glaube, wenn die Leiche ins Ausland überführt werden soll. Aber das hängt auch damit zusammen, dass man gesagt hat, so nach dem Motto: naja, bei einer Erdbestattung kann man ja die Leiche noch einmal Ausbuddeln und noch mal nachsehen. Es gibt eine zweite Leichenschau, so eine Art Rettungsfallschirm oder nochmal eine Qualitätskontrolle nur bei allen Einäscherungen. Die sind in Deutschland mittlerweile in der Mehrzahl. Aber bei Erdbestattungen finden die gar nicht statt. Das ist eine Möglichkeit. Aber das ist auch nur eine Möglichkeit, um äußere Verletzungen zu erkennen, was darüber hinaus geschehen ist, eine Überdosierung an Medikamenten, Gifte etc., das kann bei so einer zweiten Leichenschau auch nicht erkannt werden.
ES: Das heißt, dazu müsste man dann obduzieren?
NM: Dazu müsste man obduzieren oder Hinweise eben zum Beispiel schon sozusagen im in Anführungszeichen "am Tatort" finden, dass da Medikamentenflaschen stehen oder Ähnliches. Einfach wo man zumindest einen Anhalt dafür haben können, dass man dann noch mal genauer hinschaut. Grundsätzlich ist Deutschland ein Land, die sehr wenig obduzieren. Also in Deutschland ist die Obduktionsrate im Vergleich auch in Europa sehr gering, die liegt bei vier oder fünf Prozent aller Todesfälle. Das müsste mehr werden. Aber man kann natürlich auch nicht den Rechtsmedizinern und Rechtsmedizinerinnen dies jetzt alles überhelfen. Es sind einfach viel zu wenig von ihnen in Deutschland. Diese ärztliche Leichenschau, das müssen einfach die Ärzte, die Bereitschaft haben, mit übernehmen. Und die müssen besser ausgebildet werden. Also die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin forderte eine intensive Ausbildung, um einfach diese Ärzte dafür zu schulen. Weil Todesfall ist nicht gleich Todesfall. Es gibt so viele unterschiedliche Szenarien, dass man da die Ärzte einfach auch ein bisschen ausbilden muss oder die eben viel mehr wissen müssen, als haste keinen Puls bist du tot, ich übertreibe jetzt ein bisschen. Eine große Forderung ist eben eine wesentlich bessere Ausbildung der Ärzte, die das durchführen. Und da, glaube ich, könnte man schon viele unnatürliche Tode entdecken. Dann heißt es, dann muss die Polizei kommen. Und dann würde das erstmal den Weg gehen. Dann würde es eine Todesermittlung geben und dann vielleicht auch mehr Mordfälle oder Tötungsdelikte, die dann eben direkt auf dem ersten Weg erkannt werden.
ES: Jetzt ist der Tod von Yvonne H.‘s Oma knappe fünf Jahre her. Weißt du, wie es ihr mittlerweile geht mit dem Schock und in ihrem Leben, dass eben ihre Zieh-Mutter ermordet wurde?
NM: Sie lebt. Sie ist eigentlich auch eine sehr fröhliche Frau. Wirklich. Also ich habe auch mit ihr bei dem Dreh gelacht. Wahnsinnige, sympathische Frau. Aber, ich glaube, auch aus diesem Grund, weil sie es doch auch immer noch anfasst und bewegt, wollte sie auch nicht erkannt werden. Es ist schon was, was sie sehr beschäftigt, immer noch. Was sie auch immer mit sich trägt. Weil sie sagt halt auch, sie weiß halt nicht, wie lange ihre Oma noch gehabt hätte mit ihr und mit ihren Kindern. Und das, glaube ich, nagt an ihr.
ES: Nadja Malak, danke, dass du dir die Zeit genommen hast!
NM: Gerne!
ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Der Film über unqualifizierte Leichenschauen, den finden Sie in der Reihe exactly ab Montag, den 10. April 2023 in der ARD Mediathek und auch bei YouTube. Nächstes Mal hören Sie dann an dieser Stelle wieder meine Kollegin Secilia Kloppmann und das ist in zwei Wochen am 21. April. Machen Sie es gut und bleiben Sie gesund!
Dieses Thema im Programm: MDR+ | Exactly | 07. April 2023 | 12:00 Uhr