Collage - Zwei Personenn vor einem Plattenbau
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MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche (Folge 44) Podcast-Transkript: Zwischen Armut und Aufbruch

Audiotranskription

11. Februar 2022, 13:27 Uhr

Die Plattenbausiedlung Leipzig-Grünau ist das Zuhause von fast 50.000 Menschen. Die in der DDR beliebten Neubausiedlungen haben heute einen schlechten Ruf. Was ist dran am Klischee Platte?

Esther Stephan (ES): Sie hören den Podcast „MDR Investigativ - Hinter der Recherche“. Ich bin Esther Stephan und arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks.

Die ostdeutsche Plattenbausiedlung - für Menschen, die noch nie in einem der Wohnblocks und Hochhäuser gewohnt haben, bedeutet das häufig: Armut, Alkohol und Arbeitslosigkeit. In Leipzig gibt es die Großwohnsiedlung Grünau. Und wenn Außenstehende und Menschen, die hier leben, den Stadtteil manchmal schief anschauen, sie ist das Zuhause von fast 50.000 Menschen. Der Musiker Padshah, der hier aufgewachsen ist, hat Grünau sogar einen Song gewidmet. Mein Kollege Fabian Held, der es nach Grünau gefahren und hat dort eine Menge interessanter Menschen getroffen. Hallo Fabian!

Fabian Held (FH): Hi, schön hier zu sein!

ES: Ja danke, dass du da bist! Kannst du einmal für alle Hörer*innen, die nicht aus Leipzig kommen und gar nicht genau wissen, wovon wir hier sprechen, erzählen, was die Siedlung Grünau, der Stadtteil, eigentlich ist?

FH: Ja, man hat das früher auch immer gern mal so ein bisschen als Satellitenstadt bezeichnet. Weil das wie so eine Stadt in der Stadt ist. Also man muss ich so vorstellen: Leipzig ist eine seit vielen hundert Jahren gewachsene Stadt, wie man das so kennt. Und dann so ein bisschen im südwestlichen Rand der Stadt ist noch mal eine Stadt entstanden. Da wohnen aktuell so um die 45.000 Menschen, und es ist eben ein Stadtteil, der total dadurch geprägt ist, dass da eben ganz viele Plattenbausiedlungen sind. Alte Wohnblöcke, wie man das so ein bisschen sich so vorstellt, wie das früher in der DDR aussah. Auch wenn das natürlich ein Klischee ist. Das ist im Prinzip Grünau und ja, ein ganz spannendes Viertel.

ES: Hast du denn selber schonmal in einer Platte gewohnt?

FH: Nein, ich habe tatsächlich nicht in der Platte gewohnt. Deswegen hatte ich, du hast es jetzt gerade schon am Anfang erwähnt, auch einige Vorurteile, als ich dahin gegangen bin. Und das war ja auch das spannende, für mich zumindest ganz persönlich an dieser Recherche.

ES: Was für Vorurteile hattest du? Haben die sich gedeckt mit dem Titel von deinem Film "Nur Armut und Drogen"?

FH: So ein Titel ist natürlich immer so ein bisschen reißerisch, um bei den Leuten ein bisschen das Interesse zu wecken. Aber natürlich hatte ich diese Klischees, glaube ich, vor allem deshalb, weil ich nie wirklich darüber nachgedacht habe. Also ich habe dann halt immer gedacht: okay, in der Platte, da wohnen ja nur Menschen, die dort wohnen müssen. Weil sie sich keine andere Wohnung leisten können. Und hab denen so ein bisschen die bewusste Entscheidung, in der Platte zu wohnen, abgesprochen. Also, dass sie das vielleicht gar nicht machen, weil sie es wollen, sondern weil sie es müssen. Und dass dadurch halt irgendwie soziale Brennpunkte entstehen und da sehr viel Kriminalität ist, Menschen, die in irgendeiner Form drogenabhängig sind. Ob es jetzt Alkohol ist oder andere Dinge. So das waren schon so ein bisschen die Klischees. Hatte irgendwie gedacht, Arbeitslosenquote sehr hoch, so die Richtung. Das waren so die Klischees.

ES: Ich habe gerade schon den Titel gesagt. Den Film hast du für exactly gemacht, das Youtube-Format der politischen Magazine. Worum geht es denn in dem Film genau? Und warum hast du dich eigentlich für Grünau entschieden? Also du hättest ja auch nach Halle-Neustadt reisen können.

FH: Das hätte man auch machen können. Es gibt ja in unserem Sendegebiet mehrere große Plattenbausiedlung. Halle-Neustadt ist da ja noch ein ganz bekanntes. Wir haben uns für Grünau entschieden, weil es A) das größte in Sachsen ist und – das muss man ja auch ehrlicherweise sagen – auch logistische Gründe. Weil wir mehrfach da waren und drehen. Das hat und auch einfach ein bisschen Reisezeit gespart. Und wir haben da auch sehr viel Zeit verbracht, lange gedreht, das war dann schon irgendwie ganz gut. Und ich glaube, dass man das schon stellvertretend sagen kann für diese größeren Siedlungen. Also das ist eben nicht nur so ein ganz kleines Plattenbauviertel, wo vielleicht einmal so zehn Blocks stehen. Sondern halt wirklich 45.000 Menschen. Das ist eine große Stadt. Also wenn das jetzt nicht in Leipzig integriert wäre. Und deswegen wollten wir so eine große Siedlung haben. Also rein stadtplanerisch gesehen besteht Leipzig Grünau auch aus mehreren Stadtteilen. Also es gibt nicht Leipzig-Grünau, sondern Grünau-West und Grünau-Mitte und so. Also das ist schon wirklich riesig. Wir wollten ein bisschen gucken, ob das wirklich so ein Mikrokosmos ist. Also dieses Stadt-in-der-Stadt-Gefühl, dass da die Menschen wie in einer Satellitenstadt, ich hatte es schonmal gesagt, so ein bisschen leben.

ES: Du hast gerade gesagt, du bist nach Grünau gefahren, um da vielleicht auch so ein bisschen deine eigenen Klischees anzupacken. Und auch die Klischees, die wahrscheinlich viele andere Leute auch haben. Also dass es viel Armut gibt, viel Kriminalität und Drogen. Und du hast dann Silvio getroffen, der ist 39 Jahre alt, ist in Grünau aufgewachsen. Zwischen 2010 und 2014 war er drogenabhängig, und mittlerweile ist er aber wieder clean. Und ich hab mich dann gefragt: Stimmt denn dann eigentlich das Klischee, dass es in der Platte viel Drogenkonsum gibt? Weil er scheint das zu bestätigen?

FH: Also das Problem ist also ein bisschen, dass es ja keine offizielle Stelle gibt, die Drogenabhängige registriert, so im Sinne von: wir melden uns alle hier "Hallo, ich bin drogenabhängig." Dadurch gibt es da keine so richtigen Zahlen. Ich kann das jetzt nur so subjektiv aus meinem Gefühl wiedergeben. Und da war es schon so, dass ich das Gefühl hatte, es ist mehr, als in anderen Vierteln von Leipzig. Aber es ist auf keinen Fall so, dass jetzt irgendwie Schnapsleichen reihenweise in den Straßen liegen oder Menschen, die sich irgendwie einen Schuss setzen und so etwas. Das auf keinen Fall. Ich glaube, was passiert ist, dass in Grünau eben so sehr viele Menschen auf engem Raum wohnen und dadurch auch Menschen, die einen Hang vielleicht auch dazu haben oder ein Interesse daran, Drogen zu nehmen, lernen sich einfach auch schnell kennen. Und dadurch war die Drogenszene, das war so mein Eindruck und das, was mir im Silvio auch schilderte unter anderem, sehr vernetzt. Es war sehr leicht, an Drogen zu kommen. Ich glaube, wenn man dann halt Bock darauf hat oder vielleicht irgendwie da eine Leerstelle in seinem Leben füllen will mit Drogen, dann geht das in Grünau sehr leicht. Und es ist halt eben auch schon so, dass es soziale Probleme in Grünau gibt. Und ich glaube, wenn Menschen halt so eine Perspektivlosigkeit haben, vielleicht gerade so um die Wendezeit rum in den Nullerjahren, irgendwie vielleicht nicht so die Perspektive für sich sehen. Plus, man irgendwie einen leichten Zugang zu Drogen hat, weil es eben eine gewisse Nähe und sehr viele Menschen auf einem engen Raum gibt. Ich glaube, dass das dann Umstände sind, in denen Drogenkonsum sich leicht entfalten kann.

ES: Und wie sieht es mit der Kriminalität aus? Du packst ja auch die Kriminalitätsstatistik von Leipzig aus, die zeichnet ja eigentlich ein anderes Bild?

FH: Ja voll. Das hat mich tatsächlich überrascht. Also so, dass es pro Kopf gemessen weniger Kriminalität gibt, als zum Beispiel in Leipzig Mitte. Das ist aber gefühlt so ein bisschen anders. Und da habe ich auch mit der Polizei darüber gesprochen. Das ist dann nicht im Film gelandet. Aber so der Hintergrund ist so ein bisschen, dass man vermutet, dass die Straftaten, die es gibt, eben sehr viel Aufmerksamkeit erregen. Also in der Zeit wo wir da gedreht haben, da gab es zum Beispiel zwei Überfälle auf dieselbe Tankstelle. Das war, vermutet man so ein bisschen, das hat mir die Polizei nicht bestätigt, Beschaffungskriminalität. Das hat sich natürlich in diesem Viertel rumgesprochen wie ein Lauffeuer. Und ich glaube, das ist das, was man in Grünau wahrnimmt. Da gibt es halt eher schwerere Straftaten, Jugendgangs, die andere verprügeln, die Jugendliche ausrauben, die dann einfach sehr viel Aufmerksamkeit erregen. Und dadurch ist die gefühlte Kriminalität viel höher als die statistisch gemessene. Und es ist auch definitiv so, dass niemand sagt, dass es in Gronau kein Problem mit Verbrechen gibt. Es wird zu schwarz gesehen oder schwärzer gesehen, als es eigentlich ist.

ES: Das ist vielleicht auch so ein bisschen ein Ding der Perspektive, dass Kriminalität, die mit Überfällen zu tun hat, auffälliger ist, als Steuerhinterziehung oder so.

FH: Total! Und das Zweite ist halt, dass du das in Grünau sehr geballt hast. Du hast es in Grünau-Mitte um das Allee Center, das kennen vielleicht einige, dieses Einkaufszentrum. Da ist dann nebendran die Stuttgarter Allee. Und da sind noch ein paar alte 16-Geschösser-Blocks, die aus der DDR noch übrig geblieben sind und die fast unsaniert sind. Und da wohnen wirklich Menschen mit geringstem Einkommen, und da ist die Kriminalitätsdichte sehr, sehr hoch. Das ist auch wirklich ein Brennpunkt. In den Vierteln drumherum, die jetzt eher so Richtung Seen gehen, eher ins Grünere, da gibt es viel weniger Kriminalität. Und so ist es halt auch, dass es dann innerhalb Grünau auch noch einmal im Brennpunkt gibt, da denken dann natürlich alle: oh Gott, da kann man nicht lang gehen und verallgemeinern das dann auf das ganze Viertel. Und das stimmt natürlich auch nicht.

ES: Apropos Verallgemeinerungen: du hast dich für deine Recherche auch in eine Kneipe in Grünau gesetzt und auch mitgearbeitet und hast da mit einen paar Leuten bei einem Bier gequatscht. Und die haben dir eben auch erzählt, warum sie in Grünau leben.

Ich fand es total interessant, dass es da um viel, viel mehr geht, als um den günstigen Wohnraum.

FH: Total! Ja, also es ist ja auch gar nicht mehr so, dass da alles superbillig ist. Also wir haben ja auch gedreht in so einem renovierten Block. Und da sind die Kaltmieten dann schon auch bei knapp 8,50 € für eine normale Wohnung und ich glaube 10,50 € kalt fürs Penthouse. Das ist dann schon auch krass. Also es gibt da schon auch Gefälle. Ich glaube, man muss da so grob unterscheiden. So zwei Kategorien, jetzt sehr stark vereinfacht. Die einen sind die, die schon sehr, sehr lange in Grünau leben, für die das Heimat ist. Und es gibt auch tatsächlich Menschen, die in Grünau ihr Leben gestartet haben, dann vielleicht mal woanders hingezogen sind, vielleicht auch beruflich umgezogen sind, und jetzt zurückkommen. Vielleicht beruflich auch erfolgreich waren und sich halt eben so ein bisschen höherpreisige Wohnungen in Grünau leisten können. Und die zweite Kategorie, die man halt auch nicht vergessen darf, ist dass, früher war das für die Menschen echt ein Gewinn nach Grünau zu ziehen, weil die Altbauwohnung so schlecht saniert waren. Dadurch sind so viele damals nach Grünau gezogen. Es wurden natürlich auch zugewiesen, diese Wohnungen. Aber die Menschen haben auch wirklich viele, viele, viele Jahre darauf gewartet, um in so eine Wohnung ziehen zu dürfen. Das war damals, um es jetzt mal ein bisschen flapsig zu sagen, der neue heiße Scheiß in die Platte zu ziehen. Und da haben sich eben Sozialstrukturen gebildet, das es dann Blocks gibt, in denen wohnen quasi immer exakt die gleichen Leute wie beim Einzug. Und für dies ist das natürlich eine Heimat und die wollen dann natürlich auch nicht weg. Heute ist es jetzt bei den jüngeren Generationen, die jetzt mit Grünau keine Berührungspunkte haben, ist es tendenziell schon er eine Preis-Leistungs-Abwägung. Da geht es jetzt nicht nur darum, dass Grünau wahnsinnig günstig ist, sondern was du als Leistung im Grünau auch haben kann. Das ist supergute Verkehrsanbindung an die Autobahn. Es gibt viele Pendler, die da wohnen. Du hast eine relativ nahe Versorgung mit Kitas, mit Schulen und so weiter und sofort. Du kriegst schneller Kita-Plätze. Du hast eine gute Nahversorgung mit Lebensmitteln. Es ist nicht unbedingt nur der Preis, aber ich sage mal Preis-Leistung spielt das schon eine Rolle.

ES: Da gibt es ja auch richtig so Luxuswohnungen, ausgebaut mit Dachterrasse und allem Drum und Dran.

FH: Absolut! Wir haben da auch gedreht, das ist echt richtig cool. Also als ich da oben stand war ich schon richtig geflasht. Und das sind dann halt eher Menschen, die vielleicht schon in Grünau aufgewachsen sind. Und dann halt irgendwie beruflich erfolgreich sind. Und es vielleicht Lust haben, zurück nach Grünau zu ziehen, weil vielleicht auch Eltern oder Familie da noch wohnen. Aber es gibt natürlich auch echt einfach, weil der Wohnraum in Leipzig im Zentrum so teuer ist, und das auch hier im Zentrum mittlerweile sehr viele Menschen mit viel Verkehr dicht aufeinander wohnen. Die halt sagen, sie wollen lieber nach Grünau, weil es da ruhiger ist, weil die Verkehrsinfrastruktur so ist, dass du wenig Straßenverkehr an den Blocks direkt hast. Du hast große Einfallsstraßen und wenn du dann ein bisschen weg wohnst, dann hast du echt eine gute Wohnqualität. Es ist nicht mehr so laut wie früher. Dadurch, dass viele Blocks auch abgerissen wurden, ist es nicht mehr so dicht an dicht. Und ich kann mir schon vorstellen, dass es für Menschen einen Reiz hat, die vielleicht sagen, sie wollen nicht unbedingt oder müssen nicht unbedingt im Stadtzentrum wohnen.

ES: Eine andere Person, die du getroffen hast, ist Yasemin. Und die ist übrigens auch eine Kollegin beim MDR. Die arbeitet aber einer anderen Redaktion. Und Yasemin hat als Kind oft die Ferien bei ihrer Oma in Grünau verbracht, dann später das Projekt Perspectives in Grünau auf die Beine gestellt. Und da können Menschen hin, die sich selbst als migrantisch, Schwarz oder jüdisch identifizieren und die dann mit ihr zusammen Kulturveranstaltungen organisieren können. Sie hat ja nie so richtig selber in Grünau gelebt, sondern ihre Oma war da. Warum hat sie das denn ausgerechnet in Grünau gestartet?

FH: Also ich glaube schon, dass das ein Stück weit auch ein Zufall war. Man muss da aber ganz klar das Heizhaus loben. Das ist so eine Anlaufstelle für Jugendliche. Dieser Verein, der dahintersteht, die sind aus meinem Erleben, so wie ich das festgestellt habe, wirklich sehr sehr rührig. Die wollen viel machen, auch für die jungen Leute, die da sind, Perspektiven aufzeigen. Und da ist es dann so, dass Yasemin da in einem anderen Projekt gearbeitet hat, in einem offenen Atelier, wo ja alle Menschen, alle Altersgruppen aller Schichten irgendwie hingehen können, basteln. Das haben wir dann ja auch in dem Film gemacht. Und dann ist es eben so gewesen, dass es einen neuen Fördertopf gab, den Yasemin auch ein bisschen mit angeschoben hat, sage ich mal, und sich dann eben die Möglichkeit ergeben hat, dieses Perspectives umzusetzen. Ich glaube, das war so ein bisschen Zufall, wenn man es rational betrachtet. Man könnte vielleicht auch Schicksal sagen oder Fügung, dass eben Yasemin genau bei diesem Träger eben im Heizhaus ist. Und ich glaube, der ist eigentlich wirklich der Grund, warum sie das jetzt auch in Grünau machen kann, weil er eben richtig geile Stadtteilarbeit macht und Yasemin eben Stadtteilarbeit machen wollte, auch noch mehr als - in Anführungszeichen – "nur" das offene Atelier, was auch schon großartig für sich ist. Es hat alles ein bisschen einfach, sehr gut gepasst, also ein bisschen gesucht und gefunden. Ich glaube, deswegen ist sie jetzt zurück nach Grünau.

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ES: Dieses Image, dass die Platte ein Ort ist, an dem viele Menschen mit geringem Einkommen wohnen und wo es viele Konflikte gibt, das ist eigentlich erst nach der Wende entstanden. Diese Neubausiedlungen waren nämlich in der DDR ein Weg, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken. Zur Erinnerung: Wohnungen mit Fernheizung und Bad waren damals alles andere als selbstverständlich. Und Leipzig-Grünau war damals die größte Siedlung ihrer Art. Professor Doktor Sigrun Kabisch ist Department Leiterin Department Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Und sie beschäftigt sich schon seit über 40 Jahren mit Leipzig-Grünau. Ich habe mit ihr über Grünau gesprochen und wie sich Grünau über die Jahre verändert hat.

ES: Hallo, Frau Kabisch!

Sigrun Kabisch (SK): Hallo!

ES: Leipzig-Grünau, das war ja mit knapp 36.000 Wohnungen für 100.000 Menschen eine der größten Plattenbausiedlungen ihrer Art. Welche Bedeutung hat denn die Siedlung Grünau für die DDR im Vergleich zu anderen Plattenbaugebieten wie zum Beispiel Marzahn-Hellersdorf oder Halle-Neustadt?

SK: Diese Plattenbausiedlung hatte eine sehr große Bedeutung. Das war ja die zweitgrößte damals in der DDR, zumindest von der Planung her. Und sie hatte ja für Leipzig eine sehr große Bedeutung. Um hier eben den Wohnungsmangel zu beseitigen. Das hatte genauso große Bedeutung, wie die anderen von Ihnen aufgezählten Beispiele. Natürlich hatte das auch für die gesamte DDR eine entsprechende Bedeutung. Das war ja im Rahmen des Wohnungsbauprogramms und da wurden ja zentrale Standorte ausgewählt. Und da war Leipzig-Grünau, als der zweitgrößte in der DDR geplant worden.

ES: Gerade zu Beginn wurde in den Plattenbauten ja auch sehr großzügig geplant, mit Kindergärten, Einkaufsmöglichkeiten und auch einem Kulturprogramm in nächster Nähe. In den Siedlungen wurde eigentlich die Idee der klassenlosen Gesellschaft konkret umgesetzt. Hat das funktioniert?

SK: Also zunächst erst einmal wurden die Großwohnsiedlungen so angelegt, dass sie nach sogenannten Wohnkomplexen strukturiert wurden. Das heißt also, für eine gewisse Anzahl von Menschen wurde dann jeweils ein Zentrum errichtet, und dort wurden die sozialen Infrastruktureinrichtungen angeboten. Es waren also Kindereinrichtungen, Schulen, das waren Versorgungseinrichtungen jeglicher Art, Einkaufseinrichtungen also. Insofern war das schon eine sehr vernünftige Struktur, nachdem diese Großwohnsiedlungen gebaut wurden und auch gegliedert worden sind. Also ich meine, die Stadtplaner damals, die hatten sich schon was dabei gedacht. Und die Wahrnehmung der Menschen, die dort hingezogen sind, war schon sehr positiv. Als Allererstes war natürlich die Zielstellung, dass man gute Wohnungen anbieten konnte und was dran politisch darum herum sich rankte mit dem, wie Sie das sagen, der einheitliche, sozialistische Mensch und so weiter, das waren sicherlich politische Parolen. Aber das war ja nun nicht der Lebensalltag. Deshalb sind ja die Menschen nicht dorthin gezogen. Und was eben auch gerne beschrieben wird, mit dieser merkwürdigen Verklausulierung, ist eben, dass es sehr wenige Unterschiede gab in der Sozialstruktur, unter den Bewohnern. Aber was eben sehr wichtig war, war eben der Sachverhalt, dass sehr viele junge Menschen dorthin gezogen sind. Also vorrangige junge Familien mit Kindern. Und die hatten ganz unterschiedliche Ausbildungen, vom akademischen bis zum Facharbeiterstandard. Die hatten relativ gleiche Bedingungen, man hat eben dort gelebt. Ob das nun zu einem einheitlichen Menschen geführt hat, also das wage ich zu bezweifeln. Dahinter stand natürlich eine gewisse Fragestellung, also die jeweiligen Klassenunterschiede zu nivellieren, also auszugleichen. Aber das war nicht für die Menschen vor Ort die allererste Zielstellung, um in eine Plattenbausiedlung zu ziehen.

ES: Sie haben gesagt, dass das gerade auch für diese jungen Familien sehr vernünftig war, dort zu wohnen. Mittlerweile hat die Platte ja eher einen schlechten Ruf. Wann und warum ist denn dieses Image dann gekippt?

SK: Naja, dieser schlechte Ruf. Der wird auch dadurch immer wieder verstärkt, weil solche Leute wie ihr Medienvertreter immer wieder da drauf rumhacken. Und das vor allen Dingen auch nach draußen immer so entsprechend weiter publizieren. Und das ist eine Frage des Wordings, also der Wortwahl, mit dem man bestimmte Gebiete charakterisiert. Und wenn man immer wieder sagt, das sind dort soziale Brennpunkte und ein schlechtes Image, und dort will keiner wohnen, dann ist das so eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ich weigere mich, das in meinen Mund zu nehmen und das dann auch entsprechend begründen zu wollen, weil das nach meinen Untersuchungsergebnissen nicht stimmt. Jede Großwohnsiedlungen, sie sagten ja zu Beginn, dass da über 40.000 Menschen mittlerweile dort wohnen, hat schöne Seiten, tolle Gebiete, Teilräume und welche, die nicht so toll sind. Und das entspricht dem Charakter jeder Stadt in dieser Größenordnung. Ja, da muss man also genau hinschauen. Und man muss genau analysieren, wo es eben Defizite gibt und wo es auch problematischere Zustände gibt. Aber man muss natürlich auch das Gegenteil hervorheben und man muss sehr sachlich und sehr differenziert damit umgehen.

ES: Sie haben schon von ihrer Forschung gesprochen. Sie beobachten Grünau jetzt schon seit ziemlich langer Zeit, seit über 40 Jahren. Und über diese lange Zeit Ihrer Studie hinweg, fühlen sich die Menschen, die in Grünau leben, konstant wohl. Diese Erhebung, die findet im Schnitt alle fünf Jahre statt. Die neueste, die ist noch gar nicht so lange her, die wurde 2020 durchgeführt. Was war denn da für Sie die wichtigste Erkenntnis, die sie aus der vergangenen Erhebung gezogen haben?

SK: Also zunächst erst einmal gibt es nur wichtige Erkenntnisse. Und interessant ist ja auch vor allen Dingen, dass man diese Studie eben auch ich mit meinen Mitarbeitern über diese lange Zeit überhaupt durchführen konnte. Also ich behaupte, es gibt weltweit keine andere, Sie können mich ja gerne vom Gegenteil überzeugt. Na, da wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn ich das mal erfahren würde. Aber ich habe noch nichts gefunden. Und deshalb ist es eben so spannend, über einen langen Zeitraum aus wissenschaftlicher Perspektive die Entwicklung eines Gebietes nachvollziehen zu können. Es ist natürlich immer spannend zu sehen, welche Dynamiken sich ergeben auf der einen Seite, also welche Dynamiken, welche Veränderungen, auf der anderen Seite auch, welche Konstanten, also welche Persistenz. Also was uns gleich geblieben? Wir machen ja repräsentative Erhebungen im gesamten Gebiet, wir laufen also immer die gleichen Adressen an, nicht die gleichen Menschen, aber die gleichen Adressen. Und insofern können wir schon sagen, dass wir eine gewisse Langzeitbeobachtung, Langzeitperspektive vorlegen können. Und interessant war in der letzten Erhebung, dass die Wohnzufriedenheit nach wie vor recht hoch war. Dass mehr als zwei Drittel durchaus bestätigen, dass sie gerne in Grünau wohnen und dass sie auch vor allen Dingen gerne in ihrer Wohnung wohnen. Was aber auch überraschend war, war die Ungewissheit etwa eines Drittels der Befragten, die uns gesagt haben, sie können weder Ja noch Nein sagen. Also sie sind unentschieden. Oder sie wissen es nicht. Das heißt also, sie beobachten in jüngster Vergangenheit doch Veränderungen vor Ort, die ihnen kein klares Zukunftsbild oder eine klare Zukunftsentwicklung gestatten. Und das hat unterschiedliche Einflüsse. Und viele haben dann eben auch erwähnt, die ganze Thematik in der jüngsten Vergangenheit mit Bevölkerungsverlust und Abrissgeschehen, dann wieder Neubau, dann neue Zuzüge, dann wieder Wechsel von Nachbarschaft, sodass diese Dynamiken innerhalb des Gebietes für doch ein Drittel der Befragten also dazu geführt hat, dass sie eben keine klare Aussage über die weitere Entwicklung ihres Stadtteils von sich geben konnten. Das war schon interessant. Und eine zweite, sehr spannende Geschichte war, dass wir uns natürlich über die Entwicklung hinsichtlich des Zusammenlebens mit Neugrünauern beschäftigt haben. Das heißt also mit Menschen, die seit 2015/16 nach Grünau in großem Maße zugezogen sind. Das sind also die migrantischen Mitbewohner*innen. Hier haben wir parallel zu unserer Erhebung unter den Grünauer*innen, die also schon längere Zeit dort leben, auch eine Analyse durchgeführt, wo wir uns nur dezidiert auf die migrantischen Mitbewohner konzentriert haben. Und mit denen haben wir Gruppendiskussionen durchgeführt, mit denen haben wir Einzelinterviews durchgeführt, weil da eine Fragebogenerhebung, wie Sie sich denken können, durchaus schwierig ist. Und diese Diskussionsrunden haben uns aber gezeigt, und das war das Überraschende für uns, dass gerade die Menschen, die mit ihren Familien neue nach Grünau gekommen sind, im Grunde die gleichen Kritiken und Schwachstellen identifiziert haben, wie alle anderen Bürger auch. Ja auch sie sehen den Müll und den Unrat. Auch sie sehen den Lärm. Auch sie sehen unfreundliche Menschen als Kritikpunkte, was wir eben auch von den anderen hören. Und ansonsten sehen sie auch diese positiven Seiten, nämlich sehr viel Grün, sehr gute Infrastrukturausstattung, die Nähe zu einem großen See oder die gute Verkehrsanbindung. Also da gab es gar nicht so starke Unterschiede, und das war schon bemerkenswert.

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ES: Frau Kabisch sagt, dass dieses Klischee der Platte, in der Menschen wohnen, die vielleicht einkommensschwach sind, dass das eigentlich überhaupt nicht stimmt. Das Klischee. Und dass es nur durch die Medien, also uns, produziert werde. Was ist denn dein Eindruck jetzt eigentlich nach dem Film, stimmt das?

FH: Ich finde es schon, dass sie da nicht ganz unrecht hat, dahingehend, dass es natürlich auch so ist, wenn man nicht so viel Zeit hat, wie in so einem 30 Minuten Film zu einem Stadtteil zu machen immer Verkürzungen vornehmen muss. Ich kenne das ja auch von meiner Arbeit. Manchmal hat man nicht die Zeit, die Ruhe, den Raum, um so einen Stadtteil wirklich zu beleuchten. Dann fällt man zurück auf Klischees auf so Allgemeinplätze und Phrasen. Ich glaube das ist, was Frau Kabisch da auch stört und was sie auch zurecht anspricht. Und ich glaube, das kann man auch nicht von den Menschen verlangen, immer zu allem nur eine zu hundert Prozent differenzierte Meinung zu haben. Es war mein Wunsch und auch mein Gefühl nach dem Film, ich möchte den Menschen gerne vermitteln, dass man es eben differenziert sehen soll. Dass man auch mal Widersprüche zulassen soll, dass es eben so ist, das Leipzig-Grünau, ein schöner Stadtteil sein kann und gleichzeitig irgendwie ein Problem mit Menschen haben kann die Drogen nehmen und gleichzeitig Probleme haben kann, mit Kriminalität aber gleichzeitig auch schöne Kindheitserinnerung sein kann und auch irgendwie eine Zukunft hat und irgendwie auch schön sein kann und sich total wandelt. Und dass man eben es nicht so reduziert auf so ein paar Allgemeinplätze. Und deswegen war so ein bisschen bisschen der Wunsch oder auch die Idee, einfach mal ein bisschen hinter die Klischees zu gucken und das auch für mich bei mir selbst zu überprüfen. Ob das dann alles so stimmt, was man als Ideen im Kopf hat, wenn man an Grünau denkt. Einfach mal ein bisschen, sich selbst zu überprüfen, sage ich mal ganz salopp.

ES: Mit 50.000 Einwohnern ist es dann ja tatsächlich eher eine, fast eine Mittelstadt, als ein Viertel. Und da gibt es dann natürlich alles.

FH: Ja, größer als die Stadt, in der ich aufgewachsen bin!

ES: Fabian Held, Dankeschön!

FH: Sehr gerne!

ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Den Film, den Fabian Held gemacht hat, "Nur Armut und Drogen? Ist die Platte so mies wie ihr Ruf?" finden Sie in der ARD Mediathek und bei YouTube. Die nächste Folge unseres Podcast, die gibt es am 25. Februar und da geht es um Menschen, die Ostdeutschland verlassen, weil sie rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind. Dann wieder mit meiner Kollegin Secilia Kloppmann. Sie können jetzt übrigens gerne auch Bewertungen bei Spotify abgeben. Auf der Übersichtsseite unseres Podcast finden Sie den kleinen Stern unter dem "Folgen"-Button. Noch mehr freuen wir uns aber, wenn Sie direkt mit uns in Kontakt treten und uns eine E-Mail an investigativ@mdr.de schicken. Bleiben Sie gesund und bis zum nächsten Mal!

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 17. Januar 2022 | 18:00 Uhr

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