Klasse statt Masse Wie der Tatort Kult wurde
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01. April 2021, 07:00 Uhr
Bis heute gilt beim Fernsehen vor allem die Einschaltquote als wichtiges Kriterium für Erfolg. Regelmäßiger Abräumer in der ARD: Die Krimireihe "Tatort", die im November 2020 ihren 50. Geburtstag feierte. Top-Produktionen der Reihe, wie die nicht ganz so ernst gemeinten Krimis mit Kommissar Thiel und Professor Börne aus dem beschaulichen Münster, versammeln regelmäßig über 12 Millionen Menschen vor dem heimischen Endgerät und sorgen so für Marktanteile von bis zu 36 Prozent.
Das sind Traumwerte in einer Zeit, in der sich die vielen TV-Kanäle und die neuen Anbieter wie Mediatheken und Streamingdienste enorm untereinander Konkurrenz machen. Auch in Sachen Programmqualität zählt die "Tatort"-Reihe in die Königsklasse. Bei renommierten Fernsehauszeichnungen wie dem Grimme-Preis oder dem Deutschen Fernsehpreis gehören "Tatorte" regelmäßig zu den Abräumern. Das war aber nicht immer so.
Das Publikum ist ein scheues Reh
Denn was im Fernsehen gut läuft, ist immer auch stark von den jeweiligen Zeitumständen, Geschmäckern und gesellschaftspolitischen Diskussionen abhängig. Daher ist selbst bei bester Programmanalyse, Zuschauerbefragung und ausgeklügelten Testreihen Erfolg bis heute nicht planbar. Das Publikum ist nämlich trotz einer gewissen Trägheit wie ein scheues Reh - und alles andere als mathematisch berechenbar.
Der "Tatort" ist Spiegelbild der Programm-Entwicklung
Der "Tatort" der ARD ist da ein gutes Beispiel. Als die Reihe Ende November 1970 im Ersten Deutschen Fernsehen startete, hatte sie einerseits durchaus experimentellen Charakter. Der "Tatort" kam nicht wöchentlich, sondern viel seltener und unregelmäßiger. Die Länge der Filme war nicht wie heute auf 90 Minuten festgeschrieben, sondern variierte. In so manchem frühen "Tatort" der 1970er Jahre tauchte der Kommissar erst nach über einer halben Stunde in der Handlung auf. So etwas ist heute undenkbar. Bis zur ersten Kommissarin dauerte es dann noch einmal fast acht Jahre – bis zum Januar 1978. Zum Vergleich: Heute sind im Verhältnis mehr Kommissarinnen beim "Tatort" im Einsatz als im wahren Leben bei der echten Polizei.
Gesellschaftlich relevante Themen
Dabei hat der "Tatort" schon immer über die reine Krimi-Handlung hinaus versucht, gesellschaftspolitisch relevante Themen aufzunehmen. Schon die allererste Folge der Reihe im November 1970 "Taxi nach Leipzig" handelte am Rande von der deutschen Teilung und thematisierte die Vorgeschichte der Ermittler, die bereits im Dritten Reich bei der Polizei arbeiteten. Zwar hatte "Taxi nach Leipzig" einen für heutige Verhältnisse astronomischen Marktanteil von über 60 Prozent. Damals gab es aber auch nur Das Erste, das ZDF und die damals oft nur wenige Stunden am Tag sendenden Dritten Programme der ARD. Das Genre Krimi hatte es schwer, schließlich galt es als eher seichte Unterhaltung. Die am Fließband produzierten Edgar-Wallace-Kinofilme der 1950er und 1960er Jahre hatten hier die Haltung geprägt. Vor allem bei Deutschlands wichtigstem Fernsehpreis.
Veränderte Sicht auf TV-Qualität
Schon immer zählt der seit 1964 vergebene Grimme-Preis als Gradmesser für eine andere Kategorie von Erfolg im Fernsehen. In den ersten Jahrzehnten verstand sich der bis heute vom Deutschen Volkshochschulverband vergebene Preis aber als Auszeichnung für progressives Bildungsfernsehen. Unterhaltung und gerade der Krimi waren zunächst einmal nicht vorgesehen. Bis zum allerersten Grimme-Preis für einen Tatort dauerte es so bis zur 214. Folge: 1989 bekam der "Schimanski"-Tatort "Moltke" mit Götz George in der Hauptrolle einen Grimme-Preis, was für einige Diskussionen sorgte. Heute sind dagegen Krimis inklusive "Tatort" aus der Grimme-Preis-Kategorie "Fiktion" nicht mehr wegzudenken.
Erfolgreiches TV ist Teil des Zuschaueralltags
"Fernsehen ist Gewöhnungssache - bis sich hier der Erfolg bei den Zuschauern einstellt, kann das dauern", sagt der Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger. Sendungen, die wirklich Erfolg haben, "müssen Teil des Zuschaueralltags werden - wie es das der "Tatort" bis heute schafft". Dabei sei Erfolg aber nicht immer mit einem Massenpublikum gleichzusetzen. "Kult" funktioniere anders, so Hallenberger.
Vergnügen oder Quote?
Daher sind nach seiner Sicht die nackten Einschaltquoten bei der Bewertung von Programm und Erfolg ohnehin mit Vorsicht zu genießen. "Denn die Quote sagt ja nur: Das Programm war immerhin nicht so schlecht, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer umgeschaltet oder abgeschaltet haben", sagt Hallenberger.
Aber die Frage ist doch: Produziert das Ganze auch Vergnügen?
Ob jemand Spaß und Freude, ein besonderes Interesse oder einen anderen Gewinn durch das Gesehene hat, könne die Quote überhaupt nicht messen. Und genau hier, so Hallenberger, liege das Dilemma: "Schließlich macht doch gerade das eigentlich 'Erfolg' beim Fernsehen aus: Dass da etwas bleibt, dass die Menschen sich zum Beispiel über ein Programm unterhalten oder eine gesellschaftliche Diskussion angestoßen wird." Was ist also erfolgreicher - ein Programm, dass zwar statistisch viele Menschen schauen, sie aber eher kalt lässt? Oder ein kleines Publikum, dass dafür großes Vergnügen am Gesehenen hat? Hallenberger meint, Erfolg müsse in mindestens zwei Dimensionen gemessen werden - mit den absoluten Zahlen und mit dem, was er "Genuss der Zuschauenden" nennt.
Quizzshows als Ausdruck der Erfolgsgesellschaft
Nicht nur bei fiktionalen Stoffen lässt sich der gesellschaftliche Einfluss ablesen. Quizz-Shows gehören schon immer zum Fernsehen dazu. Von den 1950er bis in die 1970er Jahre waren sie in Westdeutschland das Abbild der Leistungsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. "Es musste etwas konkret gewusst werden", erklärt Hallenberger. "Heute leben wir dagegen in einer Erfolgsgesellschaft. Es kommt nicht mehr darauf an, etwas zu können. Sondern darauf, Erfolg zu haben, der sich zumeist in Geld bemisst - egal, wie man dort hin kommt." Daher seien heute im TV-Quizz Multiple-Choice-Fragen die Regel, bei denen man im Zweifel auch einfach raten kann - Publikumsjoker und andere Späße inklusive. "Das war früher undenkbar", sagt Hallenberger.
Fernsehen ist eigentlich konservativ
Dabei sei gerade das Fernsehen sehr "strukturkonservativ". Bestimmte etablierte Formate würden beispielsweise vor allem von den Privatsendern gekonnt auf die heutige Zeit und für ein jüngeres Publikum umgemodelt, blieben ihrem Kern aber treu. "In der Wissenschaft spricht man hier von einem 'Funktionsäquivalent'", so Hallenberger: "Die große Samstagabend-Show bei ARD oder ZDF aus den ersten TV-Jahrzehnten bis in die 1990er Jahren lebt heute in Formaten à la 'Schlag den Raab' weiter." Die dauerten dann schon mal vier Stunden, aber im Unterschied zu früheren Show-Generationen müsse man das auch nicht komplett in voller Länge gucken. Ein Erfolg sei das in jedem Fall trotzdem.
So abhängig Erfolg dabei von der Gesellschaft ist, die immer mal wieder neu definiert, was Erfolg eigentlich konkret bedeutet: Planbar wird Erfolg wohl nie, sagt Hallenberger: "Erfolg heißt immer, es ist auch ein Faktor 'x' Überraschung dabei, den man nicht vorhersehen kann."