Porträts von Dr. Iren Schulz und Prof. Gerald Hüther 38 min
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Was passiert, wenn Kinder zu früh oder zu viel Zeit mit Smartphone, Tablet und Co. verbringen? Dazu ein Gespräch mit einem Mediencoach, einem Neurobiologen und einer Heilpädagogin.

MDR FERNSEHEN Di 01.12.2020 15:21Uhr 37:38 min

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Begleiten oder Kontrollieren Medienkompetenz für Familien

14. Januar 2021, 17:25 Uhr

Ab wann sollten Kinder mit digitalen Medien Kontakt haben? Was passiert, wenn Kinder zu früh oder zu viel Zeit mit Smartphone, Tablet und Co. verbringen? Und was können Eltern tun, um ihre Kinder auf die digitale Welt vorzubereiten? All diese Fragen klären wir in unserem MEDIEN360G-Podcast und haben uns dazu Mediencoach Dr. Iren Schulz, Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther sowie Heilpädagogin Brigitte Herzog als Gesprächsgäste eingeladen.

Dagmar Weitbrecht: Der MEDIEN360G-Podcast zum Thema: Wie können Eltern ihre Kinder in eine digitale Welt begleiten. Ich bin Dagmar Weitbrecht und spreche mit der Medienpädagogin und Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Iren Schulz von der Universität Erfurt und dem Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther vom Institut für Potentialentfaltung in Göttingen. Wegen der Corona-Pandemie sind meine Gäste zugeschaltet, leider mit ein paar technischen Mängeln. Das bitte ich zu entschuldigen. Und nun genug der Vorrede - ich steige mal mit einem Zitat der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori ins Gespräch ein: "Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren. Wie offenbaren sich Kinder, Frau Schulz, beim Spielen?

Dr. Iren Schulz: Auf jeden Fall ist das ein wichtiges Kennzeichen und ein wichtiges Merkmal von Kindheit. Das gehört natürlich ganz wesentlich dazu. Und letztlich ist das Spiel der Beruf des Kindes und ganz grundlegend für die Entwicklungsphase.

Dagmar Weitbrecht: Herr Hüther, Sie haben sich ja ganz intensiv mit den Bedürfnissen der Kinder beschäftigt. Warum sind die so wichtig?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das, was die Kinder dazu bringt sich in die Welt hinaus zu wagen, sind Bedürfnisse. Da gibt es zwei, mit denen kommen sie schon auf die Welt. Das eine ist das Bedürfnis nach Verbundenheit und Geborgenheit. Das bringen sie sozusagen schon aus dem Mutterbauch mit. Das andere ist das Bedürfnis nach Gestaltung, sich selbst auszuprobieren. Später nennen wir das dann Autonomie und Freiheit. Sich selbst ausprobieren heißt, spielerisch zu erkunden, was alles geht. Das müssen die Kinder machen, weil auf diese Weise die in ihrem Hirn bereitgestellten Verknüpfungsangebote durch das eigene Tun, und das ist in diesem Falle das schönste Tun, das Spielen, stabilisiert werden. Deshalb probieren Kinder sich selber aus. Die probieren aus, was sie alles mit dem eigenen Körper machen können. Die probieren auch aus, was sie alles mit der Mama machen können. Und dabei lernen sie, wie es geht.

Dagmar Weitbrecht: Da gebe ich Ihnen unumwunden Recht. Ich war gestern in einer interdisziplinären Frühförderstelle des Christlichen Jugenddorfwerks in Erfurt und dort habe ich Brigitte Herzog getroffen. Die betreut seit 25 Jahren Kinder und Eltern, die Probleme haben und zunehmend auch durch den Einfluss von digitalen Medien. Sie hat mir erzählt, da sind nicht nur die Kinder betroffen.

Brigitte Herzog: Wir haben heute auch das Problem, dass viele junge Eltern durch Medien Hemmungen haben beispielsweise zu singen oder zu malen, weil sie sich dem Anspruch, der ihnen durch die Perfektionierung der vorgelebten Bilder im Fernsehen (gezeigt wird), (nicht gewachsen fühlen und sich) nicht zutrauen, spontan, unbefangen mit ihrem Kind umzugehen. Das erlebe ich immer wieder. In Eltern-Kind-Stunden versuchen wir in der Frühförderung den Eltern auch zu vermitteln, dass sie ihrem Kind eigentlich als Eltern genügen. Denn sie können auf jeden Fall besser singen als ihr Kind und können auf jeden Fall auch besser malen als ihr Kind und können dem Kind auch Dinge vorleben.

Dagmar Weitbrecht: Genau das Wort greife ich einfach mal auf, "Vorleben", und schmeiß‘ es in die Runde. Frau Schulz, Herr Hüther?

Dr. Iren Schulz: Ich würde mal kurz starten. Also zum einen ist es natürlich so, dass Eltern sich an den Medien orientieren und so diese "perfekten Vorbilder" finden. Andererseits kann man aber auch argumentieren, dass Medienangebote viele Vorschläge für Eltern machen, was man Kreatives mit Kindern machen kann. Tatsächlich geht es natürlich den Kindern immer auch darum, in Interaktion mit ihren Eltern zu sein. Aber eigentlich sind wir auch bei der Aussage ganz schnell bei dem Begriff "Medienkompetenz", der jetzt so ein riesen Begriff geworden ist. Gerade in diesem Jahr. (Der Begriff), der eigentlich in diesem Zusammenhang sagt, dass Eltern Werkzeuge brauchen und das, was sie da vorgesetzt bekommen in den Medien gut für sich zu bearbeiten und für sich und ihre Erziehung nutzbar zu machen. Also zu wissen, ich muss nicht so sein wie diese scheinbar perfekten Vorbilder. Aber es gibt auch Angebote in den Medien, die ich mir vielleicht zunutze machen kann, als Idee nehmen kann und für die direkte und unmittelbare Interaktion mit meinem Kind nutzen kann.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich kann verstehen, dass so viele Eltern Angst haben, irgendetwas falsch zu machen. Weil dauernd irgendjemand kommt mit dem erhobenen Zeigefinger, der ihnen sagt, wie gefährlich das ist, wenn sie dieses oder jenes nicht machen. Dann haben wir das Problem, was in dem Beitrag deutlich gemacht worden ist. Das ist so perfekt, was aus diesen digitalen Medien raus kommt, dass es einem förmlich die Sprache verschlägt. Dann traut man sich nicht mehr, weil man sich dann immer vergleicht mit diesen eingespielten und in die Geräte (eingegebenen) perfekten Leistungen. Das ist das eine. Das zweite ist: Eltern müssen Vorbilder sein. Ja, das ist natürlich klar. Aber da ist eben die Frage: “Wo muss ich Vorbild sein?“ Und zunächst erstmal müsste ich Vorbild sein als Eltern, dass mein Kind erlebt, dass ich es so wie es ist, erstmal ernst nehme. Dass ich ihm das Gefühl vermittele, so wie du bist, bist du total in Ordnung. Dann kann ich, wenn es irgendwie gut geht, dem Kind auch zeigen, dass mir das Leben Freude macht, dass ich an vielen Dingen Freude habe. Dass es toll ist, wenn ich Mittagessen koche oder wenn ich draußen spazieren gehe, wenn ich mit dem Kind auf den Spielplatz gehe. Wenn Kinder spüren, dass sie von Eltern begleitet werden, die Freude daran haben, dieses Kind zu begleiten, dann ist das eigentlich die wichtigste Vorbildrolle.

Dagmar Weitbrecht: Trotzdem ist die Lebensrealität oft ein bisschen anders: Eltern, die das Handy weder beim Essen noch bei anderen Tätigkeiten aus der Hand legen. Auch gerade kleine Kinder sehen das ja. Warum sollten gerade kleine Kinder nicht unbedingt Bildschirmkontakt haben?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das ist relativ klar, was da passiert. Die Kinder machen sich ja eine Vorstellung von der Welt. Wenn die Kuh auf dem Tablet in rosa - oder weiß der Kuckuck wie - angemalt ist und blökt oder muht. Wenn man mit dem Fingerdruck sozusagen die Kuh herstellen kann und wieder wegmachen kann, dann ist das Vorstellungswelt, die da entsteht. Dann glauben die (Kinder), man könne mit einem Wisch und weg und Fingerdruck irgendwie alles mögliche herbeizaubern. Wenn sie dann vor einer richtigen Kuh stehen, wissen sie nicht was los ist und kriegen Angst.

Dagmar Weitbrecht: Sehen Sie das auch so Frau Schulz?

Dr. Iren Schulz: Das stimmt tatsächlich. Da würde ich zustimmen. Es ist ganz wichtig, dass die ersten Lebensjahre unmittelbare, echte Erfahrungen sind, dass die Kinder sprichwörtlich alles erleben, erfahren und riechen und schmecken. Das ist für die ersten Lebensjahre ganz wichtig. Aber man kommt eben dann irgendwann nicht umhin, in die Gesellschaft zu schauen und zu sehen, dass wir in einer mediatisierten Welt leben und dass man Kindern da auch auf die Sprünge hilft und ihnen da Werkzeuge in die Hand gibt, gut damit umzugehen und eben zu wissen, wenn ich auf die Kuh drücke und die verschwindet, dann ist das hier im Tablet, aber nicht in der echten Welt. Das zu differenzieren und zu sagen: "Aber aus Spaß mache ich das trotzdem eine halbe Stunde am Tag, hier in meinem Spiel, Kühe hin- und her zu schieben."

Dagmar Weitbrecht: Frau Schulz, Sie haben die Nutzung von Handys zur Beschäftigung von Kleinkindern als "digitalen Schnuller" bezeichnet. Finde ich eine ganz geniale Wortwahl. Hören wir doch mal, was Brigitte Herzog berichtet, wie sie mit Kindern arbeitet, die diesen digitalen Schnuller bekommen haben.

Brigitte Herzog: Also wir werden mit Bilderbüchern arbeiten, mit Bildfolgen arbeiten. Ich bin musikalisch-rhythmisch sehr gut unterwegs. Ich spiele Gitarre. Es wird viel gesungen. Wenn ich merke, dass es auch im Elternhaus Defizite gibt, dass einfach der entwicklungsförderliche Rahmen für das Kind fehlt, dann ist die Elternarbeit zwingend erforderlich, dass man einfach den Eltern erklärt oder sie einfach dazu nimmt, ohne belehrend den Zeigefinger zu heben, sondern ihnen einfach zeigt, wie es geht. Dass wir mit den Kindern Bilderbücher angucken, dass wir mit den Kindern singen, tanzen, Spaß haben. Dieser Spaß mit dem Kind: Es gibt kaum eine Mutter, die das dann nicht irgendwo mit sich mit nach Hause nimmt. Und alles, was ich mit Freude selber erlebe, ob das eine Erwachsene ist oder Kind, dann habe ich eben auch immer das Bedürfnis, das zu wiederholen. Das ist mein Ziel. Mein Ziel ist, dass die Mutter glücklich rausgeht aus einer Eltern-Kind-Stunde und dann Zuhause das auch wiederholt. Wir merken das, wenn die Eltern dann kommen vor Weihnachten und fragen: "Was soll ich schenken? Was ist denn gut für mein Kind jetzt in der Entwicklung? Was ist ein sinnvolles Spielzeug?" Wenn vorher eben nur Spielzeug gekauft wurde, das piept und quiekt und bunte Bildchen drauf sind und was eben eigentlich ähnlich wie ein Handy nur schnelle Bilder produziert, was die Kinder vom Gehirn her noch gar nicht verarbeiten können. Dann ist natürlich so eine Frage so wertvoll und so nachhaltig, wo auf einmal dieser Entwicklungsprozess bei den Eltern bewusster wird. Was ist sinnvolles Spielzeug oder was bringt mein Kind voran? Und das ist ein ganz, ganz großer Erfolg, wenn wir die Eltern dann mit im Boot haben.

Dagmar Weitbrecht: Eltern mit ins Boot holen, sagt Frau Herzog. Wie sehen Sie das, Herr Hüther? Frau Schulz?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das ist jetzt ein so schöner Beitrag gewesen, dass ich ganz begeistert bin, weil wir es ja auch aus der Neurobiologie wissen. Man kann einen anderen Menschen nicht verändern. Das ist eine Vorstellung, die wir alle im Kopf haben. Aber in Wirklichkeit geht es ja nicht. Der andere ändert sich nur dann, wenn er will. Das würde er nur dann machen, wenn das, was er da erlebt, auch für ihn schön ist. Dieser Einsatz, der gefällt mir deshalb so gut, weil die Eltern plötzlich Freude daran haben, ihr Kind zu beobachten. In Wirklichkeit ist es ja so, dass manchmal zumindest Eltern begreifen, dass dieses Kind für sie ein Geschenk ist. Das Kind ist noch so lebendig, das hat noch so seine ganzen Bedürfnisse. Es zeigt sich so offen. Es ist so unverstellt. Es hat noch nicht so viele Vorstellungen im Kopf, die es daran hindern, seine Lebendigkeit auch wirklich zu leben, sodass der Kontakt zu einem Kind und der Umgang mit einem Kind fast wie eine Art Wiederbelebung ist für jemanden, der den ganzen Tag immerzu nur funktionieren muss.

Dagmar Weitbrecht: Aber (man) muss sich darauf einlassen, Herr Hüther.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das ist ja das große Geschenk, das alle Kinder mit auf die Welt bringen, dass sie in der Lage sind, auch schon in bestimmten Mustern gefangene Eltern wieder zu befreien. So rum kann man das auch mal betrachten. Vielleicht müssen wir gar nicht unsere Kinder unterrichten. Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns mal anschauen, wie lebendig die noch sind.

Dr. Iren Schulz: Also ich finde es ganz toll, diese Expertise der Kinder auch anzuerkennen, Kinder zu sehen, sich auf Kinder einzulassen und darüber auch als Erwachsener wieder neue Perspektiven zu haben und auch wieder ein Stückchen aus den Zwängen raus zu kommen. Weil wir parallel über Medien reden, sagen wir ja von Schau hin! immer, sich mal auf Augenhöhe der Kinder zu begeben und zu gucken, aus welcher Perspektive und mit welchen Bedürfnissen sie sich auch medialen Angeboten zuwenden, um das zu verstehen und dann auch sinnvoll, erzieherisch reagieren zu können.

Dagmar Weitbrecht: Ich habe mir im Vorfeld eine Studie angeschaut, des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet aus dem Jahr 2019. Da sind Daten ermittelt worden, welche Geräte von Kindern genutzt werden. Da kam raus: 50 Prozent der Fünfjährigen spielen schon mit einer Spielkonsole, und bei den Siebenjährigen sind es schon 64 Prozent. Das Spielen steht zwar im Vordergrund, trotzdem habe ich da so ein innerliches Fragezeichen. Aber Väter geben zum Beispiel an, das macht ihn total Spaß, mit den Kindern zu spielen. Gut oder schlecht. Frau Schulz, Herr Hüther?

Dr. Iren Schulz: Das ist schwer, so pauschal zu sein. Also erst mal hört (es) sich eher kritisch an. Da gebe ich Ihnen Recht. Also fünf Jahre ist sehr jung. Da wird sicherlich auch Herr Hüther sagen, das ist eigentlich ein Alter, wo das authentische Spielen ohne Bildschirme noch im Mittelpunkt stehen sollte. Das ist auch so. Insofern würde ich sagen, wenn man in dem Alter schon sich Spiele aussucht - und die Industrie bietet uns da ja ein riesiges Portfolio; wirtschaftlich ist das ja schon längst in den Fokus geraten, dass da eine Zielgruppe ist mit der man Geld verdienen kann, - dann würde ich sagen, ganz genau hinzuschauen, welche Angebote man aussucht, in welchem auch zeitlich begrenzten Rahmen und vor allem gemeinsam mit den Eltern. Um noch einmal auf den digitalen Schnuller zurückzukommen: Der sollte nicht stundenlang gelutscht werden.

Dagmar Weitbrecht: Herr Hüther, ist es gut, wenn Väter mit ihren Kindern zocken?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich fange an einer anderen Stelle an. Da passiert es, dass wir etwas Spiel nennen, was gar kein Spiel ist. Spielen heißt, das ist das spielerische Ausprobieren eines Kindes, was alles geht mit dem eigenen Körper, mit der Mama, mit den Dingen der Welt. Das, was in diesen Computerspielen drinsteckt, ist keine Möglichkeit, sich spielerisch auszuprobieren, sondern da wird ein Programm abgearbeitet. Das hat mit Spielen nichts zu tun. Und deshalb hat Frau Schulz auch richtig gesagt, das haben die Anbieter dieser Spieleindustrie natürlich erkannt. Sie machen diese Spiele so bunt, so vielfältig und so interessant, dass das Kind sozusagen fast magisch angezogen wird, dieses Spiel zu spielen. Das ist aber kein Spiel. Das ist eine Art von Beschäftigung oder nennen wir es einfach: Nuckeln an einem Schnuller. Dabei lernen die nichts. Dabei kommt nichts raus. Sie stillen eigentlich ein Bedürfnis. Das könnte man Bedürfnis "etwas gestalten zu wollen" nennen. Das ist auch sicherlich so. Aber das wird ihnen auf eine Art und Weise in diesen Computerspielen ermöglicht, die überhaupt nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Das heißt, die werden immer besser, wie man Computerspiele spielt, darüber freuen die sich auch. Da entstehen auch entsprechende starke Vernetzungen im Hirn, sodass die das immer besser können. Das geht uns ja bei unseren Tätigkeiten genauso. Aber am Ende finden die sich draußen im Leben nicht mehr zurecht. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns dann noch einmal sehr deutlich Gedanken machen, was denn überhaupt Spielen heißt. Das ist ja unmöglich, dass wir Dinge als Spiel bezeichnen, die in Wirklichkeit Geschäfte sind.

Dagmar Weitbrecht: Da gebe ich Ihnen natürlich Recht. Trotzdem sieht die Realität ja so aus, dass diese Industrie Millionen Umsätze macht. Und Frau Herzog hat mir in unserem Gespräch erzählt, dass der Förderbedarf auch gerade jetzt in Bezug auf Kinder, Eltern und Medien stark zunimmt. Da ist, denke ich schon, Handlungsbedarf.

Ich möchte in die Aktualität gehen. Wir haben Corona-Pandemie. Wir haben einen Lockdown, jetzt einen Lockdown light. Im Frühjahr gab es Unterricht, zum Teil nur online. Nicht alle Kinder durften in den Kindergarten gehen. Die Eltern waren im Homeoffice, haben auch, um wenigstens ein bisschen Arbeit zu schaffen, die Kinder letztendlich vorm Fernseher, Computer oder Tablet hin gesetzt oder geparkt, ist vielleicht nicht so das ganz schöne Wort. Hab ich denn als Mutter oder Vater eine Chance, diese Situation, die ja quasi aus der Not geboren war, wieder einzufangen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Sie haben zu jeder Zeit die Chance, es einzufangen. Sie müssen erstmal verstehen, was da abläuft und was die Kinder lernen mit der Beschäftigung dieser digitalen Geräte, vor allen Dingen dann, wenn die Programme so sind, dass sie so hineingezogen werden und dann so lange dran sind. Da können die doch nicht das andere auch noch machen, das sie auch noch als Bedürfnis empfinden. Ich kann nicht gleichzeitig an Tablets sitzen und draußen rumrennen, auf Bäume steigen, schwimmen und klettern und mit Freunden spielen und was es sonst noch alles an schönen Sachen gibt. Also ist das Kind gezwungen, solange es an diesem digitalen Gerät sitzt, dieses Bedürfnis, das andere alles zu machen, in sich selbst zu unterdrücken. Das macht es freiwillig, weil das so attraktiv ist mit dem Ergebnis - und das ist für mich bedenklich -, dass natürlich, wenn ich ein Bedürfnis im Hirn unterdrücke, entsprechende hemmende Verschaltungen über diese Strukturen und Netzwerke gebaut werden, die dieses Bedürfnis hervorbringen. Das heißt, wenn ich lange genug am Rechner gesessen habe, habe ich überhaupt nicht mehr das Bedürfnis mit den anderen Kindern zu spielen, rauszugehen. Die meisten Eltern merken, dass sich die Kinder jetzt nicht mehr so gut in der Welt zurechtfinden, dass sie dauernd vor diesen Geräten hängen. Und kein Wunder, dass da nun auch ein Bedarf entsteht, dass die Rat suchen und nicht wissen, wie sie der ganzen Sache wieder Herr werden sollen.

Dagmar Weitbrecht: Da sag ich jetzt mal ganz kess, ist es doch aber auch ziemlich bequem, wenn ein Kind da erstmal sich selbst beschäftigt und ich mich nicht kümmern muss.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ja, aber dann müssten wir ja sagen, dass es eben Eltern gibt, die eigentlich Kinder bekommen haben, ohne sich selbst jemals gefragt zu haben, warum. Das ist natürlich eine bittere Überlegung. Und deshalb hab ich ja vorhin gesagt, es wäre so schön, wenn Eltern noch mal in die Situation kämen, dass sie erkennen können, wie toll das ist mit ihrem Kind, weil sie von dem so viel lernen (können). Kürzlich rief mich eine Frau an und sagte: "Jetzt ist Lockdown." Das war noch im Frühjahr. "Jetzt habe ich drei Wochen schon mein Mariechen Zuhause, was sonst normalerweise mit drei Jahren in die Kinderkrippe und Kindergarten geht. Ich habe mir damals nicht viel Gedanken gemacht, die ist gut zurechtgekommen. Die hat sich gut eingefunden. Jetzt ist sie zu Hause und wir sind den ganzen Tag zusammen." Und jetzt kommt es. "Jetzt habe ich mich in mein Mariechen verliebt. Das ist so schön zu sehen, was die alles können, wie die mir das alles zeigen will. Und wir sind den ganzen Tag gemeinsam mit unterwegs." Dann sagt sie: "Ich weiß noch nicht, wie ich das hinkriege. Aber dass ich mein Mariechen jetzt wieder jeden Tag in so einer Einrichtung abgebe, das mache ich nicht mehr." Das ist eine andere Erfahrung. Dann merken Sie, was da plötzlich in Eltern passieren kann, wenn (sie) ihr Kind wieder entdecken.

Dagmar Weitbrecht: War eine sehr schöne Geschichte sage ich ganz, ganz klar. Frau Schulz, Sie sind Medienpädagogin aber auch Mutter. Und auch Sie haben das ja erlebt wie das ist, wenn man auf der einen Seite das Kind Zuhause hat, Schule machen muss, aber auch arbeiten muss. Wie haben Sie es geschafft, die Situation einzufangen, wieder ein Stück andere Normalität zu schaffen?

Dr. Iren Schulz: Also meine Tochter die ging da noch in die Grundschule, jetzt in die Weiterführende. Aus dieser medienpädagogischen Perspektive haben wir digitale Elternabende angeboten, um die Eltern abzuholen, wie man jetzt das Zuhause auch im Griff behalten kann mit der Medienerziehung. Da würde ich gern auch mit einem anderen Beispiel noch einmal relativieren, was Herr Hüther gerade gesagt hat, beziehungsweise die Medien auch noch mal in ein besseres Licht rücken.

Denn was wir auch über viele Elternfragen und Feedback zu hören bekommen haben ist, dass die Eltern auch die Möglichkeit hatten mal zu sehen, dass die Kinder eben nicht nur vorm Bildschirm sitzen wollen. Also wenn man über die Bildschirme vielleicht lernt. Zum Glück gab es ja auch die Möglichkeit, wenigstens digital an der Schule angebunden zu bleiben. Aber dass die Kinder so etwas wie: "Ich möchte in die Schule gehen und meine Freunde sehen.“, dass sie das vermisst haben. Dass es einerseits eine tolle Sache natürlich ist, über verschiedene Videoplattformen mit den Großeltern, mit ihren Freunden, in Kontakt zu sein. Aber dass die Kinder sich auch sehr gefreut haben, die dann über den Sommer wieder und jetzt unter eingeschränkten Bedingungen, sich auch wieder in echt sehen zu können, rausgehen zu können und diese "echte" Welt zu erleben und zu erfahren. Also ich würde eigentlich immer gar nicht so ein negatives Bild zeichnen wollen. Dass, wenn man die Kinder vor die Bildschirme lässt, die eigentlich gar nichts mehr anderes wollen und dieser "Droge" erliegen, sondern, dass Kinder sich da auch gut regulieren können. Oder dass es die Aufgabe von uns Eltern ist, da ein Maß zu schaffen und das Medien durchaus auch etwas Positives bedeuten können für die echten Beziehungen, um da vielleicht Brücken zu schlagen und einen Faden zu erhalten, der schwierig ist.

Gerade eben in solchen besonderen Zeiten, wie wir es jetzt mit Corona haben. Ich finde es schwierig, das zeigen auch langfristige Untersuchungen, diese Welt so getrennt zu zeichnen. Irgendwie haben wir die reale und die digitale Welt, weil längst unsere reale Welt eben auch von Medien durchzogen ist. Weil wir unsere Gesellschaft so gestalten, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen. Ich vergleiche das auch immer gern, obwohl das vielleicht auch nicht ganz funktioniert: In Sachen Ernährung zum Beispiel sind Eltern ja relativ sicher und fit, weil man eben schon immer weiß, dass, wenn man nur Pommes und Burger isst, das irgendwie sehr ungesund werden kann. Das es aber durchaus mal erlaubt ist, eben auch mal Fast Food zu essen. Und dass Eltern dafür sich gut Regeln überlegt haben und das durchhalten und das ihren Kindern gut vermitteln können. Genauso kann man das eigentlich auch in puncto Medien sagen, dass hier und da Dinge erlaubt sind, dass die auch mal gut sein können. Aber, dass es eben nicht das Uferlose und Grenzenlose geben kann.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich muss noch einmal klar machen, dass ich hier überhaupt nichts gegen digitale Medien habe. Ich finde das toll, dass es die Geräte gibt. Ich finde das toll, dass wir so viele Dinge, die eigentlich von uns gar nicht so gut erledigt werden können, jetzt mit Hilfe dieser digitalen Geräte machen können. Es ist ein Segen, dass es sie gibt. Nur das Problem ist, diese digitalen Geräte kann man entweder benutzen, um - ich nenne es mal so komisch - ein Werk zu vollbringen. Also das wäre dann mit der Oma, die in Australien ist, kann auch ein dreijähriges Kind schon über Skype sich unterhalten. Da habe ich kein Problem damit, dass ist dann ein Werkzeug, um mit der Oma in Kontakt zu bleiben. Also solange die digitalen Geräte als Werkzeuge benutzt werden, überhaupt kein Problem. Auch dann, wenn sie zum Beispiel als Lernhilfen benutzt werden. Man kann oftmals mit digitalen Programmen viel besser lernen, als in der Schule.

Aber die digitalen Geräte werden eben in unserer Bevölkerung zu 90 Prozent benutzt, um ungestillte Bedürfnisse zu stillen. Das nennt man Affektregulation. Wenn ich ein digitales Gerät benutze, um meine Neugier zu stillen, um ein Zugehörigkeitsgefühl zu stillen, um damit meinen Frust abzubauen oder meine Wut oder einfach nur meine Langeweile, dann ist das alles Affektregulation. Das heißt, jemand, der das macht und vor allen Dingen Kinder, die das so machen, lernen nicht diese Affekte, also diese Gefühle, die da in ihnen hochkommen, auf eine Weise zu regulieren, wie sie im realen Leben stattfinden. Die machen das mit Hilfe dieser Geräte. Und dann wird man davon abhängig, wie von einer Droge. Das ist richtig.

Dagmar Weitbrecht: Affektregulation versus Werkzeug: Wie ist die Lebensrealität aus Ihrer Sicht?

Dr. Iren Schulz: Ja, da würde ich zustimmen, wenn man sagt, welche Rolle spielen Medien eigentlich für Kinder? Also was machen die damit? Eines ist natürlich, ein Ventil zu sein. Also da würde ich genauso argumentieren und sagen, Kinder und Jugendliche benutzen digitale Angebote auch als Ventil für etwas, was sie vielleicht so im echten Leben nicht ablassen können. Und das ist, glaube ich, auch das, was Herr Hüther mit Affektregulation meint. Und das ist wichtig, da ein Auge drauf zu haben, auch erzieherisch, dass das sozusagen nicht überhand nimmt. Also dass Kinder eben genau das lernen, dass es auch wichtig ist, mal Frust oder Begeisterung mit den echten Menschen im echten Leben zu teilen und zu erfahren und sich darum zu bemühen und sich das nicht alles nur in den digitalen Medien zu holen oder überhaupt in Medienangeboten. Dann kann es tatsächlich eine Schräglage geben. Dann reden wir über so etwas wie Mediensucht. Dann kann es problematisches, soziales Verhalten geben.

Dagmar Weitbrecht: Noch mal auf die älteren Kinder und Jugendlichen geschaut. Die Eltern haben dann etwas weniger Einfluss, da spielen Freunde und Gruppen eine größere Rolle. Und da ist dann das Thema: "Alle haben ein Smartphone und warum ich nicht." Es kann sich zum echten Problem in Familien auswachsen. Was mache ich, wenn mir diese Frage gestellt wird? Was mache ich ganz konkret, Herr Hüther?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich muss mein Kind fragen, warum es das will. Und das wird es (das Kind) nicht so richtig ausdrücken können. Aber in Wirklichkeit will es das Smartphone haben, dass es eines hat wie alle anderen auch. In Wirklichkeit hat es das Bedürfnis, dazu zu gehören. Und es wird ja auch von den Schülern, den Mitschülern ausgegrenzt, wenn es von seinen Eltern kein Smartphone gekriegt hat. Deshalb ist es eigentlich unmöglich, dem Kind dieses Smartphone zu verweigern.

Dagmar Weitbrecht: Wenn ich aber als Mutter oder Vater trotzdem Bauchschmerzen habe, Frau Schulz, was mache ich?

Dr. Iren Schulz: Solche Fragen bekommen wir auch ganz oft bei Schau hin!: "Was soll ich machen, wenn mein Jüngster", also meistens erste, zweite Klasse, "sich ein eigenes Smartphone wünscht? Soll ich das machen?" Ich finde schon, dass Eltern da auch auf ihr Bauchgefühl hören können. Und wenn sie auf ihr Kind schauen und sehen, dass es entwicklungsmäßig noch gar nicht so weit ist zu verstehen, was es da für einen Kleincomputer in der Hosentasche oder im Ranzen hat, dann finde ich, dass man da als Eltern auch argumentieren kann. Obwohl das für die Kinder dann, wie Herr Hüther schon sagt, schwer auszuhalten ist. Wir haben auch bei Schau hin! so Checklisten (PDF). Das hilft immer ein bisschen bei der Argumentation. Wenn man dann mit den Kindern mal bespricht und (fragt): "Verstehst du denn, was so etwas wie GPS ist, was Bluetooth ist, wie man hier Geld ausgeben kann?" Dann kann man als Eltern immer noch differenzieren. Dann wird es vielleicht nicht ein Smartphone, sondern erst mal noch ein altes Mobiltelefon. Da wird es dann aber auch so sein, dass die Kinder das dann lieber gar nicht erst mitnehmen, weil ihnen das natürlich auch unangenehm ist in der Peergroup, also mit den Freunden. Da will man ja auch ein neues Telefon vorzeigen. Letztlich ist das, glaube ich, ein Aushandlungsprozess, der auch für die Familie, für Kinder und Eltern schon immer dazugehört hat. Also wie gesagt, es geht eigentlich um Zugehörigkeit. Die wird über Turnschuhe hergestellt, über eine Ranzen-Marke, über Faserstifte und eben auch über Medien. Familien und Eltern haben das schon immer mit ihren Kindern ausdiskutiert, und es ist ein Aushandlungsprozess. Und ich glaube, jede Familie muss da für sich einen Weg finden.

Dagmar Weitbrecht: Diese Checkliste, die Sie erwähnt haben, Frau Schulz, findet man auf den Internetseiten von Schau hin!. Ich habe sie mir angeschaut. Ich finde es wirklich ein sehr hilfreiches Werkzeug, wo man zumindest erstmal eine Art Standortbestimmung machen kann. Eine andere Sache, die mich auch als Mutter umgetrieben hat: Das Kind nutzt jetzt beispielsweise einen Computer oder ein Tablet oder eben auch ein Smartphone. Und ich gebe mir Mühe aber ich sehe ja doch nicht alles, was das Kind macht. Es gibt im Internet zahllose Inhalte, die ja wirklich schädlich sein können. Und wir hatten eingangs ja schon über die Macht der Bilder gehört, die ja auch Eltern beeinflussen. Es gibt aber eben auch ganz einschneidende Wirkungen auf Kinder und Jugendliche. Was richten solche Bilder an? Ich meine jetzt nicht nur Pornografie oder Gewalt, sondern ja auch ein Super-Instagram-Model.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das ist alles Gift! Gift für Kindergehirne! Das gehört da nicht hin. Und deshalb muss man irgendetwas überlegen. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Das eine ist, man versucht, es zu verbieten oder zu regulieren oder zu beschränken und das Kind aufzuklären. Da ist Frau Schulz auch wirklich gut unterwegs. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man versucht, von Anfang an - da muss man natürlich ein bisschen früher anfangen - sein Kind so groß zu ziehen, dass es einem in jeder Hinsicht hundertprozentig vertraut und dass man auch diesem Kind vertraut. Das ist dann eine andere Art von Beziehung. Das wird dazu führen, dass so ein Kind, was dann ein Smartphone hat und dann von den anderen dazu gebracht wird auch mal auf so eine Pornoseite zu gehen, das kommt dann am Abend nach Hause und erzählt das der Mutter oder dem Vater. (Das Kind) sagt: "Die gucken sich alle so etwas an. Da habe ich das auch mal angeguckt.“ Dann kann man mit dem Kind reden über das, was da alles für Blödsinn in diesem Internet zu finden ist. Man kann das Kind ermutigen, wenn es so etwas findet, das einfach sich nicht anzugucken und mit den Eltern darüber zu reden. Entweder man macht es über Vertrauen oder man muss es über Kontrolle machen. Vertrauen ist besser.

Dagmar Weitbrecht: Funktioniert das Frau Schulz?

Dr. Iren Schulz: Das würden wir auch sagen, ist der ideale Weg. Das ist jenseits von Medien. Wenn man eine gute Bindung und ein gutes Familienklima hat, im Gespräch miteinander ist und weiß, was die Kinder beschäftigt und was sie bewegt. Wenn man gleichzeitig den Kindern vermitteln konnte, wenn mal etwas schiefgegangen ist, wenn du vielleicht etwas ausprobiert hast, was du gar nicht solltest und was nichts für dich ist und da ist was Komisches passiert, dann sag uns Bescheid und wir besprechen das. Wenn man so ein Vertrauensverhältnis hat, generell und vor allem auch in Bezug auf Medien, dann ist das eigentlich die beste Basis. Denn was man auch nicht vergessen darf ist, dass es eben auch zur Entwicklung dazugehört, mal nach links und rechts zu gucken, mal das zu machen, was mir eigentlich Erwachsene verboten haben. Wie früher mal in Ruhe in Videotheken in die Tür zu gehen, wo man eigentlich nicht hingehen soll. So macht man das eben heute auch in den digitalen Medien. Also Mutproben und Herausforderungen und Grenzüberschreitungen gehören auch dazu. Aber wichtig ist es eben, wenn es wirklich ernst wird oder problematisch wird, dass die Kinder dann jemanden haben, dem sie sich anvertrauen. Das ist eigentlich so das wichtigste Fundament. Und bei den jüngeren Kindern, wenn man sagt, so Kontrolle oder Vertrauen kann man tatsächlich sagen bei den jüngeren Kindern ist es wirklich wichtig, das noch mehr im Blick zu haben und auch zu begrenzen. Also sprich da quasi nur YouTube-Kids zu nutzen oder über allerlei technische Eingrenzung, Apps und Jugendschutzprogramme, die es da gibt, einen sicheren Online-Raum zu schaffen, ist da auf jeden Fall ein erstmal guter Einstieg.

Dagmar Weitbrecht: Im Gespräch bleiben ist wichtig. Da stimme ich Ihnen unumwunden zu. Aber ich erinnere mich auch an Szenen an unserem Familientisch, wo das Gespräch gesucht wurde, man dann aber nur in verdrehte Augen geschaut hat und ein wirkliches Gespräch nicht zustande gekommen ist. Nochmal auf, glaube ich, eine sehr lebensnahe Situation: Wenn ich merke, dass mein doch schon größeres Kind endlos zockt, chattet, nur noch vor dem Computer sitzt, andere Dinge schleifen lässt. Habe ich eine Chance, eine Reißleine zu ziehen, Herr Hüther?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Vielleicht planen Sie mal den nächsten Urlaub irgendwo und fragen Sie mal das Kind, was es wirklich gerne machen würde. Viele Kinder wissen das schon gar nicht mehr, weil sie gar nicht mehr wissen, was alles möglich ist. Und dann machen Sie einfach mit dem Kind - was weiß ich – einen Kanu-Urlaub auf irgendeinem Wildwasserfluss. Und dann werden Sie auch merken, solange diese wunderbaren Dinge im realen Leben dem Kind ermöglicht werden, dann hat es auch kein Bedürfnis an diesen Dingern rumzuzocken.

Dagmar Weitbrecht: Funktioniert das, Frau Schulz?

Dr. Iren Schulz: Ich würde auf jeden Fall sagen, nicht resignieren, sondern so das Kind beim Schopfe packen - verbal und physisch. Zum einen weiß man aus der medienpädagogischen Forschung gerade so im Blick auf Computerspiele, dass, wenn Kinder sich exorbitant in medialen Welten verlieren über eine längere Zeit und anderes vernachlässigen, dass Medien dann als ein Ventil für etwas funktionieren, was im realen Leben in eine Schieflage geraten ist. Und da ist es wichtig, dass sich mal als Eltern zu fragen, auch im Gespräch mit dem Kind oder mit dem Jugendlichen zu gucken: "Was ist denn da aus dem Lot geraten?" Also: Sind Freunde weggebrochen? Ist die Familie vielleicht umgezogen? Gibt es eine emotionale Unzufriedenheit, eine Veränderung im Leben von dem Kind? Da zusammen zu versuchen, das wieder in Waage zu bringen. Da gehört natürlich auch dazu, mal zu sagen: "So jetzt Schluss hier und zugeklappt!" Dann gibt es auf jeden Fall verdrehte Augen und knurren und murren. Aber wenn man dann eben mal mit dem Kanu unterwegs ist, oder was auch immer, man dann mit voller Aufmerksamkeit mit seinem Kind etwas jenseits von Bildschirmen macht, dann wird man merken, dass die Kinder da eigentlich auch relativ schnell dabei und begeistert sind.

Dagmar Weitbrecht: Wir haben jetzt ganz viel über Medien und Kinder gesprochen, auch schon die Rolle der Eltern angesprochen. Es gibt so viele Neuerungen jeden Tag, jeden Monat. Wieviel Medienkompetenz brauche ich als Mutter oder Vater?

Dr. Iren Schulz: Das ist auf jeden Fall eine gute Frage. Und ich glaube, das macht vielen Eltern Angst: Mit den rasanten technologischen Entwicklungen und quasi jeden Tag Neuerungen (mitzuhalten). Da kriegt man natürlich irgendwie Wolken über dem Kopf als Eltern. Es geht gar nicht darum, dass man jetzt technologisch alles durchdringt und erst ein Informatikstudium abschließen muss, um sein Kind erziehen zu können. Sondern (man braucht) ein gesundes Bauchgefühl und einen guten Draht zu dem Kind. (Man braucht) einen kritischen Blick auf das, was da angeboten wird. Vielleicht auch kurz sich Zeit zu nehmen, zu recherchieren. Es gibt ja tolle Angebote, die Eltern da schon unterstützen. Dann kann man eigentlich schon viel erreichen. Man muss nicht jede einzelne App kennen. Man muss nicht jede neue Anwendung kennen. Mit einem guten Schritt zurück und mit einem sicheren Blick auf das Kind, glaube ich, ist man gut gerüstet.

Prof. Dr. Gerald Hüther: Wenn man sich nicht anders zu helfen weiß, muss man es damit machen. Ansonsten würde ich vorschlagen, wir konzentrieren uns etwas stärker in Zukunft darauf, dass wir es den Kindern ermöglichen, sich genügend Lebenskompetenz anzueignen, dass die sich in den Dingen des Alltags und draußen und miteinander zurechtfinden. Und wenn dann in diesem Tun, im realen Leben etwas auftaucht, wo man die digitalen Medien als Werkzeug benutzen kann, dann wissen Sie so gut wie ich, dann eignen die sich das an. Die sind da so viel schneller als wir.

Dagmar Weitbrecht: Damit haben sie mir einen super Übergang geliefert, Herr Hüther. Bei meinen Recherchen für das Gespräch bin ich auf einen Artikel gestoßen, dass bei dem Thema auch die soziale Herkunft eine Rolle spielt. Nach einer Studie aus den USA verbringen Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen im Schnitt etwa acht Stunden vor Bildschirmen. Kinder aus Haushalten mit höherem Einkommen etwa fünf Stunden. Dazu zählt aber nicht die Zeit für Schule oder Hausaufgaben. Die Zahlen in Deutschland sind nicht so hoch. Dennoch zeigt sich in der schon erwähnten DIVSI-Studie auch für Deutschland ein Unterschied bei der Mediennutzung zwischen Familien mit niedrigerer und höherer Bildung. Wie ist da Ihre Einschätzung?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Es wundert mich doch nicht. Das ist relativ banal. In einem Elternhaushalt, wo die Eltern musizieren, wo die lesen, wo die wandern gehen, wo die sich mit vielen Dingen beschäftigen, dass die Kinder da mitgehen und davon auch mitgenommen werden und dann auch diese Lebenskompetenzen besser erwerben und deshalb nicht so stark Gefahr laufen als Bedürftige in den digitalen Computerwelten zu landen. Das ist doch selbstverständlich. Da wundere ich mich manchmal, dass man überhaupt noch solche Studien machen muss, das ist total klar.

Dr. Iren Schulz: Genau. Also, da gibt es eigentlich in der Medienforschung schon immer dieses Ergebnis. Man kann aber auch sagen, (dass es) so eine Art Medienverwahrlosung natürlich auch in höheren Bildungsmilieus geben kann. Dass sich so etwas im Moment im Zuge der digitalen Medien auch aufweicht. Also (das) heißt, dass auch Kinder aus höher gebildeten Familien, wo die Eltern beispielsweise beruflich stark eingebunden sind, die Kinder vielleicht öfter auch alleine zu Hause sind. Dass eben auch die Eltern viel am Bildschirm sitzen und arbeiten und entspannen, dass Kinder da auch durchaus mal alleine gelassen sind, dass es da auch problematische Zusammenhänge gibt. Aber im Großen und Ganzen kann man sagen, dass (Familien) - bildungsbezogen - aus schwierigen sozialen Milieus, eher noch Unterstützung brauchen.

Dagmar Weitbrecht: Wir haben jetzt einen wirklich großen Bogen geschlagen von dem kleinen Kind, was von den Eltern vielleicht vor Medien geparkt wird, bis hin jetzt zum Schluss über die Rolle der sozialen Herkunft. Nochmal zurück zur Heilpädagogin Brigitte Herzog. Ich hatte sie gebeten, ein kleines Fazit zu dem Thema Kinder, Eltern und digitale Medien zu ziehen, hören wir mal.

Brigitte Herzog: Es bedarf natürlich auch einer riesen Fantasie, sich dieser Sache zu entziehen, als Eltern, auch als Familie, auch als Großeltern. Generell kann man sich sicher nicht davor verschließen und Kinder unterhalten sich und sagen eben auch, der hat das auch und so weiter. Es ist einfach ein Balanceakt zwischen Chancen und Gefahren. Medien bieten Chancen. (Sie) sind ein attraktives Medium, Kindern auch Wissen zu vermitteln. Aber es heißt eben, man muss genau schauen, wie viel biete ich an, dass ein kleines Kind zwischen fünf Minuten oder zehn Minuten Fernsehen schaut und dann eben, dass man das dann aufgreift, um darüber zu reden, um dazu vielleicht noch ein Bild zu malen oder dann noch einmal darüber ins Gespräch zu kommen. Ich will es nicht dogmatisieren, das wäre unrealistisch.

Dagmar Weitbrecht: Brigitte Herzog sagt also es ist ein Balanceakt. Was meinen Sie, Prof. Hüther?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ja, es ist ein Balanceakt und man muss sich eben entscheiden als Eltern, will ich den Weg gehen, dass ich alles dafür tue, dass das Kind und ich in einem vertrauensvollen Verhältnis verbunden sind, dann macht man das, so gut es irgendwie geht. Oder aber traue ich mir das nicht zu? Und dann muss ich alles kontrollieren. Da muss man sich dann fragen, ob es da jemals ein Ende gibt. Das ist eine Schraube.

Dagmar Weitbrecht: Frau Schulz. Haben Sie vielleicht noch einen praktischen Tipp zum Thema Kinder, Eltern, Medien?

Dr. Iren Schulz: Ich würde auch sagen, entziehen kann man sich nicht. Es ist auf jeden Fall ein Balanceakt. Balance im Sinne von Kompromissen und auch vielleicht entspannt zu bleiben. Also nicht den Teufel an die Wand malen, sondern gemeinsam mit dem Kind zu schauen, sich auf das Kind einzulassen, gleichzeitig aber auch immer Eltern zu bleiben und auch mal Grenzen aufzuzeigen. Das ist in der Erziehung schon immer wichtig gewesen. Und das sind ja auch heute unsere Erziehungsmodelle, die wir am ehesten präferieren, dass man sagt: "Wir sind gute Vorbilder. Wir zeigen den Kindern einen Weg. Wir erlauben auch, mal nach links und rechts zu schauen, aber wir begleiten sie dabei." Letztlich geht es ja darum, Kinder in die Welt zu entlassen, in der sie sich gut zurechtfinden können und da gehören Medien heute auch dazu.

Dagmar Weitbrecht: Dann bedanke ich mich an dieser Stelle. Viele weitere Informationen zu dem Thema finden Sie auf den Internetseiten von MDR MEDIEN360G. Ich bedanke mich bei meinen Gesprächspartnern Brigitte Herzog, der Heilpädagogin, Dr. Iren Schulz und Prof. Dr. Gerald Hüther im Gespräch mit MDR MEDIEN360G. Danke, sagt auch Dagmar Weitbrecht.

* Das Gespräch wurde am 27.11.2020 im MDR Landesfunkhaus Thüringen in Erfurt aufgezeichnet.