Negative Berichterstattung Wenn Nachrichten zum Stressfaktor werden
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20. Mai 2022, 15:17 Uhr
Immer mehr Menschen fühlen sich von den vielen negativen Nachrichtenmeldungen unter Stress gesetzt und schalten lieber ab. Isabell Prophet, Expertin für Nachrichten und Social Media, empfiehlt deshalb bewussten Medienkonsum – und wünscht sich von Redaktionen mehr konstruktive Berichterstattung.
Hohe Infektionszahlen, täglich mehr Tote und immer neue Virusvarianten: Zwei Pandemie-Jahre lang prasselten die schlechten Nachrichten nur so auf uns ein. Inzwischen ist Corona als Top-Thema vom Krieg in der Ukraine abgelöst worden, doch die Bilder, die die Nachrichten dominieren, bleiben schrecklich: zerstörte Häuser, flüchtende Familien, Massengräber.
Es gibt nichts Positives, an dem der Bürger sich aufrichten kann.
"Es gibt nichts Positives, an dem der Bürger sich aufrichten kann", kritisiert Gerd B. aus Gotha die Medienberichterstattung. "Ich weiß nicht, wer die Sender psychologisch berät oder ob das überhaupt in Betracht gezogen wird." Der 81-Jährige wirft den Sendern vor, geradezu einen Wettbewerb zu veranstalten: Wer bringt die schlechtesten Nachrichten?
Stress für das Gehirn
Auch andere MDR-Nutzerinnen und -Nutzer haben nach der Pandemie die dauerhaft negative Berichterstattung über Corona satt. Das zeigen ihre Kommentare, die sie im Rahmen einer MDRfragt-Befragung geschrieben haben. "Ich höre immer mehr weg", sagt der 57-jährige Olf T. aus dem Erzgebirgskreis. "Daueralarmismus wie in den letzten zwei Jahren macht die Menschen krank in der Seele." Ähnlich geht es Regina und Gerd A. aus Görlitz: Nach dem Lesen der Zeitung sinke ihr optimistisches Lebensgefühl, berichten sie.
Daueralarmismus wie in den letzten zwei Jahren macht die Menschen krank in der Seele.
Tatsächlich können Nachrichten im Extremfall krank machen, bestätigt Isabell Prophet, die lange bei "Spiegel online" gearbeitet hat und sich heute mit den Themen Nachrichten und Social Media beschäftigt. "Gerade wenn Nachrichten gut gemacht und gut erzählt sind, können sie dem Gehirn Stress oder eine Bedrohungssituation signalisieren", erklärt die Expertin. Das sei auf Dauer eine Belastung, ob es nun um die Corona-Pandemie oder den Ukraine-Krieg gehe.
Für das menschliche Gehirn sei es eine Überlebensstrategie, negative Informationen stärker abzuspeichern, sagt Isabell Prophet. Negative Schlagzeilen würden deswegen häufiger angeklickt, die dazugehörigen Informationen länger gelesen. Das wissen auch Nachrichtenredaktionen. "Bad news are good news" lautet ein altes Journalistenmotto: Schlechte Nachrichten sind gut, weil sie mehr Interesse wecken.
Negative Meldungen machen schlechte Laune
Bei vielen Menschen führt die Dominanz schlechter Nachrichten aber inzwischen zum gegenteiligen Effekt. Die 60-jährige Marion M. aus Gera schaut inzwischen gar keine aktuellen Sendungen im Fernsehen mehr an: Wenn Nachrichten kommen, dreht sie den Ton leise oder schaltet um. Das ist kein Einzelfall: Weltweit vermeide ein Drittel der Menschen immer wieder bewusst den Nachrichtenkonsum, hat das Reuters Institute der Universität Oxford ermittelt. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass die Berichterstattung die eigene Stimmung negativ beeinflusse.
Isabell Prophet empfiehlt, den eigenen Nachrichtenkonsum zu überdenken. Sie vergleicht das Angebot an aktuellen Sendungen, Artikeln und News-Tickern mit der Auswahl im Supermarkt: Niemand müsse alle Produkte probieren, sondern jeder und jede habe das Recht, eine Wahl zu treffen.
Nachrichtenpausen statt Dauerkonsum
Für manche könne es sinnvoll sein, Nachrichten nur noch zu bestimmen Tageszeiten anzuschauen und dazwischen Pause zu machen, ähnlich wie beim Intervallfasten. Natürlich habe man als Bürgerin und Bürger eine Pflicht, informiert zu bleiben, aber: "Niemand macht die Welt besser, wenn er sich selbst mit Nachrichten belastet – im Gegenteil", sagt Isabell Prophet.
Das hat auch Anke G. erkannt. "Ich schaue Nachrichten nur noch sehr gezielt und suche mir bewusst eher positive, schöne und auch seichtere Dinge aus, die ich schaue", schreibt die 57-Jährige aus Chemnitz. "Uns fehlen Informationen zu positiven Ereignissen, die es in unserem Land genug gibt", findet auch Barbara M., 69 Jahre, aus Leipzig.
Ich schaue Nachrichten nur noch sehr gezielt und suche mir bewusst eher positive, schöne und auch seichtere Dinge aus, die ich schaue.
Konstruktiver Journalismus sucht Lösungen
Das Bedürfnis haben Nachrichtenportale inzwischen erkannt: Immer mehr Redaktionen beschäftigen sich mit dem Prinzip des konstruktiven Journalismus, wie eine Expertise des Grimme-Instituts zeigt. Im konstruktiven Journalismus geht es darum, nicht nur Probleme darzustellen, sondern Lösungsmöglichkeiten zu zeigen und so eine gesellschaftliche Debatte zu fördern.
Vorreiter waren Formate wie das Online-Magazin "Perspective Daily", das ausschließlich lösungsorientiert berichtet: "Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können", schreibt das Redaktionsteam auf seiner Webseite.
Uns fehlen Informationen zu positiven Ereignissen, die es in unserem Land genug gibt.
Inzwischen versuchen auch große Medienhäuser, konstruktiven Journalismus in ihrer Berichterstattung zu verankern. Wer in der Berichterstattung mögliche Auswege zeige, mache eine bedrohliche Situation emotional beherrschbar, erklärt Isabell Prophet. Sie wünscht sich, dass Redaktionen in der Themenauswahl mutiger werden und neben den weltweit wichtigen Meldungen auch regionale und positive Themen prominent platzieren – sodass man auf News-Portalen nicht mehr seitenlang nach unten scrollen muss, um die erste gute Nachricht zu finden.
Angebote für konstruktiven Journalismus
- Perspective Daily ist ein mitgliederfinanziertes Online-Magazin für konstruktiven Journalismus.
- Squirrel News ist eine gemeinnützige Nachrichten-App, die lösungsorientierte Artikel aus internationalen Medien sammelt.
- Mit dem "Ideenimport" hat die Tagesschau-Redaktion einen Auslandspodcast für konstruktiven Journalismus gestartet.
- Das neu gegründete Bonn Institute setzt sich für konstruktiven Journalismus ein und bietet viele Informationen rund um das Thema.