Interview mit Wolfgang M. Schmitt "Influencer sprechen eine Sehnsucht an"
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30. September 2021, 18:11 Uhr
Wolfgang M. Schmitt hat gemeinsam mit Ole Nymoen mehrere Monate lang wie ein normaler Follower zahlreiche Influencer verfolgt und in der Folge das Buch "Influencer. Die Ideologie der Werbekörper" verfasst. Er sieht die Entwicklung der Influencer-Branche sehr kritisch.
MEDIEN360G: Wie begann die Beziehung zwischen Influencern und der Industrie?
Wolfgang M. Schmitt: Das hat sich entwickelt aus einem Zufall heraus, beziehungsweise es hat sich fast evolutionär entwickelt. Das war anfangs so, dass Influencer ihre Lebenswelt zeigten. Da waren sie im Übrigen noch keine Influencer. Und diese Lebenswelt besteht natürlich zu einem großen Teil aus Konsum. Welche Kosmetik verwende ich? Welche Fitnessdrinks nehme ich? All diese ganzen Dinge haben sie thematisiert. Dann haben sie thematisiert, was sie einkaufen waren, haben diese großen Videos veröffentlicht, in denen sie ihre Einkäufe oder ihre Bestellungen ausgepackt haben. Und plötzlich merkten Firmen: Das ist ja für uns relevant. Und Firmen begannen, Pakete an die Influencer zu schicken, und die freuten sich, dass sie jetzt etwas gratis bekommen und dann vor der Kamera nur auspacken müssen. Bis dann die Influencer wiederum verstanden: Ach, damit können wir eigentlich noch viel mehr Geld verdienen! Wir können ja auch sagen, ich packe das Paket aus, möchte aber 10.000 Euro dafür haben. Und so ist eigentlich das Influencer-Marketing entstanden. Und es war zugleich immer von der Community gewollt: Das waren die Videos, die bei YouTube extrem erfolgreich waren, bevor wir überhaupt den Begriff Influencer so kannten, wie wir ihn heute kennen.
MEDIEN360G: Die Influencer inszenieren sozusagen ihr Leben. Warum finden wir diesen Alltag der Influencer so spannend?
Wolfgang M. Schmitt: Nun, es ist fast so wie das eigene Leben, aber dann doch nicht ganz. Und ich glaube, es ist diese kleine Verschiebung, die stattfindet, die das Ganze reizvoll macht. Viele Menschen sind nicht besonders froh mit ihrem Beruf, aus verschiedenen Gründen. Vielleicht stimmt die Bezahlung nicht. Es gibt vielleicht Druck. Es gibt verschiedene Situationen, die nicht so glücklich machen. Vielleicht ist auch die familiäre Situation nicht die beste. Was die Influencer jetzt zeigen, ist natürlich ein alltägliches Leben, aber immer ein aufgehübschtes. Eins, in dem es diese Probleme nicht gibt. Und es sind Leute, die sich aus der klassischen Erwerbsarbeit, aus dem Lohnsegment, gelöst haben und die jetzt dort ihren Traum verwirklichen beziehungsweise kleine Unternehmer sind oder sehr große Unternehmer werden. Und das ist etwas, was natürlich reizvoll ist. Das heißt, auch dass der Nachahmungseffekt nicht gleich bedeutet, dass alle, die Influencer-Content konsumieren, sagen: Ich werde jetzt Unternehmer. Oder werde Influencer. So spricht das doch eine Sehnsucht in einem an, dass es Leute schaffen und plötzlich dauerhaft machen können, was man sonst nur machen kann, wenn man mal Urlaub hat. Da reist man mal irgendwohin oder geht in schöne Restaurants oder geht shoppen in Düsseldorf, Frankfurt oder sonst wo.
Diese Influencer machen das laufend, das ist deren Alltag und ihr Beruf. Unterschätzt wird dabei auch, dass das mitunter sehr anstrengend sein kann. Aber es ist eine große Sehnsucht da, dass man dort bei Instagram findet, was man selbst hat, nur ein bisschen besser, nur ein bisschen luxuriöser und ein bisschen besser geglättet durch Photoshop und all die Filter.
MEDIEN360G: Wie schaffen die das: Diese enge Bindung zu ihren Vorbildern und zu ihren Influencern?
Wolfgang M. Schmitt: Das ist etwas sehr Rätselhaftes und liegt sicherlich auch in der Struktur der Plattform, Instagram zum Beispiel, aber das gilt auch für alle anderen Social-Media Plattformen. Instagram ist eine Plattform, die Interaktion erfordert und die auch die ganze Zeit in irgendeiner Weise Leuten suggeriert, es geschieht etwas Wichtiges - und du bist Teil dessen. Das zeigt sich dadurch, dass permanent Anreize gesetzt werden, irgendwo zu liken. Da taucht wieder eine neue Story auf. Und da ich das nur auf meinem Desktop oder auf meinem Smartphone-Bildschirm habe, wirkt es immer ein bisschen so, als würde das gerade für mich stattfinden. Nur für mich. Beim Fernsehen ist das nicht so. Da haben wir nicht den Eindruck, dass wir uns die Tagesschau ansehen und denken: Die sind jetzt nur für mich hierher gekommen. Aber tatsächlich ist diese Interaktionsebene - und dass ich auch noch kommentieren kann - sehr naheliegend, da ich ja intuitiv irgendwie glaube, dass ich direkt gemeint bin.
Und dann ist es auch so, dass die Influencer natürlich Einiges daransetzen, in Interaktion zu treten. Das heißt, sie machen Umfragen. Natürlich können sie niemals diese ganzen Fragen und Antworten lesen, aber sie können auf Einiges reagieren, können so eine gewisse Nähe herstellen. Dann hört man auch von Influencern, die ganze Teams beschäftigen, die bei anderen Profilen folgen, Likes setzen, auch irgendeinen Kommentar da lassen, um dem Follower zu suggerieren: Ich interessiere mich auch für deinen Content. Du machst das auch ganz toll.
Und das funktioniert eigentlich ziemlich gut und ist natürlich etwas, was mehr Nähe schafft als früher der Star in der Bravo. Denn so lebensecht und lebensgroß dieser Starschnitt auch war, dieser Star hat doch am Ende nie gesprochen, hat nie versucht, direkt zu adressieren, hatte nie auch nur einmal signalisiert: Ich interessiere mich für dich, lieber Fan dort in deinem Kinderzimmer. Während das bei Influencern schon sein kann, dass da einmal dieses Like kommt oder einmal die Frage von dem Follower beantwortet wird. Und das schafft eine ungeheure Bindung, die, glaube ich, dann auch sehr lange hält.
MEDIEN360G: Vieles, was Influencer machen, ist ja diese Selbstoptimierung. Das Schauen auf den eigenen Körper. Was macht das, was sie da täglich sehen, mit den Kindern und Jugendlichen eigentlich?
Wolfgang M. Schmitt: Es wächst eigentlich eine Generation heran, die den Körper als immens wichtig erachtet, eigentlich für alles: Für das berufliche Fortkommen, für den Erfolg im Privaten, in der Liebe, für Glückseligkeit. Also der Körper ist nicht nur der Hauptaustragungsort für die ganzen Produktwerbungen, sondern das Zentrum für alles, was mit Influencern zu tun hat. Und im extremen Maße wächst da eine Gesellschaft oder eine Jugend heran, die natürlich dauerhaft unzufrieden sein muss, weil sie eine solche Perfektion präsentiert bekommt und die ganze Zeit nahegelegt bekommt: Man muss sich mit seinem Körper auseinandersetzen. Das ist das Wichtigste überhaupt, dass man immer wieder an sich herunterblickt, sich im Spiegel sieht und sieht, wie defizitär man eigentlich ist - nach diesen Normen und Vorbildern, die dort verbreitet werden. Das löst auch einen enormen Druck aus. Und das kann man in den Kommentaren gut nachvollziehen, sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Fitness-Influencern oder Beauty-Influencern, dass dann immer wieder Leute darunter berichten, dass sie wieder die Diät nicht einhalten konnten, dass sie nicht genug trainiert haben.
Oder dass sie einfach Pech haben mit ihrer Haut, dass die nicht so straff ist an den Beinen, wie das doch eigentlich sein müsste, wenn man jung ist. Das sorgt natürlich auch für sehr viel Verzweiflung. Im extremsten Falle ist es dann so, dass wirklich junge Leute sehr früh anfangen, zu Schönheitsoperateuren zu gehen, auch mit den entsprechenden Bildern von Instagram und die vorzeigen und sagen: So hätte ich's gerne.
MEDIEN360G: Viele Influencerinnen inszenieren sich ja so nach dem Motto: Ich bin eine Unternehmerin, ich kann alles...
Wolfgang M. Schmitt: Ja, auf Frauen lastet jedenfalls ein höherer Druck, sowohl wenn sie Influencerin sind als auch wenn sie Followerin sind. Denn die Bilder, die dort reproduziert werden müssen, sind keineswegs so emanzipatorisch, wie sie oft scheinen. Was stimmt, ist, dass wir dort tatsächlich mit vielen Frauen zu tun haben, die sich selbst verwirklichen können, auch in Form von Selbständigkeit. Da können natürlich Frauen sehr viel mehr selbst entscheiden, was sie machen wollen und wie sie sich vor der Kamera präsentieren wollen. Aber Obacht: Was dann doch auffällt, ist, dass eigentlich ein Frauenbild der 50er-Jahre wiederkehrt. Jetzt kann man sagen: Ja, aber die wählen das ja freiwillig aus. Aber die Frage ist da auch wieder: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Wer wollte denn diese Bilder jetzt gerade sehen? Und was passiert, wenn ich diesen Bildern nicht entspreche? Dann kann ich vielleicht nicht genügend Follower sammeln.
Das andere, was wir bei den weiblichen Influencern erleben, ist, dass diese Karriere nicht nur gemacht wird, sondern dass sie performt wird. Insoweit, dass man auch den Followern mitteilt: Ihr könnt das auch schaffen. Ihr könnt auch alle tolle Unternehmer sein. Was da ausgeklammert wird, ist: Nicht alle können Unternehmer sein. Irgendwann ist halt eine Marktsättigung erreicht. Das merkt man jetzt auch schon. Diese Influencerinnen leben davon, dass die anderen Frauen einfach zu Hause bleiben und diese Produkte konsumieren und ganz normalen, in Anführungszeichen, "gewöhnlichen Berufen" nachgehen.
MEDIEN360G: Um da aufzufallen, muss man lauter, schriller, auffälliger werden – unangenehmer werden?
Wolfgang M. Schmitt: Ja, diese Zunahme von Grellheit, Schrillheit, das Laute - das ist schon etwas, was man erleben kann. Es muss immer noch irgendwie gesteigert werden. Und das kann man bei den Challenges sehen, die immer extremer werden. Man macht immer verrücktere Dinge, irgendwas muss in die Luft fliegen, und irgendwann ist es dann fast das Haus. Und man sieht es auch bei den Reise-Influencern, die immer spektakulärere Fotos machen wollen. Also einfach nur mit dem Waschbrettbauch am Pool sitzen, das kann ja fast jeder, sagt man sich dann. Aber wer kann sich irgendwo draußen am Infinity-Pool festhalten und fast hinunterstürzen? Also wer riskiert sein Leben für den perfekten Schuss? Das ist etwas, was man dort erleben kann. Das ist aber noch nicht das, was den wirklichen Erfolg dauerhaft ausmacht. Ich glaube, das ist etwas, was auch viele, die Influencer werden wollen, unterschätzen. Man sieht dann auch bei den Followern, wenn man sich diese Profile mal ansieht, Leute, die so ein bisschen versuchen. Die jetzt tausend Follower haben und jetzt mal versuchen, komme ich noch auf 2000 oder gar 5000 Follower? Also fange ich auch mal ein bisschen an, zu posten und zeige mal meinen Trainingsplan und all das, was diesen Leuten meist fehlt. Auch wenn der Markt sehr gesättigt ist, gibt es daher immer noch Möglichkeiten. Was den Leuten meist fehlt, ist diese extreme Disziplin und Kontinuität. Diese Influencer sind in der Regel Leute, die sieben Tage pro Woche Inhalte posten. Manches produzieren sie vielleicht vor, aber sie sind da schon fast jeden Tag dabei. Und sie machen das jahrelang ohne Unterbrechung. Das heißt, wir haben es da mit Workaholics zu tun. So banal uns dieses Leben oft erscheint, ist es auch mit einer gewissen Anstrengung und Disziplin verbunden. Und das ist, was leicht unterschätzt wird.
MEDIEN360G: Was bedeutet das jetzt für unsere Gesellschaft? Also, wenn wir uns das jetzt anschauen, diese Verkindlichung?
Wolfgang M. Schmitt: Was wir auch sehen, ist eine generelle Infantilisierung. Da ist es dann schon möglich, dass sich auch plötzlich sehr erwachsene Leute eigentlich unterhalten, wie man bei Kindern sagen würde: Sprich doch mal normal. Ja, das ist etwas, was wir schon erleben können. Und wir haben so eine unglaubliche Expressivität, was Mimik, Gestik anbelangt, dort. Auch die Art, wie gesprochen wird, hat wenig mit dem zu tun, wie ein Fernsehmoderator das machen würde. Da zeigt sich doch auch ein bisschen, dass diese Influencer-Kultur eine ist, die sehr nah an der Volkskultur ist, beziehungsweise würde ich sagen, wir haben da so etwas wie die Rückkehr des Bauerntheaters. Da haben wir auch diese großen Gesten, ganz klare Typologien und Zuschreibungen. Wir wissen sofort: Das ist die komische Alte, das ist der junge Verführer. Das ist alles sehr klar und wird mit den entsprechenden Formen zum Ausdruck gebracht. Etwas Ähnliches finden wir jetzt dort. Auch diese Comedy-Formate, die manche Influencer machen, sind sehr stark am Bauerntheater oder der Stegreif-Komödie angelehnt, wenngleich sich diese Influencer nicht mit dieser Tradition auseinandergesetzt haben. Aber diese Art der Inhalte und Formensprache, die erlebt da eine Wiederkehr.
MEDIEN360G: Und was heißt das für uns?
Wolfgang M. Schmitt: Ich denke, man kann schon kulturpessimistisch werden, wenn man das betrachtet. Und sagen, dass die große Popkultur, wie wir sie in den 70er Jahren zum Beispiel kannten, heute so nicht mehr möglich wäre. Sie würde gar nicht mehr diesen Anklang finden, den sie damals gefunden hat, oder dass man sich auch wirklich auf Herausforderungen im Populären einstellt. Sondern heute geht es tatsächlich immer darum, die Leute dort abzuholen, wo sie stehen. Beziehungsweise dort, wo der Algorithmus sitzt. Das ist etwas, was generell nicht unsere Kultur bereichern wird, bis auf wenige Ausnahmen - und natürlich sind damit nicht immer alle innerhalb der sozialen Medien gemeint. Da gibt es auch das eine oder andere Lobenswerte. Aber das kommt nicht von Influencern. Sondern was wir dann eigentlich erleben, ist schon ein bisschen wie in solchen Science-Fiction-Filmen wie Demolition Man oder so. Irgendwann fangen die Leute an und halten Werbejingles für die perfekten Lieder oder für große Kompositionen – und ein bisschen ist das so auch: Also das Kunstverständnis dort ist eines, das nichts mit Anspruch und mit wirklicher Qualität zu tun hat. Die Frage ist, ob junge Leute, die eigentlich die ganze Zeit damit zugemüllt werden, noch in der Lage sind, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Ob sie überhaupt noch eine Affinität für Kunst haben, ob sich da noch mal neue Welten erschließen werden. Ich glaube, es wird schwierig werden.