Interview mit Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther "Es geht um Begleitung durch die Eltern."
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01. Januar 2021, 00:00 Uhr
Unsere Lebenswelt ist digital. Wie können Kinder heranwachsen und lernen, digitale Geräte als Werkzeuge zu nutzen. Welche Aufgaben müssen Eltern übernehmen? Vertrauen in die Kinder ist besser als die Kontrolle.
Markus Hoffmann: Herzlich willkommen bei MEDIEN360G. In diesem Monat wollen wir uns mit dem Thema auseinandersetzen: Wie wirken digitale Medien auf Kinder? Wie können Eltern Kinder an digitale Medien, die uns ja mittlerweile komplett umgeben, heranführen? Bei mir sitzt Dr. Gerald Hüther. Er ist Neurobiologe, hat eine Professur in Neurobiologie, aber mittlerweile (ist er) emeritiert. Und er ist der Vorstandsvorsitzende der Akademie für Potentialentfaltung. Herzlich willkommen, Herr Doktor. Schön, dass sie heute Zeit haben.
Prof. Dr. Gerald Hüther: Hallo, schönen guten Tag.
Markus Hoffmann: Herr Hüther, was brauchen Kinder, um glücklich zu sein? Und welche Rolle spielen dabei digitale Bildschirme und deren Inhalte?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Was mich ja als Neurobiologe interessiert, ist die Frage, wie sich diese Vernetzungen im Hirn so optimal miteinander verknüpfen können, dass ein Kind später im Leben sich in unterschiedlichsten Situationen richtig gut zurechtfindet. Und ein glücklicher Mensch ist einer, der später im Leben nicht an allem scheitert, der nicht ständig in Angst und Panik gerät, sondern der sich in vielen Situationen zu helfen weiß. Der weiß, dass er Freunde hat, der weiß, dass er in dieser Welt zu Hause ist und dass er sich dort zurechtfindet. Und dann heißt die Frage: Was können Eltern dafür tun, dass ihr Kind so in die Welt hinausgehen kann? Dann leben wir aber im Augenblick natürlich in einer digitalisierten Welt. Die fängt auch nicht an, die ist schon angebrochen. Deshalb müssen wir uns auch zunehmend überlegen, wie wir Kinder mit diesen digitalen Geräten vertraut machen.
Da ist es wichtig, dass wir uns noch einmal vor Augen führen, was denn eigentlich so ein digitales Gerät (ist). Das sind ja inzwischen auch Roboter und Automaten, die künstliche Intelligenz besitzen und die Dinge können, (von denen) wir eigentlich gedacht haben, wir sind die Einzigen, die das hinkriegen. Also die können lernen, die können sich orientieren, die können ja so ziemlich alles, was wir auch können. Aber die können eines nicht, das ist sogar den Experten für die Entwicklung künstlicher Intelligenz aufgefallen: Geräte, Maschinen - und wenn sie noch so digital sind - haben keine Bedürfnisse. Das ist ein spannender Punkt. Die haben keine Bedürfnisse. Weil sie keine Bedürfnisse haben, können sie auch keine Vorstellung entwickeln, wie sie das Bedürfnis umsetzen. Und wenn man nicht weiß, was man will, da kann man auch keinen Willen entwickeln, um das dann auch zu machen. So und da müssen wir eigentlich ansetzen, wenn wir über die digitale (Medien-)Nutzung von Kindern und Jugendlichen sprechen. Was da auf keinen Fall passieren darf, ist, dass die keinen Zugang mehr zu ihren eigenen, tiefsten inneren Bedürfnissen haben.
Wenn ich jetzt erlebe, dass Kinder sich wie soghaft von den bunten Bildern dieser digitalen Bildschirme angezogen fühlen, dann erlebe ich auch gleichzeitig, wie die Kinder nur noch ein einziges Bedürfnis stillen wollen, nämlich - wir würden vielleicht sagen das ist die Neugier, oder es ist so eine Entdeckerfreude -, dass man da irgendwie etwas sieht. Das wissen natürlich auch die Designer dieser Programme, dass die Kinder so furchtbar angezogen werden und haben das inzwischen auch sehr optimiert. Das muss möglichst bunt sein. Das muss möglichst schnell gehen. Da muss möglichst viel passieren. Und dann wird man - das kennen wir auch noch als Erwachsene - regelrecht reingezogen. Dann hängt man da drin. Und dann hat man dieses eine Bedürfnis, nennen wir es jetzt mal Neugier, Entdeckerfreude, das stillt man da.
Da gibt es auch noch andere Bedürfnisse. Kinder haben eine ganze Reihe von Bedürfnissen. Die beiden wichtigsten sind: Auf der einen Seite dieses Bedürfnis nach Verbundenheit und Nähe mit anderen. Das kann ich nicht stillen, wenn ich da in so einen Bildschirm starre. Das andere ist das Bedürfnis nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Die wollen was bauen, auch selber Gestalter sein. Das können sie nicht machen, wenn sie in den Bildschirm starren. Das dritte ist vielleicht noch, dass sie sich bewegen und sich ausprobieren wollen, spielerisch ihren Körper ausprobieren. Das können sie auch nicht machen, wenn sie vor dem Ding sitzen. Dann haben Kinder ein Problem und jetzt wird es sehr ernst: Die müssen dann automatisch - oder wir können noch sagen, das Hirn macht es automatisch - das andere Bedürfnis muss unterdrückt werden, damit das eine ausgelebt werden kann. Dann gucken die auf den Bildschirm und unterdrücken gleichzeitig ihr Bewegungsbedürfnis, ihr Verbundenheitsbedürfnis und alle anderen schönen Bedürfnisse, die sie eigentlich lebendig machen. Dann kriegen wir am Ende Kinder, die werden den digitalen Geräten, die sie bedienen, eigentlich immer ähnlicher. Das ist eine riesen Gefahr. Das müssen wir uns auch langsam bewusst machen.
Markus Hoffmann: Hat das Alter der Kinder in irgendeiner Form einen Einfluss darauf, wie die Hirnentwicklung von statten geht mit digitalen Geräten oder ohne digitale Geräte? Gibt es eine magische Grenze, wo man sagt: Vielleicht da keine digitalen Geräte und ab dann langsam heranführen. Oder ist das irrelevant?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Das macht natürlich keinen Sinn, ein kleines Kind schon vor so ein digitales Gerät zu setzen, obwohl das immer wieder passiert. Das Grundsätzliche heißt, Kinder lernen erst im Laufe des Heranwachsens ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Die können die am Anfang ja gar nicht artikulieren, sondern die machen das einfach. Je kleiner sie sind, desto weniger können sie sich auch fragen, warum sie jetzt unbedingt diesen Bildschirm bedienen wollen. Das heißt, die fangen einfach damit an und verlieren sich dann in diesen digitalen Welten. Deshalb heißt die Antwort auf diese Frage, man kann es nicht am Alter festmachen. Aber man könnte sagen erst dann, wenn ein Kind wirklich sicher ist, dass es seine lebendigen Bedürfnisse alle leben kann, im realen Leben, tagtäglich, und die auch umsetzt und dabei Freude hat, dass es draußen rumrennt, dass es spielt und ausprobiert, was alles geht. Erst dann wäre die Zeit, dass zu diesem Ausprobieren auch der Umgang mit diesen digitalen Geräten gehört.
Markus Hoffmann: Sie sagten, dass die Kinder mit Bedürfnissen quasi schon auf die Welt kommen. Die Kernbedürfnisse, die es da gibt, vielleicht Geborgenheit, die Zuneigung der Eltern, dass man auch Liebe bekommt und Aufmerksamkeit bekommt. Aber jetzt (mal unabhängig) von den digitalen Geräten: Was passiert, wenn die das von vornherein schon gar nicht kriegen?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Das Wichtige ist, dass wir eben Kinder zur Welt bringen, die haben diese Bedürfnisse. Die bringen die mit. Das sind zwei Grundbedürfnisse: Das eine nach Verbundenheit und Nähe und Geborgenheit. Das ist ja auch das gewesen, was sie im Mutterleib die ganze Zeit schon erfahren haben. Deshalb ist die Erwartungshaltung, dass das da draußen so weitergeht. Das ist eine Sehnsucht, die wir Menschen das ganze Leben lang eigentlich nicht wieder loswerden, mit anderen verbunden zu sein.
Das Zweite resultiert daraus, dass die Kinder im Mutterleib auch schon gewachsen sind. Die haben sich schon Kompetenzen angeeignet. Die üben ja schon ständig, was sie alles mit Armen und Beinen machen können. Deshalb ist es kein Wunder, dass die auf die Welt kommen und davon ausgehen, dass es da draußen für sie auch was zu entdecken gibt, was zu gestalten gibt. Deshalb ist das andere Bedürfnis diese Entdeckerfreude und Gestaltungslust, die die Kinder alle mit auf die Welt bringen. Später nennen wir dann das Bedürfnis nach Autonomie, selber machen. Wenn wir dann erwachsen sind, so sagen wir Freiheit (dazu). Also auf der einen Seite das Grundbedürfnis nach Verbundenheit und auf der anderen das nach Freiheit. Das sind die beiden wichtigsten Grundbedürfnisse.
Nun geht es los, denn diese Bedürfnisse sind sozusagen der Motor, der das Kind in die Welt treibt. Wenn das Bedürfnis da ist, sucht (das Kind) die Mutter und den Kontakt. Wenn das Bedürfnis nach Entdecken und Gestalten da ist, geht es los und entdeckt alles, was es zu entdecken und zu gestalten gibt in seiner kleinen Welt. Wenn ein Kind aber vor so einem digitalen Gerät sitzt und die ganze Zeit angezogen wird von der Buntheit dieser Bilder und dem Gequake, was da rauskommt, dann geht die ganze Aufmerksamkeit in dieses Geschehen mit dem Ergebnis, dass das Kind, um diesem Geschehen auf dem Bildschirm folgen zu können, seine anderen Bedürfnisse alle unterdrücken muss. Das geht ja gar nicht anders. Das heißt, das Bedürfnis nach Verbundenheit mit der Mama was zu machen, muss weg gehemmt werden. Das Bedürfnis, selber was zu entdecken, muss weitgehend weg gehemmt werden. Weil man ja nur das entdecken kann, was aus dem Bildschirm rauskommt. Dann entstehen Kinder, die diese Bedürfnisse gar nicht mehr haben. Die haben sozusagen ihr Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit verloren. Die Eltern stehen ratlos vor ihrem Kind, wollen Nähe herstellen und das Kind hat gar keine Lust darauf. Die wollen das Kind in den Arm nehmen, das Kind dreht sich raus. Oder die zeigen ihrem Kind auf einmal, wie schön das ist, ein Baumhaus zu bauen mit dem Papa und das Kind geht weg und hat keine Lust auf Baumhaus, weil es lieber zurück zu seinem Computer will.
Markus Hoffmann: Wenn man ein Kind hat, was in so eine Richtung quasi reingerutscht ist von der Entwicklung durch Bildschirm(-nutzung). Gibt es da irgendwelche Möglichkeiten, dass Kinder wieder eventuell ihre Bedürfnisse besser spüren und nicht nur die bunten Bilder von Smart Devices im Kopf haben?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Man muss es erst mal als Eltern wissen, dass das Kind durch die sehr einseitige Beschäftigung mit diesen sehr verlockenden Geräten sich selber dazu zwingt, diese anderen Bedürfnisse zu unterdrücken. Wenn man das weiß, dann kann man sehr früh schon - das wäre die Aufgabe von Eltern so in diesem Vorschulalter - den Kindern helfen, tatsächlich ihre Bedürfnisse zu stillen.
Markus Hoffmann: Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Dann muss man denen mal, bevor die ein Tablet kriegen, müsste man denen Bauklötze geben, dass die mal was bauen können. Dann müsste man auch mal dabei sein und sich mit den (Kindern) freuen, was sie da für einen tollen Turm gebaut haben. Dann müsste man sie auch immer wieder in den Arm nehmen und ihnen zeigen, wie wichtig sie einem sind, so wie sie sind. Dass man sie, so wie sie sind, mag. Das schafft diese Verbundenheit. Dann spürt das Kind, was es im Leben wirklich braucht. Es ist in der Lage, selbst auch dieses Bedürfnis zu stillen. Wenn es Sehnsucht nach Verbundenheit hat, geht es dann zu der Mama und sucht deren Nähe. Und wenn es Sehnsucht nach Gestaltungsmöglichkeiten hat, geht es raus in Garten und baut was. Meistens in der Küche, wo die Mama ist, da wird dann plötzlich aus dem Küchengeschirr ein ganzes Seeräuberschiff gebaut. Das sind die richtigen Entwicklungen. Das führt dazu, dass das Kind die Welt kennenlernt. Diese ganzen Küchengeräte und alles, was es draußen im Garten oder auf dem Balkon oder wo auch (immer) zu entdecken gibt. Dadurch entstehen dann diese Vernetzungen, die das Kind braucht, damit es weiß, was eine Gabel, ein Löffel ist und wie das auf dem Balkon funktioniert und wie die Pflanzen da draußen heißen.
Markus Hoffmann: Kinder gucken sich ja auch Sachen von Erwachsenen ab in ihrem Lernprozess. Jetzt haben wir dann ein Kind, vier, fünf, sechs Jahre alt. Es ist für das Kind normal, dass Mama und Papa eigentlich unheimlich viel vor diesem komischen Ding, was so leuchtet mit dem tollen Bildschirm, sind und da mehr Zeit verbringen als mit mir. Macht das auch was mit dem Kind? Oder ist es wieder das Bedürfnis, was da die zentrale Rolle spielt?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Es ist wieder so banal gedacht, dass das Kind automatisch alles macht, was die Eltern machen. Das Kind guckt, was den Eltern Freude macht. Das kann man richtig beobachten. Ich kenne Eltern, Väter vor allen Dingen, die wollten niemals, dass ihr Kind Freude an Rennautos hat. Sie selber aber sind begeistert (davon). Dann geben die sich eine riesen Mühe mit ihrem Jungen auf der Straße entlang zu gehen und dem zu erzählen, wie blöd das ist, mit so einem großen Auto herumzufahren und dass es doch besser ist, mit dem Fahrrad zu fahren. Das hört sich der kleine Junge alles an - drei Jahre, da verstehen die das schon. Dann kommt plötzlich ein roter Ferrari vorbei. Und dann guckt das Kind nicht den Ferrari an. Das guckt den Papa an und sieht im Blick dieses Papas, wie fasziniert der von diesem Gerät ist. Dann bekommt das Ding Bedeutung. Vorher hat das für das Kind gar keine Bedeutung. Das heißt, dass Kinder sehen können, was den Eltern wichtig ist. Deshalb können Kinder sehen, ob sie als Kind den Eltern wichtig sind, oder ob es den Eltern wichtig ist, dass sie gut funktionieren. Die können sehen, ob die Eltern lieber auf ihrem eigenen Tablet rumeiern und irgendwas machen, als mit ihnen einen Turm zu bauen. Das kriegen die alles mit. Und deshalb ist es nicht eine Imitation, sondern die orientieren sich an dem, was die Eltern für wichtig halten.
Markus Hoffmann: Wie medienkompetent müssen Eltern sein, um ihr Kind an das Internet heranzuführen? Und wie medienkompetent, haben Sie das Gefühl, sind die Eltern tatsächlich in unserer heutigen Zeit?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich mach es mal ein bisschen provokativ und sage: Es geht nicht um Medienkompetenz, sondern es geht um elterliche Begleitungskompetenz. Wenn ich überhaupt auf die Idee komme, mein Kind mit seinem Smartphone abzusetzen, weil ich jetzt irgendetwas anderes machen will und das Kind ist erst zwei Jahre alt, dann muss ich so eine Mutter fragen, was sie sich dabei denkt und was sie dabei empfindet.
Markus Hoffmann: Die Probleme gab es auch schon vor 20 Jahren. Da war es nicht das Smartphone, aber da wurde das zweijährige Kind vorm Fernseher geparkt. Also diese Begleitungskompetenz scheint ein Problem zu sein, was jetzt nicht neu ist?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Das ist überhaupt nicht neu. Zu der Zeit, als ich noch klein war, da gingen meine Eltern auf den Acker und haben da irgendetwas geerntet oder gesät. Da wurden die Kinder sozusagen an den Rand gesetzt und hatten dort zu warten, bis die mal wieder kamen. Da gab es auch nichts. Da wird manche sogar einen halben Tag irgendwo stehen gelassen. Das ist Abstellen des Kindes, weil man selbst etwas zu tun hat. Da ist die Frage, das kann mal vorübergehend notwendig sein. Aber dann heißt immer noch die Frage: Wie stelle ich das Kind am Acker ab? Mit einem digitalen Gerät, auf dem es herum daddelt und sich verliert und scheinbar irgendwelche Bedürfnisse befriedigt oder von irgendwelchen Bildern angesaugt wird, dass es sich kaum dagegen wehren kann, oder sitzt es alleine auf der Wiese und fängt an, sich die Grashalme anzugucken. Dann würde ich sagen, dann lieber auf der Wiese Grashalme angucken, weil da ist wenigstens der Tastsinn noch dabei. Und es gibt möglicherweise auch noch ein Gänseblümchen, was man da finden kann.
Markus Hoffmann: Gerade haben sie ja gesagt, dass vielleicht Eltern auch in ihrer Entwicklung Bedürfnisse so nicht gestillt bekommen haben, wie es denn der Fall sein sollte. Können dann die Eltern eigentlich das Vorleben mit den Bedürfnissen, wenn sie es selber gar nicht wissen?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Wir wachsen alle in eine Welt rein und merken, dass wir diese wunderbaren, schönen Grundbedürfnisse, diese lebendigen Bedürfnisse nicht so richtig stillen können. Es ist uns allen so gegangen, geht unseren Kindern jetzt auch so, dann müssen wir die unterdrücken. Und je besser wir, die unterdrücken, desto besser funktionieren wir in der Welt. Wenn ich kein Bedürfnis mehr habe, mich zu bewegen, kann ich den ganzen Tag in der Schule auf der Bank sitzen und machen, was der Lehrer sagt. Wenn ich kein Bedürfnis habe, noch irgendetwas in der Welt zu entdecken, kann ich die ganze Zeit dem Unterricht folgen und alles auswendig lernen, was da in der Schule verlangt wird. Wenn ich kein Bedürfnis mehr habe, irgendetwas zu gestalten, dann lass ich mir alles fertig vorsetzen. Das heißt, da sind wir alle durch. Aber wir haben dabei diese lebendigen Bedürfnisse in uns allen schon von der Kindheit an mehr oder weniger früh unterdrücken müssen. Jetzt sind wir in einem Zustand, Sie und ich und alle, die uns hier zuschauen, wir funktionieren einigermaßen. Aber wir sind nicht mehr richtig lebendig. Diese lebendigen Bedürfnisse, diese Sinnlichkeit, diese Entdeckerfreude, wo ist denn das alles hin?
Markus Hoffmann: Wie können wir da wieder zurückkommen?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Und da kommt das jetzt: Diejenigen, die uns zeigen könnten, wo das ist, das sind die Kinder. Aber nicht, wenn wir sie vor einen Rechner setzen. Das ist das Schöne. Kinder könnten uns wieder lebendig machen. Die könnten uns das Gefühl geben, dass wir da was verloren haben und könnten uns helfen, das wiederzufinden. Im Spiel mit den Kindern könnten wir plötzlich entdecken, wie sinnlich wir sind, wie unserer eigener Körper uns eine Freude macht, wie wir uns in dieser Verbundenheit wohlfühlen. Wir könnten spüren, was das für ein Glück ist, wenn man kein Bedürfnis mehr unterdrücken muss, damit man optimal funktioniert. Deshalb sind diese Kinder ein Segen.
Markus Hoffmann: Kommen wir noch mal zurück zu den technischen Geräten. In der dritten Klasse haben alle schon ein Smartphone. Und der Hype geht da richtig los. Das Kind will auch ein Smartphone haben. Jetzt haben sie quasi etwas in der Hand, was so "out of the box", wenn man es anmacht unheimlich viel kann. Es ist kein Fahrrad mit Stützrädern, das ist ein Ferrari, der dann da in der Hand ist. Mit Möglichkeiten, die halt auch Jugendschutz-technisch stellenweise fragwürdig sind. Wir reden von Pornografie, von Gewaltdarstellungen im Internet. Wie sehen Sie das, dass Kinder quasi an solche Technologien herangeführt werden müssen, wenn sie halt schon das Smartphone in der Hand haben?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Die Erste heißt: Ich habe so eine vertrauensvolle, liebevolle Beziehung mit meinem Kind zustande gebracht, dass ich mich darauf verlassen kann, dass das Kind immer dann, wenn es auf dem Smartphone etwas findet, was es nicht versteht, was ihm sonderbar vorkommt, dass es dann zu mir kommt. Dann kann ich alles offen lassen. Würde es eine Porno-Seite finden, würde es zu mir kommen, und ich könnte dem Kind erklären, dass es solche Idioten von Männern gibt, die sich so etwas den ganzen Tag angucken und sich dabei selbst befriedigen. Wunderbar! Das darf man auch einem sechsjährigen Mädchen schon sagen. Dann wird das Kind keine Lust haben, auf diesen Seiten weiter rum zu marschieren. Wenn ich es schaffe, dass meine Beziehung zu dem Kind so ist, dass das Kind sich bei mir wohlfühlt und bei mir geborgen fühlt und mir vertraut, dann kann ich mich darauf verlassen, dass es kommt. So war es doch auch vor 50 Jahren schon. Als ich klein war, haben unsere Eltern uns laufen lassen und haben darauf vertraut, dass, wenn wir da in irgendetwas (rein)kommen, was unangenehm sein könnte und gefährlich sein könnte, dass wir nach Hause kommen und fragen: "Was war das? Da war ein Mann, der hat sich da die Hose heruntergelassen." Dann haben die uns was erklärt. Das heißt, wenn ich dem Kind vertraue, brauche ich keine Kontrollinstanzen.
Und jetzt wird es bitter: Das heißt, Kontrollmechanismen brauche ich nur dann, wenn ich dem Kind und meiner Beziehung zu dem Kind nicht vertraue. Dann muss ich dem Kind vorschreiben, was es zu machen hat. Dann muss ich Zugangsregelungen schaffen. Dann muss ich Zeiten begrenzen - können sie alles machen. Aber das sage ich ihnen. Das ist ungünstig, weil sie verletzen, damit beide Grundbedürfnisse des Kindes. Sie machen das Kind nämlich zum Objekt ihrer Vorschriften oder ihrer Maßnahmen oder ihrer Bewertung oder Belehrung. Das wissen wir doch als Erwachsene auch. Wenn ich zum Objekt werde, von ihnen wie ein Objekt behandelt werde, dann werden meine Grundbedürfnisse beide verletzt. Ich mag mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Also ich lehne sie ab. Weil sie sagen mir, was ich zu tun und zu lassen habe, bewerten das noch. (Sie) sagen: "Setzen Sie sich ordentlich auf einen Stuhl. So sitzt man im Interview nicht." Da mache ich ein solches Interview mit Ihnen, aber dann nie wieder. Dann sind Sie durch.
Markus Hoffmann: Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist…
Prof. Dr. Gerald Hüther: Nein, das ist jetzt nicht der Fall. Und dann kommt mein zweites Bedürfnis: Ich möchte dieses Gespräch selbst gestalten. Ich sitze doch nicht hier, damit ich das wiedergebe und dauernd wiederkäue, was andere auch schon gesagt haben und was Sie erwarten. Also sage ich auch das, was ich für richtig halte aufgrund der Kompetenzen, die ich mir angeeignet habe. Wenn Sie mir dann sagen: "Das ist falsch und sagen Sie bittet das, was ich von Ihnen erwartet habe und was die Öffentlichkeit erwartet", dann fühle ich mich auch in meinem Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit verletzt. Beide Grundbedürfnisse, das der Verbundenheit und das nach Autonomie, beide werden verletzt, wenn ein Kind zum Objekt gemacht wird, und zwar zum Objekt von Regelungen, elterlichen Anordnungen, Maßnahmen, Bewertungen oder Belehrungen. Deshalb muss man sich das genau überlegen. So ein Kind, was man erst einmal anfängt, wie ein Objekt zu benutzen, das wird nie wieder Vertrauen zu einem bekommen.
Markus Hoffmann: Wir haben über die Kinder gesprochen, über die Eltern gesprochen. Jetzt noch eine große Einheit in dem Spiel sind die Kindergärten und Schulen. Wie können diese Bildungseinrichtungen dort unterstützend tätig sein? Sie haben auch dieses Jahr zu dem Thema Education for Future ein Buch herausgebracht, zusammen mit Marcell Heinrich und Mitch Senf, was auch so ein bisschen dieses Thema beleuchtet. Wie wichtig sind tatsächlich diese Bildungseinrichtungen?
Prof. Dr. Gerald Hüther: Ich habe damals, als ich das Buch mit diesen beiden wunderbaren jungen Leuten aus Leipzig geschrieben habe, gar nicht gewusst, was wir da für ein heißes Eisen anfassen. Mir war schon klar, dass unsere Schulen doch eher eigentlich Ausbildungseinrichtungen sind. Also wenn man es ganz hart sagt, dienen sie der Aufbewahrung, der Ausbildung und der Aussortierung von Schülern und von Kindern. Das war mir schon klar. Aber es war mir nicht so ganz klar gewesen, was die eigentlich wichtigste Aufgabe unserer Schulen und Bildungseinrichtungen wäre in dieser Welt des 21. Jahrhunderts. Da können Kinder nur scheitern, wenn die keine Lust mehr, keine Freude mehr am Entdecken und Gestalten haben. Wenn die gezwungen sind, ihre Grundbedürfnisse nach Entdecken und Gestalten und auch nach Verbundenheit schon in der Schule zu unterdrücken - manche ja schon im Elternhaus - dann werden das Kinder, die kommen aus der Schule, haben keine Lust mehr. Null-Bock kennt man ja.
Die (Kinder) haben auch keine Lust, irgendeinen Beruf auszuüben. Die machen dann irgendeine Tätigkeit, lernen irgendetwas, damit sie Geld verdienen. Das sind Tätigkeiten, die man für Geld abarbeitet. Das sind Tätigkeiten, die kann man in Algorithmen schreiben. Wenn die Erwachsen sind, wird es diese Tätigkeiten nicht mehr geben. Die werden als erste aussortiert. Alle, die den ganzen Tag im Beruf machen, wo sie mehr oder weniger etwas tun, was man auch aufschreiben kann: "Erst das, dann das, dann das, dann das." Das kann auch der Rechner. Das kann der Automat. Das kann der Roboter. Die werden nicht deshalb ausgetauscht, weil diese Roboter billiger sind, sondern die können es besser. So ein Rechtsanwalt, der nichts anderes macht als ständig Gesetzbücher durchzugucken, ob es irgendwo ein Gesetz gegeben hat, was da für diesen Fall günstig ist, den kann man doch ersetzen durch einen Roboter. Der Roboter kann das viel besser. Er macht das in zehn Minuten. Ein Arzt, der tausend Diagnosen erst mal durchgehen muss, viele Bücher lesen muss. Der gibt das da rein und dann kommt das gesammelte Wissen, dann kriegt er irgendeine Diagnose. Das gilt nicht nur für diese einfachen Arbeiten. Alles das, was durch Algorithmen ersetzbar ist, wird ersetzt. Diejenigen Menschen, die nur arbeiten, um Geld zu verdienen, führen Tätigkeiten aus, die ersetzbar sind. Die werden in Zukunft keinen Arbeitsplatz mehr haben. Die haben nichts mehr zu tun.
Das will ich nicht, dass Eltern Kinder großziehen, in der Hoffnung, dass das alles in Ordnung ist, so wie es im letzten Jahrhundert mal in Ordnung gewesen war. Da kriegte man einen Arbeitsplatz, wenn man gut funktioniert hat. Jetzt kriegt man keinen Arbeitsplatz mehr, wenn man gut funktioniert, sondern da muss man kreativ sein. Da muss man sich einbringen. Man muss Freude haben an dem, was man tut. Sonst wird das alles nichts. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Kindern helfen, dass die ihre lebendigen Bedürfnisse nicht unterdrücken, sonst sind sie durch Rechner ersetzbar. Das wichtigste Bedürfnis ist eben dieses mit der Entdeckerfreude. Wenn das kaputt geht, ausgerechnet noch in den Einrichtungen, die wir Bildungseinrichtungen nennen, dann ist das eine Katastrophe. Mit anderen Worten, und davon handelt das Buch: Unsere Bildungsbemühungen müssten darauf hinauslaufen, dass kein Kind mehr seine Freude, diese angeborene Freude am Lernen verliert. Da merkt man jetzt, was wir da zu tun hätten. Die Freude am Lernen geht sofort kaputt, wenn sie einem Kind sagen, was es zu lernen hat.
Markus Hoffmann: Es ist eigentlich vollkommen irrelevant, ob es dann mit digitalen Geräten lernt oder nicht. Es geht quasi um die Art, wie überhaupt (an das Lernen) herangeführt wird.
Prof. Dr. Gerald Hüther: Es geht um eine ganz andere Frage. Es geht um die Frage: Muss ich lernen oder will ich lernen? Wenn ich lernen will, suche ich mir die Werkzeuge, ob mit Büchern oder draußen in der Natur oder mit einem digitalen Gerät. Wenn ich aber lernen muss, hab ich keine Lust. Dann versuche ich dem ständig auszuweichen. Weil ich dann so einen Frust habe, muss ich dann auch irgendein Gerät nehmen und damit meine unangenehmen Gefühle einigermaßen abarbeiten. Ich habe Kinder gefragt. Ich sage: "Jungs - vor allen Dingen - wann geht ihr denn da dran und macht diese Ballerspiele?". Dann sagen die: "Wenn wir aus der Schule kommen, da haben wir so einen Frust, da müssen wir erst eine Stunde ballern, damit das weggeht." Das ist die Nutzung eines digitalen Geräts zur Affektregulation. Und das muss weg. Die müssten aus der Schule kommen und müssten sich freuen, was sie heute schon wieder alles gelernt haben. Sie müssten schon am Sonntagabend zu Hause sitzen, weil es in der Schule so spannend ist, was da alles kommt. Da brauchen wir uns auch keine Gedanken um den Einsatz digitaler Geräte in der Schule zu machen.
Markus Hoffmann: Das war ein schönes Schlusswort. Herr Hüther, ich bedanke mich, dass Sie heute Zeit hatten für dieses Interview. Und ich bedanke mich auch bei allen Zuschauern, die uns da draußen und im Internet gefolgt sind. Vielen Dank, Herr Hüther.
* Das Interview wurde am 19. November 2020 im MDR Landesfunkhaus Thüringen in Erfurt aufgezeichnet.