MEDIEN360G im Gespräch mit... Prof. Dr. Bernhard Pörksen

22. November 2019, 13:39 Uhr

Seit 2018 lehrt Bernhard Pörksen am Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuvor arbeitete er als Juniorprofessor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, vertrat 2006 den Lehrstuhl für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster und wurde 2007 für Kommunikations- und Medienwissenschaft habilitiert Als Autor veröffentlichte er unter anderem Texte in Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen sowie Netzmedien.

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MEDIEN360G im Gespräch mit...

"Wir müssen medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind. Wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zu einer redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden", so Bernhard Pörksen.

MDR FERNSEHEN Mi 18.12.2019 17:13Uhr 09:40 min

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MEDIEN360G: Der Algorithmus - früher war das ein Fachbegriff für Eingeweihte aus der Welt der Computer und ihrer Programme. Wenn wir mal ehrlich sind: Für die meisten ist der Begriff ein Fremdwort. Seit gut einem halben Jahrzehnt macht der Algorithmus aber plötzlich eine steile Karriere und ist heute an allem Schuld:

Am Aussterben des Einzelhandels durch böse Onlinehändler, wie Amazon zum Beispiel. Oder daran, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und überhaupt allen Fernsehsendern die Kreativen weglaufen, weil es bei Netflix und Co. viel aufregender ist.

Warum aber wirklich fast alle Menschen heute das böse Wort vom Algorithmus kennen, liegt natürlich an den bösen, selbstreferentiellen Filterblasen und Echokammern, für die auch der Algorithmus verantwortlich gemacht wird. Er verrohe die gesellschaftliche Diskussion, er fördere Hass und Intoleranz, lautet der Vorwurf.

Denn die im Netz und den sozialen Medien durch Algorithmen gelenkte Kommunikation, soll extreme Ansichten befördern und so die gesellschaftliche Mitte trocken legen.

Die Begründung klingt zunächst einmal schlüssig: Weil durch den Algorithmus Menschen gar nicht mehr mit anderen Sichtweisen und Ansichten konfrontiert werden, scheren sie sich nicht mehr um das Leben der anderen, sondern krakeelen nur noch wohlig im eigenen Meinungssumpf vor sich hin.

Aber ist das wirklich so? Ein sehr bekannter Kommunikationsforscher sagt nein.

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Wir leben in unterschiedlichsten Informationswelten. Jeder Klick auf einen Link, ist ein Ticket in ein ganz anderes Wirklichkeitsuniversum. Newsletter, Push Nachrichten, Kommentarforen – immer ist man mit anderen Perspektiven konfrontiert und die entsprechenden empirischen Studien, die wir im Moment haben, die sagen, die Informationswelt ist sehr viel vielschichtiger als gedacht, erster Punkt. Zweiter Punkt: das, was wir die Filterblase nennen, ist in Wahrheit ein Symptom, ein Ausdruck unseres Informationsverhaltens. Wir googeln uns in Bestätigungsmilieus hinein und das heißt: ich glaube, wir müssen das Kommunikationsklima der Gegenwart besser und anders verstehen. Wir können uns in unsere eigene Informationswelt hineingoogeln. Wir können uns unsere Selbstbestätigungsmilieus suchen. Aber wir sind immer mit anderen Perspektiven, Urteilen, Vorurteilen, großen und kleinen Ideologien konfrontiert. Das heißt, das Besondere der Kommunikationserfahrung unter vernetzten Bedingungen, ist die Gleichzeitigkeit von Abschließung und Dauerkonfrontation. Der Schock der Gleichzeitigkeit, die unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins, so könnte man das nennen.

MEDIEN360G: Kommt man denn da irgendwie wieder raus? Sie sagen ja einerseits, man kann sich schon in sein eigenes Milieu hineingoogeln. Auf der anderen Seite sind da eben andere Sichtweisen. Nun wird ja gesagt, der Algorithmus führt aber auch dazu, dass man immer "more of the same" – also doch immer mehr was einen in diese Filterblase hineinzieht, sozusagen angeboten bekommt, und vielleicht gar nicht mehr – es sei denn man sucht aktiv danach – mit diesen anderen Kommunikationswelten konfrontiert wird?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Die Frage ist, welche Ursachenbeschreibung wählt man eigentlich, auch um eine Lösung zu finden? Die Ursachenbeschreibung, die im Moment dominiert, ist zu sagen: ja der Algorithmus ist schuld. Der Algorithmus ist der Angstgegner. Die Schlussfolgerung, die nahe liegt: man muss den Algorithmus ändern. Meine These ist: wir haben es ganz wesentlich mit dem Phänomen der allgemeinen Bestätigungssehnsucht des Menschen zu tun. Menschen sind bestätigungssüchtige Wesen, und sie begeben sich in die Milieus, auch in die Informationsmilieus hinein, die ihren Glauben oder auch ihren Irrglauben stützt. Da gilt es anzusetzen. Es ist also weniger ein technisches Problem, als eine soziale Herausforderung. Wie kommen wir auf einigermaßen respektvolle Weise miteinander in Kontakt ohne unter diesem Klima der Dauerkonfrontation, die die große Gereiztheit mitproduziert, allzu sehr zu leiden.

MEDIEN360G: Das heißt also nicht der Algorithmus ist schuld, sondern der Mensch?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: So würde ich das ganz genau sagen. Der Fehler der gegenwärtigen Beschreibung liegt genau darin, dass wir ein soziales Problem, in ein technisches Problem verwandeln.

MEDIEN360G: Haben Sie denn Lösungsansätze, wie man da eben wieder herauskommt?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Also ich glaube, das ist eine große, noch unverstandene Bildungsherausforderung – in der gegenwärtig laufenden Medienrevolution, die auch ungeheuer viele positive Seiten, schöne Seiten, großartige Seiten, hat. Ich profitiere als Wissenschaftler jeden Tag von diesem Informationsreichtum der digitalen Welt. In der gegenwärtigen Medienrevolution liegt auch eine große, noch unverstandene Bildungsherausforderung. Wir müssen medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind. Und wie kann das gelingen? Meine eigene Antwort lautet: ich behaupte, wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zu einer redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Was meine ich damit? Ich glaube, dass in den Maximen, in den Normen, in den Prinzipien des guten Journalismus, eine Ethik für die Allgemeinheit liegt. Prüfe erst, publiziere später. Sei skeptisch, sei nicht zu schnell, sei dir der Verführung durch eigene Vorurteile bewusst. Höre immer auch die andere Seite. Agiere transparent im Umgang mit eigenen Fehlern. All das sind Maxime des guten Journalismus und diese sollten heute zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Das halte ich für eine elementare Bildungsherausforderung, die letztlich schon in der Schule beginnen müsste.

MEDIEN360G: Welche Rolle kommt denn dann den klassischen Medien zu, wenn am Ende sozusagen alle ein gewisses Grundgerüst an journalistischer Bildung – sie haben es ja gerade skizziert, was dort die ethischen, aber auch handwerklichen Grundlagen sind. Wenn das nachher "jeder" kann, dann sind alle "Journalistinnen" und "Journalisten". Welche Aufgaben kommen dann den klassischen Medien zu?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Ich glaube, dass ihre Aufgabe nach wie vor darin besteht, gewissermaßen in Vollzeit auf der Basis einer hochprofessionellen Ausbildung Informationen auszuwählen, zu recherchieren, Berichte zu schreiben über nahe und entfernte Welten, auf eine möglichst umfassende Art und Weise zu berichten. Der Journalismus wird keineswegs gegenstandslos in der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft, die ich mir hier so fröhlich herbeifantasiere, sondern er wird eigentlich wichtiger. Er muss sich dialogischer präsentieren. Eher ein Gespräch auf Augenhöhe mit einem medienmächtig gewordenen Publikum suchen, mit der fünften Gewalt, der vernetzten Vielen, wenn Sie so wollen. Der (Journalismus) sollte möglichst transparent agieren. Ein transparenter Journalismus, der die eigenen Spielregeln offenlegt, die eigenen Recherchewege, die eigene Einschätzung von Information, ist ein Beitrag zur Medienmündigkeit.

MEDIEN360G: Wir haben über die Menschen gesprochen, die in solchen Filterblasen sind, die sich eben – wie Sie so schön sagen, in ihre Welt hineingegoogelt haben – wie bekommt man die denn da wieder raus? Gibt es da auch Möglichkeiten, denn es wird ja ein bisschen dauern, bis wir diese redaktionelle Gesellschaft haben, die Sie gerade so schön skizziert haben?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Ich hab leider kein Patentrezept. Aber es gibt so ein, zwei Prinzipien der Kommunikation, die entkrampfen. Das erste Prinzip: sei so genau wie möglich, so präzise wie möglich. (Das) zweite Prinzip: vermeide Abwertungen. Das dritte Prinzip: höre erst zu und urteile dann. Mir fällt auf, und das halte ich wirklich für ein Defizit – ein gesellschaftliches Defizit, wie wenig verbreitet Kommunikationspsychologisches Basiswissen eigentlich ist. In den gegenwärtigen Mediendiskussionen regiert oft ein Klima der pauschalen Abwertung. "Die da draußen. Die hasserfüllten, tumben, alten, weißen Männer, die nachts an ihren Rechnern sitzen und Gift in die sozialen Netzwerke versprühen." Die ganzen Debatten sind vergiftet von Klischees – und wie bricht man Klischees auf? Indem man Kommunikation individualisiert. Das ist kein Patentrezept, weil es ein solches sicher nicht gibt, aber es ist vielleicht so ein Fingerzeig.

MEDIEN360G: Welche Rolle spielt dabei Dialog? Viele Medien haben ja das als ein neues "Zauberwort" erkannt, haben auch zugegeben und eingestanden, dass sie vielleicht mit ihren Zuschauerinnen und Zuschauern, Hörerinnen und Hörern, Nutzerinnen und Nutzern zu wenig dialogisch kommuniziert haben, versuchen dort jetzt entsprechende Schritte zu machen. Kann das auch ein Weg zu einer Lösung sein?

Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Ich glaube ja. Der gute Dialog zeichnet sich genau dadurch aus. Er ist präzise, genau, verzichtet auf pauschale Abwertung. In gewissem Sinne geht man nicht von einer asymmetrischen Rollenverteilung aus, sondern in einem guten Dialog kann jeder etwas lernen, können beide Seiten profitieren, und beginnt in gewissem Sinne die Wahrheit zu zweit.

MEDIEN360G: Nur steht dieser gute Dialog, von dem beide Seiten profitieren, in vielen Fällen noch ganz am Anfang. Denn bei den klassischen Medien wird noch immer viel zu sehr auf der Einbahnstraße – vom Medium, von der Redaktion hin zu den Empfängerinnen und Empfängern kommuniziert.

Bei den sozialen Netzwerken ist die Auseinandersetzung, welche Spielregeln und No-Gos für den Dialog auf ihren Kanälen gelten sollen, noch in vollem Gange. Und die Frage, wer für die Einhaltung der Spielregeln verantwortlich ist und im Fall der Fälle haftet, ist ebenfalls offen. Denn die Plattformbetreiber lehnen eine weitgehende Verantwortung für die bei ihnen geposteten Inhalte weiterhin ab.

Daran ist aber kein Algorithmus schuld. Sondern die sehr menschliche, beziehungsweise ökonomische Angst, das eigene Geschäftsmodell zu beschädigen.