MEDIEN360G im Gespräch mit... Prof. Dr. Manfred Spitzer
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30. April 2020, 19:31 Uhr
Der Ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm über das Lernen mit und ohne digitale Unterstützung. Ein Fazit aus der Corona-Krise: Lehrer sollten mehr Wertschätzung bekommen.
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Steffen Grimberg: Herr Professor Spitzer, wir wollen sprechen über digitale Bildung im weitesten Sinne, den Einsatz digitaler Technik, aber auch digitaler Lern- und Lehrmethoden. Und jetzt, in Zeiten der Corona-Krise, sind ja viele Schülerinnen und Schüler quasi zwangsweise damit gesegnet. Deswegen gleich meine erste Frage: Was zeigt uns denn die Corona-Krise über den aktuellen Stand der digitalen Bildung?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Na ja, zunächst mal gibt es gar keine digitale Bildung. Menschen lernen seit Jahrhunderttausenden auf immer die gleiche Weise. Am besten jemand ist da, den kann man fragen. Und dann sagt der: „Komm, ich zeig’s dir schnell“. Und dann lernen Menschen wahnsinnig schnell dadurch, dass der eine es dem anderen zeigt - durch sowas wie Einzelunterricht. Und den gab es schon sehr lange und den wird's auch immer geben. Der funktioniert auch am besten mit weitem Abstand.
Ich denke, was jetzt im Moment passiert, ist, dass sehr deutlich wird, wo die Grenzen der Digitalisierung von Unterricht tatsächlich liegen. Dadurch, dass es jetzt keinen anderen Unterricht mehr gibt und alles digital ablaufen muss, für ‘ne Weile, zeigt sich ja die Begrenztheit des Digitalen.
Ich meine: Eltern finden es ganz furchtbar, dass die Kinder nicht mehr von Lehrern unterrichtet werden. Schüler wollen wieder, dass die Schule aufmacht, weil sie nicht mehr vor einem Bildschirm hocken wollen, weil das viel langweiliger ist. Man kann auch keinen Schabernack und keinen Streich spielen. Das macht ja alles keinen so großen Spaß. Und das darf man auch nicht vergessen: Es werden vor allem den schwachen Schülern Schäden zugefügt. Wissen Sie: Einem starken Schüler, dem kann ich sogar schlimmstenfalls ein Buch in die Hand drücken und sagen: „Hier, lies das, das ist interessant. Und da lernst du was.“ Und am Ende liest er das wirklich und hat sogar was verstanden oder hat alles verstanden und weiß hinterher mehr als vorher. Das können gute Schüler, schwache nicht. Genau deswegen geht bei schwachen Schülern auch beim Digitalen alles Mögliche schief: Sie kommen mit der Technik nicht klar, die sind leichter ablenkbar und machen dann allen möglichen anderen Unfug am Rechner. Und sind eben sozusagen von der Art, wie sie sind, weil sie eben schwächer sind, nicht so geeignet für selbstgesteuerten, digital gestützten Unterricht. Das ist es ja.
Und genau deswegen wird sich jetzt die Schere zwischen den guten und den schwachen Schülern weiter auftun. Die wird größer, die wird nicht kleiner - es wird ja immer wieder behauptet, digitale Medien machten den Unterschied zwischen den Gebildeten und Ungebildeten kleiner - nein, wir wissen schon lange aus allen Studien, die es dazu gibt, dass das Gegenteil der Fall ist. Und genau das beobachten wir jetzt, wenn zum Beispiel Bundesländer wie Hessen sagen, wir schenken allen Schülerinnen und Schülern, dass sie einmal sitzen bleiben dürfen, freiwillig. Weil es jetzt so schlecht klappt. Dann ist das letztlich eine Bankrotterklärung für den Ersatz von Lehrern und gutem Unterricht durch digitale Medien.
Ich denke mir bei allem Hype, den wir jetzt in den letzten Wochen und Monaten gehabt haben, ist das ganz klar und für alle Beteiligten nur zu offensichtlich.
Steffen Grimberg: Das ist eine sehr pessimistische Sicht. Es gibt ja die Gegenmeinung, Sie haben es gerade „Hype" genannt, dass Leute sagen, Corona ist aber auch eine Chance, eine Art Katalysator. Viele Schulen, die sich ein wenig zögerlich angestellt haben, digitale Möglichkeiten des Lehrens, des Lernens anzuwenden, sind jetzt natürlich durch milden Zwang dazu in die Lage versetzt worden. Die probieren das aus. Würden Sie denn sagen, da bleibt so gar nichts hängen, da bleibt so gar nichts Positives?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Ich gebe mal ein Beispiel. Es gibt wunderbare Mathematik-Software, die dem Mathematiklehrer hilft, seine Arbeit zu machen, weil ja gerade in der Mathematik viel Routine ist. Man muss einfach viele Aufgaben rechnen und je mehr Aufgaben man macht, desto besser hat man einen Sachverhalt verstanden. Die sollten korrigiert werden. Das kann der Computer übernehmen. Der kann auch weitere Aufgaben - angemessen dem jeweiligen Schülerniveau - dann selber selbsttätig stellen. Das kann alles passieren, und das nimmt dem Lehrer tatsächlich viel Arbeit ab, die er dann für guten Unterricht verwenden kann. Und es kann ja sein, dass diese Software jetzt endlich mal mehr benutzt wird und dann auch tatsächlich die Leute lernen, damit umzugehen. Und dann auch weiter benutzen, wenn Corona mal vorbei sein sollte. Es kann sein, ja, aber das ist so ein Spezialfall. Den möchte ich überhaupt nicht ausschließen. Aber ich glaube, unterm Strich merken alle, wie begrenzt das Digitale ist und wie sehr wir Menschen doch mit anderen Menschen zusammen sein wollen und auch von anderen Menschen besser lernen können als vom Bildschirm.
Steffen Grimberg: Jetzt gibt es auch die These, dass gesagt wird: Dass das mit den digitalen Möglichkeiten im Moment nicht vernünftig klappt, das liegt auch daran, dass die Lehrkräfte in Deutschland auch im internationalen Vergleich hier sehr viel Nachholbedarf haben, also selbst eigentlich nicht auf der Höhe der Entwicklung sind und deswegen besondere Schwierigkeiten haben, die digitalen Möglichkeiten wirklich so optimal zu nutzen, dass die von Ihnen beschriebenen negativen Effekte möglichst nicht eintreten. Was halten Sie denn von dieser Argumentation?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Das ist dummes Zeug. Hier wird auf den Lehrern was abgeladen, was doch eigentlich die Industrie längst hätte erledigen sollen. Schauen Sie: Warum können denn Zweijährige iPads bedienen? Weil das so einfach ist! Weil sich da Menschen darüber Gedanken gemacht haben, wie man das User-Interface so hinkriegt, das es intuitiv ist und dann eben funktioniert. Ich meine, wir haben Computer nicht erst seit gestern. Die haben wir seit 35 Jahren! Ich habe mir vor 36 Jahren den ersten gekauft. Ich weiß es noch, 1984. Und dann kam das Internet auf, das gibt es seit 25 Jahren. Es ist ja nicht so, dass das alles seit gestern um uns wäre. Und viele gehen ja auch schon mit diesen Dingen um. Und viele Lehrer haben natürlich auch einen Rechner. Aber vieles, was uns immer so erklärt wurde, was so ganz einfach geht, geht eben nicht einfach. Genau deswegen gibt es auch noch ganz große Probleme. Und jetzt zu sagen: Ja, die Lehrer sind schuld, die haben sich damit noch nicht beschäftigt - das halte ich für Unfug.
Schauen Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn in Bayern das Kultusministerium gesagt hat: „Wir geben den Schulen Geld, die ein digitales Konzept entwerfen und wo sich die Lehrer eben mal am Wochenende hinsetzen und gucken, wie man zum Beispiel Mathematikunterricht am Computer macht.“ - Das ist völlig aberwitzig. Das ist etwa so, wie wenn der Gesundheitsminister sagt: „Wir geben mal ein paar tausend chemische Verbindungen an ein paar Hausärzte. Und und dann können die doch einmal probieren, was wo gegen hilft. Und dann werden wir schon sehen, wer was kann und wer nicht.“ So funktioniert es nicht. Wenn man weiß, dass zum Beispiel eine Softwarefirma - von der hab ich vorhin gesprochen - mit 60 Mitarbeitern seit zehn Jahren nichts macht, als Mathematikunterricht programmieren und jetzt einigermaßen so weit ist, dann ist völlig klar, das können nicht Lehrer mal eben am Wochenende. Und so war es aber gedacht. Also hier waren Systemfehler am Werk, von Leuten, die nicht wussten, was sie da tun.
Und es ist immer noch so, dass die Schulen Geld bekommen dafür, dass sie Hardware anschaffen, dass sie Internet-Kapazität, -Verbindung und WLAN anschaffen oder vielleicht sogar iPads kaufen. Aber wir brauchen die Hardware nicht, die auch in drei Jahren sowieso wieder veraltet ist. Wir brauchen die richtige Software, die funktioniert und die tatsächlich Lehrer und Schüler unterstützt. Und das, was es da gibt, wird nicht verwendet, weil das Ministerium sagt: "Wir können das nicht flächendeckend einkaufen. Das ist nämlich Sache in der Schule." Und die Schulen sagen: „Ja wir kaufen doch nur erst einmal das, was uns das Ministerium empfiehlt.“ Und so beißt sich die Katze in den Schwanz und nichts passiert. Das ist bei Schulsoftware in den letzten Jahren immer wieder überall passiert. Jetzt gibt's ein paar Ansätze, die sind Gott sei Dank mal positiv zu werten. Aber es ist nicht so, dass man die Schuld hierfür jetzt den Lehrern in die Schuhe schieben kann. Ich halte das für unglaublich gemein und fies. Die sind ja immer die Bösewichte und das halte ich für völlig verkehrt. Hier wurden politisch falsche Weichenstellungen getroffen und die Industrie hat auch einiges verpennt. Manche gute Firmen haben sich Mühe gegeben, aber die kamen nicht zum Zug. Das ist der Stand heute.
Steffen Grimberg: Würden Sie also sagen, der Digitalpakt Schule in seiner gegenwärtigen Form - der ja auch offensichtlich unter Anlaufschwierigkeiten leidet - ist vielleicht mal salopp gesagt gut gemeint, aber nicht zielführend, weil er einfach das Falsche bedient? Anschlussfrage: Wir haben aber doch auch zum Beispiel Schulen, wo es noch nichtmal verlässlich funktionierendes WLan gibt. Das sollte heute doch eigentlich Standard sein, oder?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Na ja, also solange es kein Corona gab, würde ich sagen, musste es kein Standard sein. Denn warum wollen Sie schlechten Unterricht mit viel Technik machen, wenn Sie guten Unterricht ohne Technik machen können? Es gibt ja Daten, und zwar wirklich große Datensätze, die gezeigt haben, dass, wenn Sie Unterricht digitalisieren, dass die Schüler dann weniger lernen, messbar weniger lernen. Dass vor allem die schwachen Schüler noch weniger lernen. Dass die Schwachen am meisten unter der Digitalisierung leiden, was ihre Leistungsfähigkeit im Bildungsbereich anbelangt. Das ist alles nachgewiesen. Wie man vor dem Hintergrund sagen kann: "Wir wollen jetzt die Schulen digitalisieren", das ist völlig unklar.
Jetzt haben wir schon viel Geld reingesteckt. Jetzt haben wir die Möglichkeiten. Und jetzt brauchen wir sie, genau wie in der Medizin auch. Wir machen jetzt ganz viele Konferenzen per Video, wir machen Lehre per Video, wir machen sogar Psychotherapie per Video. Und alle Beteiligten freuen sich, wenn es wieder normal geht, weil es am Bildschirm einfach nicht so schön ist wie live und in der realen Realität. Das ist beim Unterricht ganz genauso. Und nochmal: Ich bin der festen Überzeugung - jetzt zeigt sich erst, wie viel Hype an den Versprechungen war, dass Digitalisierung das Heil der Bildung ist. Das ist es definitiv nicht und das merken jetzt alle Beteiligten.
Steffen Grimberg: Gucken wir mal nach Skandinavien, in Länder, die uns mit Blick auf ihr Bildungssystem, auch auf die Leistung der Schülerinnen und Schüler immer als leuchtende Beispiele vorgetragen werden. Dort ist aber doch auch eine stärkere Digitalisierung des Unterrichts, des Schulalltags - auch die Ausstattung der einzelnen Schülerinnen und Schüler, auch natürlich im privaten Bereich mit, wie wir heute so schön sagen, „digitalen Endgeräten“ - gegeben. Hat das dann gar nichts miteinander zu tun? Oder unterscheiden sich diese Systeme in Skandinavien und Deutschland so grundlegend, dass es daran liegt?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Also, da geht es schon anders zu. Aber nehmen wir Finnland, das ist uns allen noch in den Köpfen als Pisa-Sieger von vor 20 Jahren. Die waren immer so gut. Dann haben sie tatsächlich in den letzten 10, 15 Jahren heftig in Digitalisierung investiert. Und was ist passiert? Sie sind nur noch im Mittelfeld. Andere skandinavische Länder haben auch viel in Digitalisierung investiert und sind in Pisa abgeschmiert. Das zeigen die Pisa-Daten und eine Analyse der Pisa-Daten, wo man mal geguckt hat: Wie viel haben einzelne Länder in die Digitalisierung investiert? Und wie haben sich die Schülerleistungen innerhalb der letzten zehn Jahre verändert? Je mehr in Computer und Internet investiert wurde, um so schlechter wurden die Schüler in den letzten zehn Jahren. Das kommt über eine große Korrelationsrechnung über Millionen von Schülerdaten aus mehr als 50 Ländern heraus. Ich kenne keinen größeren Datensatz dazu, der eindeutig gezeigt hat: Investitionen in Digitalisierung an Schulen macht das Lernen schlechter.
Steffen Grimberg: Warum ist die Politik dann Ihrer Meinung nach so darauf versessen, beziehungsweise warum wurde auch der Digitalpakt Schule als so ein großes Projekt in Angriff genommen? Es musste ja immerhin die Verfassung geändert werden, damit der Bund überhaupt in den länderhoheitlichen Bereich Bildung mit hinein durfte.
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Ich halte das für eine geglückte Arbeit der Lobbyisten. Ich meine, wenn Sie auf entsprechende Lobbyseiten gehen - zum Beispiel vom Verbund der Digitalwirtschaft - dann finden Sie so was wie: „Wir fordern für jedes HartzIV-Empfänger-Kind ein kostenloses Endgerät und kostenloses WLan, damit endlich die Bildung besser wird, auch bei den sozial Schwächeren.“ Man weiß, dass, wenn man das tun würde, die Bildung der sozial Schwächeren noch schlechter werden würde - aus vielen, vielen Studien. Also hier wird einfach gelogen.
Ich weiß auch, dass die Kultusminister zum Teil fehlinformiert wurden. Es gab vermeintlich eine Studie aus der TU München, die gezeigt hat, dass Computer an den Schulen tolle Effekte haben. Die hatten eine Meta-Analyse von über 70 Studien gemacht, die das vermeintlich zeigen. Wenn man sich das dann genauer angeguckt hat, dann war das zum Beispiel eine Studie, wo man gesagt hat: Okay, wir lassen die einen Erdkunde am Computer lernen und die anderen gucken einen Krimi. Und dann machen wir einen Erdkunde-Test. Und dass die, die einen Krimi geguckt haben, natürlich weniger Erdkunde gelernt haben als die, die Erdkunde am Computer gelernt haben, ist klar. Dass man aber damit gezeigt haben würde, das Computer den Unterricht verbessern: Nein, hat man nicht. Da können sie noch so viele solche schlecht gemachten Studien nehmen. Damit können Sie niemals zeigen, dass Computer in der Schule besser sind als normaler Unterricht.
Steffen Grimberg: Wir haben ja mit der Corona-Krise angefangen. Es gibt die These, dass sie eben für eine digitale Bildung sozusagen eine Art katalytischen Effekt haben könnte, ihr Beine macht. Was nach Meinung anderer Experten - Sie gehören, wie wir uns jetzt deutlich machen konnten, nicht dazu - sehr wünschenswert wäre. Was ist denn Ihre Bilanz der Corona-Krise?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Also ich denke mir, was die Corona-Krise im Endeffekt zeigen wird, das müssen wir noch abwarten, denn sie wird noch eine ganze Weile gehen. Was die Bildung anbelangt, denke ich mir, dass wir lernen, dass digitale Medien durchaus mit Bildungsaufgaben in Verbindung gebracht werden können. Wir selber machen das jetzt an den Unis, und schon da klappt es nur knirschend. Aber es klappt. Wir haben gute Leute, alle geben sich Mühe, alle sind überdurchschnittlich begabt und versuchen es halt, so gut es geht. Aber auch da merkt man, wie begrenzt das ist.
Und nochmal: Je jünger die Schüler sind, oder die Lernenden sind und je weniger Voraussetzungen sie schon mitbringen, desto schwieriger ist es, Digitales einzusetzen. So dass man sagen muss: In der Schule werden sich alle wieder sehr freuen, wenn da ein Lehrer ist. Und im Kindergarten sowieso. Und meine Hoffnung ist, dass wir - genauso wie wir jetzt den Wert von Ärzten und Pflegepersonal sehr schätzen lernen - dass die Bevölkerung auch wieder schätzen lernt, dass es Lehrer und Erzieher und Erzieherinnen und LehrerInnen gibt, denn die brauchen wir. Und dass wir die immer so runter gemacht haben, das ist keine gute Idee gewesen. Ich hoffe, dass sich das ändert: Mehr Wertschätzung für diejenigen, die sich dauernd um Bildung und um Gesundheit kümmern. Das sind die wichtigen Dinge. Vieles andere, Reisen und Events, darauf können wir auch mal eine Weile verzichten. Auf Gesundheit und Bildung können wir nicht verzichten.