Total vernetzt und ständig erreichbar Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft
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14. August 2020, 09:58 Uhr
Digitalisierung: Einige befürchten analoge Vereinsamung, Abhängigkeit von Likes und ständig neuen Reizen oder gesellschaftliche Verrohung. Andere sehen die Entwicklungen hin zu mehr digitaler Vernetzung eher als Chance. Wie können wir mit den enormen Transformationsprozessen umgehen? An welchen Punkten müssen wir besonders wachsam sein? Und brauchen wir dabei digitale Entgiftungskuren? Überlegungen zur Zukunft einer digitalen Gesellschaft.
Hypervernetzung und analoge Trennung
Digitalisierungsprozesse werden Menschen in den kommenden Jahren online weiter vernetzen, Kontakte im analogen Leben aber an einigen Stellen weiter verringern. Das soll nicht heißen, dass wir alle zu Smartphone-Zombies werden. Solche Befürchtungen werden z.B. geäußert, wenn es um die Boden-Ampeln für Smartphone-Nutzer in Tel Aviv geht oder um die extra Spuren auf den Fußwegen in Vilnius und Chongqing, die Unfälle vermeiden sollen. Viele Menschen werden von den Inhalten auf ihren Smartphones und anderen mobilen Geräten geradezu eingesogen. Die Umwelt ausblenden zu können ist laut der Wirtschaftspsychologin Sarah Diefenbach auch eine positive Leistung des Gehirns. „Außerdem ist das gar kein so neues Phänomen“, erklärt die Autorin des Buches „Digitale Depression – Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern“. Auch früher hätten Menschen sich völlig in ihre Zeitung vertieft. „Durch die deutlich stärkere mobile Nutzung digitaler Medien rückt dieser Zustand jetzt aber stärker in Öffentlichkeit“, erklärt sie.
Einerseits fallen so viele zufällige Kontakte und Gespräche mit anderen Menschen weg, etwa wenn in öffentlichen Verkehrsmitteln alle in Mails, Messenger, Instagram und Co. vertieft sind, Supermarktkassen durch Self-Scanner ersetzt werden oder Busfahrerinnen und Busfahrer durch autonom fahrende Systeme. Andererseits treffen Nutzerinnen und Nutzer in digitalen Sphären Menschen, denen sie sonst am Bahnsteig, an der Supermarktkasse oder im Bus wahrscheinlich nie begegnet wären.
Die Frequenz von Kontakten steigt im digitalen Raum, die Intensität wird im Durchschnitt geringer
, beobachtet Diefenbach. Das sei weder positiv noch negativ. „Es kommt darauf an, was man daraus macht, wie man damit umgeht“, erklärt die Professorin von der LMU München und rät, die Kommunikationsarten bewusst zu kombinieren: z.B. den Familienchat für den schnellen Austausch und Telefonkonferenzen oder Familientreffen für intensivere Gespräche.
Einsamkeit und Hassrede
Auch wegen des Wegfallens einiger analoger Kontaktpunkte geht es in der Diskussion um gesellschaftliche Entwicklungen durch Digitalisierung immer wieder um Einsamkeit. Einige Studien scheinen zu belegen, dass Menschen durch Social-Media-Konsum zu vereinsamen drohen. So hat z.B. eine Untersuchung der University of Pittsburgh ergeben, dass die Anfälligkeit für Gefühle sozialer Isolation bei Teilnehmenden, die am Tag mehr als zwei Stunden mit sozialen Medien verbrachten, doppelt so hoch war wie bei Probanden, die weniger als 30 Minuten pro Tag mit Facebook, Twitter und Co. verbrachten. Dabei gibt es aber auch das Henne-Ei-Problem: Was war zuerst da, die Einsamkeit oder der Social-Media-Konsum? Andere Studien zeigen, dass vor allem junge Menschen über soziale Medien neue Leute kennenlernen und sich stärker akzeptiert fühlen.
Der Medienpsychologe Tobias Dienlin von der Uni Hohenheim sagte Anfang des Jahres bei Deutschlandfunk Nova:
Die Effekte von Social Media auf die Einsamkeit scheinen gar nicht so groß zu sein.
Versuche man Thesen wie "Social Media macht einsam" mit Studien zu belegen, falle das schwer.
Eine weitere Befürchtung: Durch das Internet verkümmere das Denken und die Menschheit trage ihre hässlichsten Seiten zutage, etwa durch Hate Speech und Hetze in sozialen Medien. Ja und nein: Digitale Infrastrukturen schaffen Strukturen, die Konflikte begünstigen können. So seien etwa die Hürden geringer, mit Unbekannten in Kontakt und auch in Streit zu treten, erklärt die Psychologin Diefenbach. Das wiederum wird von mehr Menschen wahrgenommen, weil die Kommunikation sichtbarer ist, als eine Pöbelei in irgendeiner Kneipe. Wenn Nutzerinnen und Nutzer ihr Gegenüber nicht kennen und nicht sehen, sind außerdem die Hemmschwellen geringer, beleidigend zu werden und den eigenen Frust an anderen auszulassen.
Wie bei allen anderen Technologien, kommt es auch beim Netz und Social-Media-Plattformen auf den individuellen Umgang an und auf gesellschaftliche sowie juristische Normen, auf die wir uns einigen müssen. „Technik schafft immer wieder neue Begegnungsformen, für die es noch keine Normen gibt“, erklärt Diefenbach. Dabei herrscht in der Anfangsphase meist Uneinigkeit, wie die Details zu bewerten sind. Bis eine Gesellschaft das ausgehandelt und verinnerlicht hat, vergehen Jahre, eher Jahrzehnte.
Was bringt Digital Detox?
Digital Detox bzw. digitales Entgiften ist in den vergangenen Jahren zu einem romantisierten, kommerzialisierten Trend geworden. Kurse und Camps verschiedener Anbieter suggerieren digital gestressten Dauer-Onlinern, durch eine Art Entgiftungskur könnten sie die Anspannung der ständigen Erreichbarkeit loswerden und die Angst, etwas zu verpassen. „Das ist aber nichts, was man in einer Woche regeln kann“, kritisiert Diefenbach. Wichtig sei vor allem ein dauerhaft gesunder Umgang mit digitalen Reizen.
„Bewusster Verzicht auf digitale Medien und das Smartphone kann aber eine interessante Möglichkeit für eine neue Erfahrung sein“, räumt die Psychologin ein. Es sei nicht verkehrt zu erleben, wie man das mittlerweile ungewohnte Gefühl digitaler Abstinenz wahrnehme, was es mit dem eigenen Empfinden mache, welche Aspekte vermisst werden und ob das Stressempfinden tatsächlich abnehme. Auf Basis solcher Erfahrungen könne man eine gute Strategie für einen dauerhaft gesunden Umgang mit Hypervernetzung, digitalen Reizen und dem riesigen Informationsangebot finden.
Der Unterschied zwischen Technologie und Transformation
Bei der Digitalisierung von Bildung kreist die Diskussion häufig um Infrastruktur. Sollten Kinder Smartphones im Unterricht nutzen dürfen? Mit welcher Technik sollten welche Altersstufen ausgestattet werden? Für eine vernünftige Bildung in einer durchdigitalisierten Gesellschaft brauchen wir aber nicht nur Klassenräume mit Tablets und Smartphones. Wir brauchen vor allem auch eine Bildung, die es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich selbstbestimmt und als mündige Bürger in einer digitalen Gesellschaft zu bewegen. Infrastruktur ist die Grundlage, um sich überhaupt im Netz bewegen zu können. Reflexion und Verständnis der durch Digitalisierung ausgelösten Veränderungen und Besonderheiten und die Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft sind aber genauso wichtig: Wie gehe ich mit der Informationsflut um? Wie lerne ich, Quellen und Informationen einzuordnen? Welche Verantwortung habe ich als Einzelperson für das Debattenklima im Netz? Welche Daten hinterlasse ich, welche Auswirkungen hat das und wie wie kann ich meine digitalen Spuren kontrollieren? Wie gehe ich mit den ständigen Reizen von Social-Media-Plattformen um, die darauf programmiert sind, ständiges Engagement zu generieren? All das müssen nicht nur Kinder lernen.
„Ein wichtiges Beispiel wäre auch die Frage: Was machen Likes mit uns? Nach einer gewissen Zeit sieht unser Hirn diesen Reiz als eine Art Belohnung und bewertet ein Ausbleiben negativ“, erklärt Diefenbach. Reflexion zu lernen sei hier wichtig, damit Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene nicht in einer Art Abhängigkeit gerieten in der sie alles dafür tun, online Bestätigung zu erfahren.
Viele Zusammenhänge und Auswirkungen werden wir bei der aktuell rasanten technischen Entwicklung allerdings erst im Nachhinein erkennen können. So warnte etwa die Sozialwissenschaftlerin und Programmiererin Zeynep Tufekci beim Schweizer Magazin Republik mit Blick auf Datenschutz, selbst eine perfekt informierte Gesellschaft könne im Zeitalter von Machine Learning und Künstlicher Intelligenz nicht behaupten zu wissen, was genau sie in verschiedenen Nutzungsbedingungen eigentlich zustimmen würden und was in einigen Jahren aus den Daten destilliert werden könne: „Wir haben doch keine Ahnung, was die heutigen Daten in Zukunft alles anrichten können! Niemand hätte vor sieben Jahren vorhersagen können, dass die getätigten Facebook-Likes von damals heute die Vorlieben, die sexuelle Orientierung und die Persönlichkeitszüge von einzelnen Personen so genau umschreiben können. Das ist alles mit den Modellen von heute möglich, die die Daten von damals auswerten.“
Die Zukunft selbst gestalten
Bei fundamentalen Transformationsprozessen treffen meist viel Euphorie und viel Pessimismus aufeinander. Nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mahnten z.B. einige Stimmen, die Technologie führe vermehrt zu Hetze, zu Gier nach Ruhm und Geld. Andere feierten die neue Möglichkeit der Informationsverbreitung und sahen darin eine Revolution der Wissensvermittlung, die immer mehr Menschen eine gute Bildung ermöglichte. Kommt Ihnen bekannt vor?
Ähnliche Stimmen gibt es auch mit Blick auf das Internet. Das Spektrum zwischen all diesen Stimmen ist wichtig. Sie tragen zur Reflexion bei und sind Motor gesellschaftlicher Aushandlungs- und Lernprozesse. „Wichtig ist aber, zu verstehen, dass es nicht nur ‚das Digitale an sich‘ ist, das hier die gesellschaftlichen Entwicklungen prägt“, sagt Diefenbach. „Die Richtung, die unsere Gesellschaft nimmt, können und müssen wir selbst aktiv gestalten.“ Das kann einerseits jede und jeder einzelne beispielsweise mit Dingen wie Nutzungsverhalten, Engagement in Online-Diskussionen, Datenhygiene oder Weiterbildungen tun. Andererseits braucht es aber auch mehr denn je eine Politik, die Chancengleichheit und umfassende Bildung zur Digitalisierung garantiert, Grenzen setzt bei der Verwendung von Daten und Hetze, Technologien für alle nutzbar macht und vorausschauend handelt, statt nur reagiert.