"Überflüssig", "unmöglich", "übertrieben" Warum Gendersprache das Publikum nervt
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14. Januar 2022, 16:50 Uhr
In den Ergebnissen des Meinungsbarometers MDRfragt wird deutlich, was die dort befragte Mehrheit von gendergerechter Sprache hält. Ob im Privaten, bei Behörden oder in den Medien: Gendern und die öffentliche Debatte darüber nerven. Aber warum?
Viel Widerstand müssen ein kleines Sternchen, ein großes I und der lautlose Bruchteil einer Sekunde aushalten. Dabei haben sie vermeintlich Gutes im Sinn: Die Sprache soll gerechter werden und niemanden mehr ausschließen. Die Debatte hat sich zum Reizthema entwickelt, die Umfragen sprechen eine klare Sprache. So hat das ZDF im Juli 2021 in seinem Polit-Barometer gefragt, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur geschlechtergerechten Sprache stehen. 71 Prozent finden Trennungszeichen und Sprechpausen "nicht gut". Auch im Meinungsbarometer MDRfragt lehnen 74 Prozent die geschlechtergerechte Sprache in den Medien explizit ab.
Dennoch können sich Medienhäuser, Institutionen und Unternehmen der Debatte nicht verschließen. Gleichzeitig ist jede und jeder selbst mit dem Ob und dem Wie konfrontiert. Denn: Es gibt keine einheitliche und allgemeinverbindliche Regelung.
Es ist ungewohnt
Welche Meinung haben Passantinnen und Passanten in der Erfurter Innenstadt zum Gendern in den Medien? "Übertrieben", "störend" und "ungewohnt", finden die meisten. Das oft vorgebrachte Argument, Gendern bzw. "neuere orthografische Formen" wie das Gendersternchen oder der Schrägstrich störten den Lesefluss, ist zumindest aus Sicht von Anatol Stefanowitsch wenig überzeugend. Er ist Sprachwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und erkennt in der Debatte um geschlechtergerechte Sprache etliche Widersprüche: "Die Leute fühlen sich gestört", das werde auf zwei Ebenen deutlich. "Zum einen ist es etwas Neues, etwas Ungewohntes und zum anderen wird es wahrgenommen, als würde den Leuten etwas von einer Elite aufgezwungen."
Sprachgewohnheiten spielen hier eine große Rolle. Laut Entwicklungspsychologie, Linguistik und Biologie ist der Spracherwerb eines Menschen mit etwa sieben Jahren abgeschlossen. Danach findet eine lange Phase der Einprägung statt. Immer wieder kommen neue Wörter hinzu, vieles läuft automatisiert ab. "Alles, was gewohnt ist, hilft uns dabei, sich auf die Kernfunktion von Sprache zu konzentrieren, nämlich den Austausch von Ideen und Inhalten", bekräftigt der Berliner Sprachwissenschaftler.
Die Frage nach alternativen Formen sei laut Stefanowitsch schon mindestens 20 Jahre in verschiedenen Subkulturen behandelt worden. Seit etwa 2015 dränge diese Diskussion nun an die Oberfläche. Für die breite Öffentlichkeit wirke das, als würden eigene Gewohnheiten "drastisch und ganz plötzlich in Frage gestellt". Beim Umgang mit dem Sprachwandel deute sich in den Ergebnissen von MDRfragt für Stefanowitsch ein Kohorteneffekt an. "Jüngere Menschen weisen eine größere Offenheit für das Thema auf", interpretiert er die Antworten der Befragten. Sie seien durch ihr soziales Umfeld häufiger mit den Forderungen konfrontiert.
Persönliche Probleme mit dem eigentlichen Hintergrund einer veränderten Sprech- und Redeweise, nämlich, etwa dass möglichst alle in die Sprache eingebunden sind, werden laut Stefanowitsch selten ausgesprochen: "Möglicherweise lässt sich einfacher über ein Satzzeichen diskutieren, als über die Frage, ob man bestimmte Menschen aus dem alltäglichen Wortschatz ausschließt."
Die Debatte ist überzogen
Einige Befragte empfinden die Diskussion als "überzogen", andere hingegen betrachten es als notwendig, dass das Thema "immer wieder hochgehalten wird". Diskussionen, die in diversen Talk-Shows geführt werden, haben auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung gendergerechter Sprache: "Eine aufgeheizte Debatte verhindert den Gewohnheitsprozess, der sonst schnell einsetzen würde", schätzt Anatol Stefanowitsch ein. "Das Gendersternchen wird zum roten Tuch", resümiert er. Zurück bleibt ein Fremdheitsgefühl.
Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Veronika Karnowski von der Universität Erfurt erkennt ebenfalls eine Polarisierung der Debatte und fordert die Vermittlung aufklärerischer Inhalte. Veränderungen in Medien würden häufig nur von denen kommentiert, die eine besonders starke Meinung dazu haben. Sie weist auf die Rolle sozialer Medien hin und räumt ein:
Die lautesten Stimmen decken nicht unbedingt die Meinung der Mehrheit ab.
Es gebe einen offenen Diskurs mit Für- und Gegenstimmen, während durchaus Studien existierten, die belegen, dass das generische Maskulinum (z.B. vom Publikum nur mit männlichen Personen assoziiert wird. Stefanowitsch sieht ein Problem in den gebräuchlichen "Pro-und-Contra-Formaten". Zwischentöne, die die Notwendigkeit mit Studien belegen und Lösungen vorschlagen, werden so kaum gehört. Positiv an der Polarisierung: Sender rückten das Thema auf die Agenda, denn eine Meinung dazu, hätten fast alle.
"Medien haben ein doppeltes Problem"
Institutionen, Medienhäuser und Verlage können sich dem Thema gendergerechte Sprache nicht entziehen. Gleichzeitig fehlt eine allgemein gültige Regelung. "Firmen und Behörden geraten in einen Rechtfertigungsdruck", macht Stefanowitsch deutlich, der 2018 das Buch: "Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen" veröffentlichte. Um einer noch größer werdenden Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern entgegenzuwirken, sei Transparenz unbedingt notwendig. So könnte man beispielsweise bei Meinungsstücken den Autorinnen und Autoren freistellen, ob und welche Form der gendergerechten Sprache sie verwenden und dies dem Publikum auch deutlich machen.
Eine Frage der Zeit
Warum gendergerechte Sprache zum Reizthema geworden ist, hat mehrere Gründe: Ein gestörter Lesefluss ist ein von Gegnern hervorgebrachtes Argument, das auch das Gefühl eines Eingreifens in eigene Gewohnheiten transportiert. Das Gendersternchen beispielsweise ist zum Symbol der Debatte geworden und wird oft negativ diskutiert. So entsteht der Eindruck, man zwinge die Einzelne oder den Einzelnen dazu, sofort seine Sprach- und Leseroutinen zu ändern.
Fehlende Offenheit und Angst vor dem Bruch mit bereits Erlerntem zeigen sich insbesondere im Vergleich der Altersgruppen. Dahinter liegt nicht selten ein fehlendes Verständnis für die Notwendigkeit oder individuell verankerte Rollenbilder. Laut Stefanowitsch müssten hier Jung und Alt mehr aufeinander zukommen und eigene Ansichten sachlich erklären.
Die Rolle der Medien ist hierbei die eines Vermittlers. Sendungen, in denen Meinungen aufeinanderprallen und Pro-und-Contra-Artikel sind laut Expertinnen und Experten vielleicht nicht immer förderlich. Konstruktive Lösungen verschwinden hier hinter Anfeindungen und Spott. Aufklärung statt Polarisierung sollten öfter Einzug in die Formate halten. Und: Sprachwandel braucht Zeit, fasst auch Anatol Stefanowitsch zusammen: "Man kann von einem 70-Jährigen nicht erwarten, dass er von heute auf morgen seine Sprachgewohnheit verändert."