Foto der Podiumsdiskussion mit dem Logo der Medientage Mitteldeutschland.
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MTM Extra 2020 in Leipzig "Das ist als Chance zu begreifen"

01. Oktober 2020, 09:55 Uhr

Warum werden Ostdeutsche auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch oft als jammernde "Ossis" mit Anglerhut dargestellt? Und wird die Deutsche Einheit je vollendet werden? Diese provokanten Fragen standen im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion der Mitteldeutschen Medientage (MTM) am 1. Oktober 2020 in Leipzig.

"Es ist doch ganz offensichtlich, wer die Deutungshoheit hat", sagte der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Michael Meyen von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Osten Deutschlands sei in der überregionalen Berichterstattung unterrepräsentiert. Als Beispiel nannte er die Leipziger Volkszeitung, die ihren überregionalen Teil wie viele ostdeutsche Regionalzeitungen "irgendwo aus dem Westen von einer Redaktionsgemeinschaft" bekomme. "Da sitzen dann Redakteure, die eben nicht wissen, welche DDR-Menschen vielleicht einen Nachruf verdienen oder welche Menschen für die Menschen hier vor Ort wichtig sind." 

Wenn man in überregionale Medien schaue, könne man "Definitionsmachtverhältnisse" beobachten, so Meyen – man merke schnell wer es schaffe, seine Themen und seine Perspektiven in die Leitmedien zu bringen. Das habe auch etwas mit Verteilung der Macht zu tun, die etwa bei Führungspositionen in den Medien sehr unterschiedlich ausfalle.

"Wir sind der Osten" widerspricht Klischees

Für die Journalistin Melanie Stein liegt in der einseitigen medialen Betrachtung einer der Gründe, warum sie die Initiative Wir sind der Osten gestartet hat. "Es gibt einfach zu wenig ostdeutsche Stimmen gerade in den überregionalen Medien." Die Online-Plattform stellt engagierte Menschen vor, die dort ihre persönlichen Erfahrungen schildern. Wir sind der Osten zeigt so ein anderes Bild von Ostdeutschland – abseits der gängigen Klischees.

Erstaunt habe sie und das Gründungsteam, wie viele Journalisten, die sich ja quasi per Berufsdefinition nicht mit einer Sache gemein machen wollten, die Initiative unterstützen würden. "Offenbar gab es da eine gewisse Not, genau das zu tun", beschrieb Stein den breiten Zuspruch aus Medienkreisen. Die Initiative wolle bewusst eine positive und zukunftsgerichtete Sicht auf und aus Ostdeutschland zeigen. Denn die häufige Fokussierung auf Probleme wie Rechtsextremismus in der Berichterstattung ist aus Sicht der Initiatoren auch problematisch für die Demokratie: "Ich glaube es ist gefährlich, alle Menschen in eine Ecke zu stellen." Dies schüre auch das Misstrauen gegenüber den Medien.

Ost-Themen interessieren im Osten wie im Westen

"Viele Medien in Deutschland werden von weißen, westdeutschen Akademikern für weiße, westdeutsche Akademiker gemacht", sagte in Leipzig auch Marieke Reimann. Sie leitete bis Ende September 2020 die Redaktion von ze:tt, einem Online-Angebot des ZEIT-Verlags für junge Menschen. Während ihrer Zeit als Chefredakteurin richtete sie dort ein Ostdeutschland-Ressort ein. Als Grund nannte sie unter anderem die Erfahrungen aus der eigenen Laufbahn: "Es war mir einfach ein Anliegen, auch eine Art von gleichberechtigter Berichterstattung zu schaffen." Tatsächlich seien die zett-Themen nicht nur aus Ostdeutschland geklickt worden, sondern wurden überall gelesen: "Es gab da keine Unterschiede zwischen Rostock und München."

Rainer Robra (CDU), Chef der Staatskanzlei und für die Medienpolitik des Landes Sachsen-Anhalt zuständig, forderte, nicht nur Defizit-Diskussionen zu führen: Ostdeutsche Literatur habe in den vergangenen Jahren viele der großen Literaturpreise in Ost- und Westdeutschland abgeräumt. "Da ist die ostdeutsche Literatur mit Autoren und Themen ja auf riesiges Interesse in Deutschland gestoßen". Ähnlich sei es im Film-Bereich, wo es hervorragende Filmemacher gebe, die mittlerweile in ganz Deutschland große Bedeutung hätten. "Es ist schon das Interesse da. Ich glaube schon konstatieren zu können, dass da wieder einiges wächst."

Erweitertes Themenspektrum und mehr Selbstbewusstsein

Was aber würde helfen, um insgesamt ein differenzierteres Bild von Ostdeutschland in den Medien zu schaffen?

Meyen fragte rhetorisch und mit leichter Ironie, wie viel eigentlich von den Ideen der Freiheit nach der Friedlichen Revolution 1989 im Westen bekannt seien? Ganz praktisch schlug er vor, sich medial Themen anzunehmen, die in Westdeutschland fehlen würden. Dazu gehören für ihn eine Reihe Musikfestivals, die es so im Westen nicht gibt, oder die Berichterstattung über Bands, Sportvereine und bekannte Fußballer.

Reimann appellierte an Verantwortliche in den Redaktionen, bei der Einstellung von Journalistinnen und Journalisten neue Wege zu gehen und öfter die Frage nach der Herkunft zu stellen. Allerdings müssten dann Medienschaffende aus dem Osten auch selbstbewusst die eigene Perspektive vertreten und in den Medien umsetzen. Sie sei überrascht gewesen, wie viele der angefragten Teilnehmenden von Wir sind der Osten zunächst gezögert hätten, offen zu ihrer Herkunft aus Ostdeutschland zu stehen und sich als Ostdeutsche zu "outen", berichtete Wir sind der Osten-Gründerin Stein.

Genau das sei aber jetzt die Herausforderung, so Reimann: "Wir müssen erstmal die ostdeutsche Identität wieder neu besetzen!" Das bedeute im Zweifel auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Familie, die mitunter sicherlich auch schmerzhaft sein könne.

Die Stärken und Perspektiven nutzen

Aber, auch da war sich das Podium einig: Ostdeutsche hätten gegenüber den Westdeutschen allein auf Basis der großen Transformationserfahrungen, die sie mit der Wiedervereinigung und deren Folgen gemacht hätten, große Vorteile. Meyen berichtete von einem befreundeten Chefredakteur aus Mecklenburg-Vorpommern, der so viele Umbrüche erlebt habe, dass er das heute als Vorteil sehe: "Er meint, ihn könne nichts mehr erschüttern."

Am Ende fasste er zusammen: Die Frage, wann die Einheit vollendet sein werde, stelle sich nicht mehr. "Das wird nicht passieren. Wir wissen jetzt, die Menschen sind anders – und das ist als Chance zu begreifen!"

Weitere Informationen rund um die Veranstaltung: medientage-mitteldeutschland.de