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Ingos EM-Tagebuch Reporter Ingo Hahne berichtet aus erster Hand

05. Juli 2024, 11:58 Uhr

MDR-Reporter Ingo ist ganz dicht dran bei der EURO 24. Für MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er exklusiv von seinen Erlebnissen – in einem Tagebuch.

Donnerstag 4. Juli | Der Ralf bleibt unser Held!

Sie konnten einem Leid tun. Der österreichische Kaiser, Sissi und Mozart zogen niedergeschlagen aus dem Leipziger Stadion. Unter den Kostümen steckten Franz, Erwin und Attila, die ich Tags zuvor am Teamhotel der österreichischen Nationalmannschaft kennengelernt hatte. "Die Niederlage tut weh, aber der Ralf bleibt unser Held", sagten sie trotzig in Richtung ihres deutschen Trainers Ralf Rangnick.

Österreich Fans bei der Niederlage gegen die Türkei bei der EM 2024 im und vor dem Stadion. 3 min
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Fr 05.07.2024 11:27Uhr 03:03 min

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Der 66-Jährige hatte nach dem unerwarteten Aus im Achtelfinale gegen die Türken sichtlich um Fassung gerungen: "Es sei völlig klar, dass im Moment die Enttäuschung und eine Leere da sind." Ausgerechnet hier, wo Ralf Rangnick als Macher von RB Leipzig Geschichte geschrieben hatte, tanzten nun die türkischen Spieler mit ihren Fans ausgelassen vor dem Team-Hotel am Leipziger Hauptbahnhof.

Österreich Fans bei der Niederlage gegen die Türkei bei der EM 2024 im und vor dem Stadion.
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Ralf Rangnick saß wenig später mit seinen geknickten Spielern im Mannschaftsbus. Kurz zuvor aber hatte der aktuelle Lieblingsdeutsche der Österreicher, den Attila und seine Freunde liebevoll "unseren Professor" nennen, schon wieder über die Zukunft sinniert. Nun stünde die Nations League an, dann die WM-Qualifikation. "Wir sind im Moment im UEFA-Ranking in Topf eins, ich glaube, da war Österreich schon Jahrzehnte nicht mehr", sagte der 66-Jährige.

Rald Rangnick neben einem Bus.
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"Und wir wollen auch in Topf eins bleiben, um eine gute Chance zu haben, uns nach vielen, vielen Jahren auch mal wieder für eine Weltmeisterschaft zu qualifizieren." Die Österreicher nahmen zuletzt 1998 an einer WM-Endrunde teil. "Unsere Jungs werden zurückkommen zur Weltmeisterschaft in zwei Jahren", sind sich Attila, Franz und Erwin einig. Und vielleicht sind die drei Freunde In Kanada, Mexiko und den USA wieder mit von der Partie.

Dienstag 2. Juli | Ralf Rangnick will wieder einmal Geschichte schreiben

Gestern Abend am Team-Hotel der österreichischen Nationalmannschaft. Ralf Rangnick kommt. Ich hatte ihn nach einem kurzen Interview gefragt, abseits der offiziellen Pressekonferenz. Er ist gut gelaunt, wir reden. Der 66-Jährige freut sich, wieder in Leipzig zu sein. Die Stadt ist ein Stück Heimat. Ja, es fühle sich wie ein Heimspiel an, gibt er zu. Vor zwölf Jahren startete Ralf Rangnick hier mit RB Leipzig gegen Optik Rathenow, 2016 stiegen sie in die Bundesliga auf und heute Abend steht er mit Österreich im Achtelfinale der Europameisterschaft.

Ralf Rangnick sagt, das sei kein Zufall. Es sind die Früchte seiner Arbeit. Der 66j-Jährige hatte immer einen Plan und eine klare Spielidee. Viele seiner Nationalspieler sind entweder direkt durch seine Hände gegangen oder spielen bei Trainern, die von Ralf Rangnick maßgeblich beeinflusst wurden. Sabitzer, Laimer, Baumgartner, Seiwald, sind allesamt Spieler mit Leipziger Vergangenheit oder Gegenwart. Und auch der Rest des österreichischen Teams hat Ralf Rangnicks unerbittliche Pressing-Philosophie verinnerlicht.

Ralf Rangnick neben einem Bus.
Ralf Rangnick am Tag vor dem Achtelfinale. Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Ob Österreich Europameister werden kann? Warum nicht. Zunächst aber freuen sie sich auf das Achtelfinale gegen die Türkei. Für Ralf Rangnick schließt sich ein Kreis. Wenn es gut läuft, schreibt er in Leipzig wieder einmal Geschichte. Nach dem Bundesligaaufstieg 2016 mit RB Leipzig kann er heute Abend Österreich zum ersten Mal ins Viertelfinale einer Europameisterschaft führen.

Donnerstag, 27. Juni | Robert Andrich und Onkel Frieder

Vor dem Dänemark-Spiel fahre ich nach Beeskow bei Frankfurt/Oder. Ich will Frieder Andrich treffen, den Onkel von Nationalspieler Robert Andrich. Frieder kickte in der DDR für Stahl Riesa und Vorwärts Frankfurt/Oder. In der Oberliga schoss er 96 Tore und gehört zu den torgefährlichsten Mittelfeldspielern der DDR.

Frieder Andrich.
Frieder Andrich im Gespräch mit Ingo Hahn. Bildrechte: Ingo Hahn

Vor Ort in Beeskow spielen wir eine Runde Tennis. Es ist das zweite Tennis-Spiel meines Lebens. Der 75-Jährige, nebenbei noch Tennislehrer, vermöbelt mich. "Für den Anfang warst Du nicht schlecht" grinst Frieder.
Schließlich erzählt er mir von Enkel Robert und davon, wie die Familie früher im warmen Ostseesand Fußball gespielt hat. Wenn Robert verlor, verzog er sich hinter den Strandkorb und "tickschte". "Er konnte einfach nicht verlieren", lacht Frieder Andrich.

Sein Ehrgeiz hat ihn bis in die Nationalmannschaft gebracht, spät mit 29 Jahren. Früher sei Robert gerne um die Häuser gezogen. Dynamo Dresdens Sportdirektor Ralf Minge suspendierte den 21jährigen in der dritten Liga. Trainer Frank Schmidt fing Robert wieder ein, disziplinierte ihn. Über Union Berlin kam der gebürtige Potsdamer zu Bayer Leverkusen, gewann die Meisterschaft und den DFB-Pokal. Schließlich rief Bundestrainer Julian Nagelsmann an.
Roberts größter Fürsprecher sei Toni Kroos, erzählt Frieder: "Beide sind befreundet." Ihr Spiel passt perfekt zueinander. Robert hält dem genialen Taktgeber den Rücken frei und geht auch mal einen Meter mehr. Toni wisse das und deshalb funktionierten die beiden so gut.

Vor dem Spiel gegen Dänemark hat Frieder Andrich noch einen Wunsch. Robert solle öfter mal abziehen. So wie gegen die Schweiz, als der Ball schon im Netz zappelte. Der Treffer wurde wegen eines Fouls von Musiala aber nicht anerkannt. Roberts Schusstechnik jedenfalls sei perfekt, schwört Frieder Andrich. "Er kann rechts wie links." Die Gene eines Torjägers liegen in der Familie. 96 Oberligatreffer kommen nicht von ungefähr.

Donnerstag, 20. Juni | Deutschland schauen im Analysemodus

Fußball schauen mit einem Profitrainer, das war schon immer mein großer Wunsch. Alexander Zorniger hat mich in sein Wohnzimmer gelassen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er schaut das Deutschlandspiel gegen Ungarn komplett anders als die meisten Fans. Sein Blick wandert ganz oft dahin, wo der Ball gerade nicht ist. Ich habe das auch mal versucht.

Toni Kroos lässt sich nicht einfach kaltstellen. Bildrechte: IMAGO / ActionPictures

Weil ich wissen wollte, ob man Taktgeber Toni Kroos nicht einfach kaltstellen kann. Kann man nicht, weil er überall auf dem Platz ist und kein Trainer heute noch Manndeckung spielen lässt. Außer er heißt Otto Rehhagel.

Für den Analytiker ist die Methode super. Sie funktioniert. Alex zum Beispiel erkennt bespielbare Räume und Umschaltmomente. Ich halte den Analysemodus nicht lange durch. Zu anstrengend, immer da zu sein, wo der Ball gerade nicht ist. Alle Emotionen auszublenden. Alex kann nicht anders, selbst auf der Couch als Zaungast des Deutschlandspiels.

Ingo Hahne gemeinsam mit Fußball-Coach Alexander Zorniger
Ingo Hahne mit Fußball-Coach Alexander Zorniger Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Nur einmal, sagt er, hat er die Euro geschaut wie ein Fan. Türkei spielte gegen Georgien. Eine unglaublich unterhaltsame Begegnung, mit allen Emotionen, die der Fußball bietet. Die packende Partie endete 3:1 für die Türken. Dieses Spektakel hat ihn mitgerissen.
Da war der Profitrainer Alexander Zorniger einfach nur noch Fußballfan.

Dienstag, 18. Juni | Mein verrückter Freund

Ungarn spielt, ich sitze in Berlin-Kreuzberg mit László vor der Glotze. László ist einer der verrücktesten Menschen, die ich kenne. Ich möchte betonen, dass er positiv verrückt ist. László zählt 73 Lenze, sieht aber jünger aus. Er wird diesen Satz lieben. Mein ungarischer Freund trägt wehendes Haar und eine Brille mit weißen Bügeln. Zu unserem letzten Fußball-Treffen kam er mit Stirnband und ungarischem Fähnchen. Fußball ist sein Leben. Ja, der Satz ist abgedroschen, aber er passt so perfekt.

Trotz seiner 73 Jahre spielt László nämlich täglich Fußball, manchmal sogar zweimal am Tag.
Da sitzen wir nun und schauen gemeinsam das Spiel. Dabei wollte ich eigentlich nur seinen Camper kaufen. Auf der Probefahrt hatte mir László aus seinem Leben erzählt.

Ingo Hahne mit seinem ungarischen Freund László
Ingo Hahne mit seinem ungarischen Freund László Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Der Abriss dieser langen Geschichte geht so. Ende der 1960er Jahre aus Ungarn in die DDR gekommen, bei Dynamo Dresden gekickt, aber keine Freigabe erhalten vom ungarischen Verband. Und so wurde er Manager von Sängerin Veronika Fischer. In die wunderschöne Frau hatte sich der junge Ungar sturzverliebt. Nach einem Konzert vereinbarte er mit einem Satz ein Date: „Ich möchte Dich kennenlernen.“ Aus dem Treffen wurde eine Hochzeit, sie trennten sich wieder und verstehen sich wieder gut. László liebt Frauen und genauso sehr den Fußball. Deshalb wird er Spielerberater und macht Eduard Geyer die halbe Cottbuser Bundesligamannschaft voll. Darunter klangvolle Namen wie Miriuță oder Piplica.

Ingo Hahne mit seinem ungarischen Freund László
László (rechts): unverbesserlicher Optimist und liebenswerter Kerl Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Dank László wäre Trainer Geyer übrigens fast in Asien gelandet, aber nur fast. Bis heute verbindet beide eine Männerfreundschaft. Am Rande des enttäuschenden Ungarnspiels, es endet 1:3 gegen die Schweiz, fachsimpeln sie. László ist überzeugt, dass seine Ungarn gegen Deutschland ein anderes Gesicht zeigen werden. Ede Geyer schmunzelt. Er nennt László einen unverbesserlichen Optimisten und einen liebenswerten Kerl. Das ist er. Schön, mit Dir Ungarn geschaut zu haben. Vielen Dank László!

Donnerstag, 13. Juni | Liegengeblieben bei Querfurt mit rostigen Erinnerungen

Mein Käfer riecht anders. Nach Leder, altem Sprit und schönen Erinnerungen an Brasilien 2014. Auf der Suche nach spannenden Geschichten fahren wir damals 5.000 Kilometer durch das riesige Land. Mein Freund und Kameramann Leo, der Fusca, wie sie den Käfer in Brasilien rufen und ich. Eine Reise mit Hindernissen. Wie haben wir geflucht, als der Unterbrecher streikte, die Zündspule oder die Lichtmaschine den Geist aufgaben.

Ein rostiger VW Käfer steht mit Abschleppseil auf einer Straße
Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Heute denke ich, es waren die schönsten Momente. Weil wir immer Hilfe fanden. Egal wo, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Immer war ein Brasilianer da, der uns in die nächste Werkstatt schleppte. Wir flickten das Auto, tranken Cafézinho, den kleinen, starken Kaffee und fachsimpelten über Schweinsteiger und Neymar. Einmal bat mir ein in Brasilien gestrandeter Schweizer mit Kontakten zum Militär sogar an, uns notfalls mit dem Lastenhubschrauber nach Rio fliegen zu lassen.

Als ich dieser Tage wieder in den Käfer stieg, konnte ich die Zeit wieder riechen: Diese unglaubliche Reise, mit den herzlichen Menschen bei einer Weltmeisterschaft mit Titel und Happy End. Die Sehnsucht danach ist groß. Gerade jetzt, in dieser bedrückenden Zeit. Und vielleicht sollte es deshalb noch einmal der Käfer sein.

Weit kamen wir übrigens nicht. Genau wie in Brasilien. Nach 15 Kilometern stotterte der Motor und gab wenig später den Geist auf. Plötzlich klopfte ein Fremder an die Scheibe. Gemeinsam schoben wir das Auto in seine Einfahrt kurz vor dem Ortsausgangsschild von Farnstädt bei Querfurt. Er hat mir Kaffee angeboten und fragte, ob er mich abschleppen soll. Mein Kumpel Fred, der an diesem Tag den 90-jährigen Geburtstag seiner Mutter feierte, war da schon auf dem Weg zu mir. Er hatte alles stehen und liegen gelassen, um zu helfen. Ich fühlte mich ein Bisschen wie 2014. Der Ärger über das kaputte Auto war schnell verflogen. Die Werkstatt verspricht, ihr Bestes zu geben. Noch fährt er nicht, mein Käfer. Aber ich bleibe dran. Weil ich den Geruch so mag und von einem Stück Brasilien träume für diese Europameisterschaft. Ich will tolle Menschen treffen und ich will für ein paar Tage diese Unbeschwertheit zurückhaben von 2014.

Ein rostiger VW Käfer steht mit Abschleppseil auf einer Straße
Bildrechte: MDR/Ingo Hahne

Dienstag, 11. Juni | Als es "müllerte" im EM-Resort Blankenhain

Blankenhain, gestern Abend 19:00 Uhr: Der Mannschaftsbus der Engländer rollt vorbei an den Fans ins Spa- und Golf-Resort. Dahinter schließt sich das Gatter. Drinnen empfängt eine Thüringer Volkstanzgruppe die englische Nationalmannschaft. Harry Kane schaut höflich bis zum Schluss zu. Draußen bei den Fans hatte sich Wehmut in die Fußballfreude gemischt. Wie schön war es, als die Deutschen kamen. Sané, Musiala, Henrichs und Raum in offenen Golf carts. Thomas Müller zu Fuß. Hände schütteln, Autogramme, Selfies, kein Problem. Die Angestellten im Hotel schwärmten regelrecht von anständigen Jungs, höflich und nahbar. Dazu passt der eine Moment, den ich nicht vergessen werde:

Trainingslager Blankenhain
Thomas Müller sorgt wie immer für Stimmung. Bildrechte: IMAGO/Christian Heilwagen

Beim gemeinsamen Gruppenfoto mit den Hotel-Mitarbeitern mogelte sich Thomas Müller heimlich an die Seite der Köche. Eigentlich, weil er seine Jacke fürs Foto nicht extra ausziehen wollte. Da stand er, grinste breit und schelmisch und scherzte mit den Angestellten. Sie hatten Spaß im Resort in Blankenhain, die deutsche Mannschaft fühlte sich wohl in Thüringen. Das konnte man sehen an diesem Abschiedstag. Die Hotel-Mitarbeiter sagten Danke für eine unvergessliche Zeit, spendeten lange Beifall, als die Mannschaft in den Bus stieg nach Herzogenaurach. Und Thomas Müller bekam sogar einen dicken Sonder-Applaus. Hier ist etwas gewachsen, glaube ich, in Thüringen, im Resort in Blankenhain.

Alles zur EURO 2024: