1933–1945: Die Zeit des Nationalsozialismus Der große Bruch: Nationalsozialismus
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Die Dynamik, die Aufbruchsstimmung und die musikalische Vielfalt der ersten neun Jahre beim Leipziger Sinfonieorchester bzw. bei der MIRAG wurden mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 jäh unterbrochen. 1934 wurde die MIRAG in "Reichssender Leipzig" und das Leipziger Sinfonieorchester in "Orchester des Reichssenders Leipzig" umbenannt. Der Rundfunk wurde zum Sprachrohr der Nationalsozialisten. Aber schon viel früher war ihr Einfluss auf das noch junge Medium und seine Klangkörper spürbar. Ab Ende Januar 1933 konnten die Nationalsozialisten offiziell in einem Akt zentraler Gleichschaltung neue Verwaltungsstrukturen, Behörden und Institutionen errichten und Führungspositionen mit NSDAP-konformen Personen besetzen.
Zensur und Entlassungen
Die Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Experimentierfreude bei der Programmgestaltung, so wie sie für die Anfangsjahre des Orchesters kennzeichnend waren, gehörten nun der Vergangenheit an.
Beim Rundfunk, wie auch an Bühnen und Konzerthäusern, wurde nun zensiert, gelenkt, reglementiert und kontrolliert. Das bedeutete: Werke von jüdischen Komponisten und zeitgenössischen, sogenannten "entarteten" Avantgardisten wurden abgesagt sowie Gastspiele von missliebigen Dirigenten und Solisten aus den Spielplänen und Programmen entfernt.
Auch vor Baudenkmälern machten die "Säuberungsaktionen" der Nationalsozialisten keinen Halt, wie die Zerstörung des Mendelssohn-Denkmals 1936 vor dem Gewandhaus zeigt.
Kündigung, Haft und Flucht
Viele der Künstler wurden mit einem Berufsverbot belegt, wie etwa der jüdische Hauskomponist der MIRAG Wilhelm Rettich, der bereits im Februar 1933 nicht mehr als Musiker arbeiten durfte und gleich darauf nach Amsterdam emigrierte. Die Übertragung seines uraufgeführten Werkes "Fluch des Krieges" ein Jahr zuvor, am 18. April 1932 in der Alberthalle unter der Leitung von Otto Didam, wurde von der MIRAG kurzfristig abgesagt, was höchstwahrscheinlich in Verbindung mit der vorzeitige Einflussnahme der Nationalsozialisten gegen Menschen jüdischer Herkunft wie Rettich steht.
Vielen Leipziger Musikschaffenden ging es ähnlich, etwa die Hälfte verlor auf diese Weise in Leipzig ihre Arbeit. So profitierten linientreue Komponisten, Solisten, Dozenten und Dirigenten von den "freigewordenen" Stellen, wie z. B. der Quereinsteiger Reinhold Merten, der nicht nur Chefdirigent des "Orchesters des Reichssenders Leipzig" (1939–1941) wurde, sondern auch als Mitglied der NSDAP verschiedenste Posten als Musikfunktionär innehatte. Theodor Blumer, Hilmar Weber und Hermann Ambrosius, alle waren sie Komponisten bzw. Kapellmeister, die sich ihre Karrieren sicherten und von ihrer NSDAP-Mitgliedschaft profitierten; sie engagierten sich in verschiedensten NS-Organisationen und wahrten so ihren Einfluss auf das Musikleben.
Besonders die Chefposten bzw. Schlüsselpositionen wurden von den NS-Verantwortlichen ins Visier genommen und NSDAP-konform besetzt. Viele verdiente MIRAG-Führungskräfte sowie Mitglieder des Orchesters und Chores mussten gehen. Allen voran der große Rundfunk-Pionier Alfred Szendrei, der das Leipziger Sinfonieorchester und die MIRAG als Musik-Sender im deutschlandweiten Ranking über Jahre auf einen der vordersten Plätze katapultierte.
Manche wurden entlassen, andere gemobbt oder auf bedeutungslose Positionen zurückgestuft, wie u. a. Gründungsintendant Erwin Jaeger, der nur noch mit der Programmleitung beauftragt war, oder Werbeleiter Lothar Schneider, der ins Archiv abgeschoben wurde. Im schlimmsten Fall wurden sie verhaftet, wie Intendant Ludwig Neubeck und der kaufmännische Leiter Fritz Kohl.
Während Neubeck offiziell Selbstmord beging, wurde Kohl mangels Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen und floh noch am Tag seines Freispruchs nach England zu seiner Frau, der renommierten Liedsängerin Elena Gerhardt, die seine Flucht vorbereitet hatte.
Die Chefposten im Visier
Alfred Szendrei wurde eine scherzhafte Bemerkung zum Verhängnis. Sie wurde als Vorwand genommen, um den erfahrenen Dirigenten und musikalischen Leiter der MIRAG bereits 1931 aus dem Amt zu treiben. Dabei waren weniger seine Äußerung als vielmehr seine Omnipräsenz und sein weitreichender Einfluss, wie bei vielen Opfern der Judenverfolgung, den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge.
Bis der linientreue Hans Weisbach ab der Saison 1933/34 die Position von Alfred Szendrei übernahm, überbrückte Carl Schuricht, einer der damals sehr bedeutenden und am Rundfunk interessierten Dirigenten, für zwei Jahre die Chefposition. Aber auch er geriet später ins Visier der Nationalsozialisten im Zuge der rassistisch motivierten Verfolgung seiner Ehe mit einer Jüdin. Schuricht floh 1944 in die Schweiz.
Antisemitismus
Ähnliche "Säuberungen" fanden auch in anderen Leipziger Musik-Institutionen statt. Bruno Walter wurde im Gewandhaus fristlos seines Chefpostens enthoben. Schon damals galt er als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit. In den USA konnte er sich erneut eine internationale Karriere aufbauen. Auf ihn folgte Hermann Abendroth als Gewandhauskapellmeister, der später auch Chef des Leipziger Sinfonieorchesters wurde und im Zusammenspiel mit den jeweiligen politischen Systemen seiner Zeit eine zwiespältige Position einnahm. Auch Gustav Brecher, Operndirektor und Generalmusikdirektor des Leipziger Opernhauses, gehört in den Kreis der drangsalierten Künstler, die im Zuge der Diskriminierung und Verfolgung jüdischen Menschen gehen mussten.
Im Leipziger Sinfonieorchester wurden neben Alfred Szendrei sieben weitere Musiker entfernt: Alfred Maligé, Hans Hagen und der Orchesterwart Griebel waren KPD-Mitglieder; Solocellist Afrem Kinkulkin, Pianist und Kapellmeister Alfred Simon, der Leiter der Konzertabteilung Erich Liebermann-Roßwiese und MIRAG-Hauskomponist und Abhörkapellmeister Wilhelm Rettich waren jüdischer Herkunft.
Gleichschaltung des Rundfunks
Die nationalsozialistische Führungsriege erkannte schnell die propagandistische Wirkkraft des noch jungen Rundfunks, schaltete ihn gleich und instrumentalisierte ihn, um die Gesellschaft mit NS-Gedankengut zu infiltrieren.
Kulturpolitik und insbesondere Musik in Verbindung mit dem Rundfunk nahmen in der NS-Diktatur eine zentrale Rolle ein, daher wurde der Rundfunk direkt dem "Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" unterstellt, dem Joseph Goebbels vorstand.
Verehrung von Bruckner und Wagner
Ähnlich wie Anton Bruckner gehörte auch Richard Wagner, der 1813 in Leipzig geboren wurde, zu Hitlers Lieblingskomponisten. Beide wurden zu Kultfiguren stilisiert, erhielten in den Spielplänen des Orchesters bzw. den Sendeplänen des Reichssenders Leipzig gewichtige Positionen und wurden zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert.
Am 6. März 1934 kam Hitler nach Leipzig, um bei der Grundsteinlegung des Richard-Wagner-Nationaldenkmals eine Rede zu halten. Die Zeitungen berichteten damals ausführlich und druckten Hitlers Rede im Wortlaut ab.
Die Veranstaltung, als nationale Feier stilisiert, war prominent besetzt. Hitler am Rednerpult, sitzend von rechts nach links in der ersten Reihe: Winifred Wagner, Vizekanzler Franz von Papen, Staatssekretär Dr. Hans-Heinrich Lammers, Reichsverkehrsminister Freiherr Paul von Eltz-Rübenach, nicht im Bild zusehen, dennoch anwesend waren der Ministerpräsident von Sachsen, Manfred von Killinger, Reichsminister Dr. Joseph Goebbels, Reichsstatthalter von Sachsen Martin Mutschmann und Leipzigs Oberbürgermeister Dr. Carl Goerdeler.
Der Reichssender Leipzig übertrug den feierlichen Akt. Zum Richard-Wagner-Festakt am Abend im Neuen Theater wurden "Die Meistersinger von Nürnberg" unter Leitung von Hans Weisbach gegeben.
Profilverlust
Durch die "Repertoire-Säuberungen" verloren die Konzertprogramme bereits zu Anfang der NS-Zeit inhaltlich an Vielfalt, Besonderheit und Anspruch – kurzum an Profil. Hinzu kam, dass in den Kriegsjahren immer weniger Konzerte gegeben wurden. Das Orchester spielte stattdessen in den Produktionshallen kriegsrelevanter Unternehmen und Betriebe.
Regionale Sendeprogramme wurden ebenso reduziert wie die Vielfalt an eingeladenen Gästen. Um Kosten zu sparen, wurde zugunsten regionaler Kräfte etwa auf renommierte Dirigenten, Instrumental- oder Gesangsolisten verzichtet. Durch dieses systematische Ausdünnen der Angebote sank auch ihre Attraktivität.
Zeitgenössische Komponisten fanden nur selten den Weg nach Leipzig, Ausnahmen waren Franz Lehar, Werner Egk, Carl Orff und einige Vertreter aus dem faschistischen Italien. Auf leicht bekömmliche Unterhaltungsmusik wurde mehr Wert gelegt als auf anspruchsvolle Klassik. Das Programm des Leipziger Sinfonieorchesters verflachte zunehmend, das Profil wurde aufgeweicht und beliebig, von einigen Ausnahmen abgesehen.
Technische Fortschritte
Die Aufnahme- und Sendetechnik entwickelte sich hingegen gegen Mitte/Ende der 1930er-Jahre rasant weiter. Die Sender wurden stärker, ihre Aktionsradien größer, was für den Leipziger Sender wegen seiner Nähe zu Berlin kritisch wurde. Goebbels begann während des Kriegsgeschehens mit den Sendern zu jonglieren. Durch die anfänglich eroberten Territorien und den ständig variierenden Grenzverlauf in Verbindung mit den wirksameren Sendern und ihren entstehenden "Sendeschatten" wurden nach Goebbels Auffassung einige Sender entbehrlich – darunter letztendlich auch Leipzig.
Auf technischer Seite stieg die Aufnahmequalität, ebenfalls der mögliche fixierbare zeitliche Umfang, wodurch die Ton-Aufzeichnungen kompletter Sinfonien, Opern und Oratorien machbar wurden. So wurde 1935 erstmals Bachs Matthäuspassion komplett unter Hans Weisbach aufgenommen und Wagners "Meistersinger von Nürnberg" konnten 1938 auch in England gehört werden, was ein noch überlieferter Amateurmitschnitt mit englischer Ansage belegt.
Auflösung der Klangkörper und Kriegsdienst
Musikalische Lichtblicke wurden immer seltener. Im Frühjahr 1941 wurden die Klangkörper aufgelöst und ihre Mitglieder entweder auf andere Sender verteilt oder für den Aufbau des Reichs-Bruckner-Orchesters bzw. des Reichs-Bruckner-Chores abkommandiert.
Mit dem Eintritt Russlands in den Zweiten Weltkrieg mussten viele Ensemble-Mitglieder an die Front oder in die Rüstungsindustrie, nicht alle überlebten oder kamen zurück nach Leipzig. Nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 setzte der mühsame Wiederaufbau ein.