Wladimir Putin, Präsident von Russland, während einer Sitzung des Sicherheitsrates
Wladimir Putin während einer Sitzung des Sicherheitsrates Bildrechte: picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin/AP

Historiker zu Angriffskrieg Atomkriegsgefahr: Putin bricht alle Tabus

Am 27. Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Kubakrise, hielt die Welt den Atem an. Ein Nuklearkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA stand unmittelbar bevor. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine droht Russland mit Atomwaffen und beschwört erneut das nukleare Schreckgespenst der 1960er-Jahre. Ist die Situation überhaupt vergleichbar? Und welche Lehren lassen sich aus der Geschichte ziehen? Ein Interview mit Prof. Dr. Stefan Rohdewald, Historiker an der Universität Leipzig.

Herr Prof. Rohdewald, US-Präsident Joe Biden hat vor einem nuklearen Konflikt gewarnt und die gegenwärtige Lage mit der Kubakrise von 1962 verglichen, als die Welt vor einem Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA stand. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Das ist eine völlig andere Situation als in den 1960er-Jahren, als sich beide Seiten mit der Stationierung von Atomwaffen bedrohten. Heute ist es eindeutig die russische Regierung, die wiederholt droht, einen präventiven Atomschlag durchzuführen. Die NATO würde auf einen Schlag gegen die Ukraine gemäß den bisherigen Erklärungen wohl nur mit konventionellen Waffen antworten. Es ist nicht Joe Biden, der mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, er analysiert die durch Putin ausgesprochene Drohung.

Putin verhält sich auch nicht so wie Chruschtschow. Er hat bereits mit dem Angriffskrieg alle möglichen Tabus gebrochen. Putin hat enorm viel Kapital verspielt und nicht einmal militärisch den geplanten Erfolg. Die kürzlich in Windeseile, rechtlich wirkungslos annektierten Gebiete sollen nun durch die Androhung eines Atomwaffeneinsatzes geschützt werden. Die Annexion von Provinzen eines Nachbarlandes und das regelmäßige Androhen eines Einsatzes von Atomwaffen sind neu.

Die Kubakrise vom Oktober 1962

Während des Kalten Krieges war Kuba ein begehrter Partner im Poker der Supermächte USA und Sowjetunion. Als Gegengewicht zu den US-Atomraketen in Italien und der Türkei ließ UdSSR-Staatschef Chruschtschow auf Kuba sowjetische Atomraketen stationieren. Damit war es möglich, von Kuba aus amerikanische Städte zu treffen. Als das herauskam, forderten die USA umgehend den Abbau der Sowjetraketen und errichteten eine Seeblockade um Kuba. Die Lage spitzte sich zu. Zwar blieb es zunächst bei Drohgebärden, doch die diplomatische Lage blieb verfahren. Russland wollte den Abzug von Mittelstreckenraketen in der Türkei, Kennedys Berater waren dagegen. Im Geheimen allerdings ließ Kennedy seinen Bruder mit dem sowjetischen Botschafter in den USA verhandeln. Der Präsident bot den Abzug der US-Raketen aus der Türkei an, jedoch heimlich, ohne das Gesicht zu verlieren. Chruschtschow kündigte darauf am 28. Oktober 1962 den Abzug der Waffen an.

Wo sehen Sie Parallelen, wo Unterschiede?

Die Sowjetunion hat 1958 atomare Mittelstreckenraketen in der DDR stationiert. Ein Jahr später haben die USA in England Raketen stationiert, dann in Sizilien und später in der Türkei. Ein solches Wechselspiel gibt es heute nicht, die NATO-Erweiterung hat nicht zur Verschiebung von NATO-Atomwaffen nach Osten geführt, im Gegenteil hat die Ukraine ihre Atomwaffen längst an Russland abgegeben. Niemand bedroht Russland.

Ich würde deshalb den Vergleich nicht im Kalten Krieg suchen. Was die russische Regierung macht, ist ein Reenactment des Zweiten Weltkriegs. Der Angriff im Februar 2022 gleicht dem Überfall auf Polen 1939 oder dem Überfall auf die Sowjetunion 1941.

Warum macht Putin das?

Putin möchte das „historische Russland“, das Imperium wiederherstellen. Er hofft, dass der Westen sich durch seine Drohungen erpressen lässt. Es ist ein totaler Angriffskrieg zunächst mit dem Ziel, den Nachbarstaat aufzulösen, und nun mindestens Provinzen zu annektieren. Die Ukraine ist für ihn ein illegitimer Staat und kann nur unter der Russischen Föderation souverän sein, ähnlich wie die Tschechoslowakei aus deutscher Sicht vor 1939 illegitim war.

In den letzten 15 Jahren wurde die russische Bevölkerung z.B. mit Filmen auf einen großen Krieg vorbereitet. 2018 wurden Mittelstreckenraketen mit 500 Kilometern Reichweite nach Kaliningrad verlegt, die Warschau und Berlin erreichen können. TV Sendungen und Generäle erläutern seit einiger Zeit, wie rasch man London oder Berlin in Schutt und Asche legen kann.

Wie nah sind wir einem nuklearen Krieg?

Zukunft ist nicht das Metier eines Historikers, aber es ist eine gefährliche Situation. Putin hat davor gewarnt, dass die Ukraine eine dreckige, nukleare Bombe zündet. In seiner Logik kann er dies nun selber machen – zur Verhinderung der angeblichen Bedrohung, oder um die eigene Tat den Ukrainern in die Schuhe zu schieben.

Was ist die Lehre aus der Geschichte?

Die Lehre für alle wäre die Achtung der Grundlagen der OSZE bzw. der UNO. Nur, weil Putin dies konsequent nicht tut, darf sich der Rest der Welt nicht davon beeindrucken lassen. Schließlich hatten der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die Gründung der UNO das Ziel, einen Angriffskrieg wie 1939 zu delegitimieren. Seither gibt es kein staatliches Vorrecht mehr auf Krieg. Dies sind keine westlichen Spielregeln, sondern sie wurden auch durch die Sowjetunion gestaltet. Putin will explizit diese Regeln ändern. 143 Staaten, die sich gegen die Anerkennung der von Russland annektierten ukrainischen Gebiete ausgesprochen haben, sprechen aber eine klare Sprache. Die Russische Föderation ist in nahezu absoluter Isolation.

Zum Höhepunkt der Kubakrise in den 1960er-Jahren waren alle der Meinung, dass es sich nicht lohnen würde, die ganze Welt zu zerstören. Aber jetzt ist man sich bei diesem Akteur nicht sicher.

Unser Gesprächspartner: Prof. Stefan Rohdewald studierte osteuropäische Geschichte, slawische Literaturwissenschaft, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Nach seiner Promotion habilitierte er 2012 an der Universität Passau. 2013 wurde als er als Professor für südosteuropäische Geschichte an der Universität Gießen berufen. Seit April 2020 ist er Professor für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig.

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