Offene Grenzen in Europa 30 Jahre Schengen-II: Erfolg bekommt Risse
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19. Juni 2020, 08:57 Uhr
Seit wenigen Tagen sind die Grenzen in Europa offiziell wieder offen, nachdem das Schengen-Abkommen drei Monate lang Corona-bedingt ausgesetzt war. Das Durchführungsabkommen (Schengen-II) ist am 19. Juni 1990 unterschrieben worden und eine europäische Erfolgsgeschichte. Doch Schengen bekommt immer mehr Risse.
Es ist der 6. Juni 2020, 10:52 Uhr. Sofie Baum steigt in Halle in einen Zug Richtung Süden. Ihr Ziel ist Turin. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Sie wird die norditalienische Stadt erst 38 Stunden und 8 Minuten später erreichen. Normalerweise braucht sie etwa 13 Stunden. Der Grund: Schengen ist Corona-bedingt außer Kraft.
Die Folge: Auskünfte zu grenzüberschreitenden Zugverbindungen gibt es nicht mehr. Sofie Baum hat neben Ausweis und Reisepass zur Sicherheit auch ihren italienischen Arbeits- und Mietvertrag dabei. In Deutschlands Nachbarstaaten einreisen darf schließlich nur, wer einen "triftigen Grund" hat. All diese Reisevorbereitungen sind neu für Sofie.
An eine Zeit ohne Schengen kann sie sich nicht erinnern. Sie ist Jahrgang 1984, in der DDR geboren, doch bis sie ihre erste Italien-Reise antrat – Anfang der 1990er-Jahre nach Südtirol – war Schengen bereits Realität.
Ein luxemburgisches Dorf geht in die Geschichte ein
Am 14. Juni 1985 treffen sich die Staatssekretäre von Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland in dem kleinen Mosel-Dorf Schengen, um auf dem Ausflugsdampfer "Princesse Marie Astrid" ein Abkommen zu unterzeichnen. Es soll nicht nur Waren, sondern auch Menschen in der Europäischen Gemeinschaft ermöglichen, Grenzen ohne Kontrolle zu passieren. Doch das dauert. Verbrechensbekämpfung, Asylfragen, Zollangelegenheiten, innere Sicherheit. Die Liste der Unwägbarkeiten hin zu einem grenzenlosen Europa ist lang. "Dieses Abkommen war keine Herzensangelegenheit der Innenminister, sondern kam von ganz oben. Da steckten viel Idealismus und natürlich handfeste wirtschaftliche Interessen Frankreichs und Deutschlands dahinter", erklärt Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik die anfängliche Skepsis.
Schengen ist eine Vision von Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten François Mitterand. Doch bis sich die beiden mit ihrer Idee eines grenzenlosen Europas durchsetzen, vergehen fünf Jahre. Anfang 1990 soll das Schengener "Durchführungsabkommen" unterzeichnet werden. Wenige Tage vor dem erneuten Treffen aber machen die Deutschen einen Rückzieher. Schengen droht ausgerechnet an Helmut Kohl zu scheitern.
Schengen drohte an deutscher Wiedervereinigung zu scheitern
Den Vorsitz des Treffens 1990 hat wie schon fünf Jahre zuvor der Luxemburger Robert Goebbels, damals Staatssekretär für Außenbeziehungen. Er erinnert sich: "In letzter Minute hat Hans Dietrich Genscher, damaliger Bundesaußenminister, die Notbremse gezogen. Damals lag die Wiedervereinigung schon in der Luft und Genscher fürchtete, dass mit dem zweiten Schengen-Abkommen eine neue Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR gezogen würde."
DDR-Bürger wären dann nämlich – ganz im Schengen-Deutsch – Drittausländer gewesen, die ein Visum hätten beantragen müssen für alle übrigen EG-Staaten. Das widerspricht der Idee der Wiedervereinigung. Eilig arbeiten die Unterhändler ein Zusatzprotokoll aus, das regelt, dass die DDR im Verhältnis zur BRD kein Ausland mehr ist. Die innerdeutschen Grenzkontrollen sollten damit verlagert werden an die Außengrenzen der DDR.
Von einem grenzenlosen Europa war während Corona nichts mehr zu spüren
Unterschrieben wird das Vertragswerk schließlich am 19. Juni 1990. An diesem Tag zugegen ist auch der Botschafter Italiens, Antonio Napolitano. Das Luxemburger Wort schreibt damals: "Die Republik Italien wollte mit dieser Geste dokumentieren, dass sie dem Schengener Abkommen einen hohen Wert beimisst und ihm möglicherweise als sechste Vertragspartei beitreten wird." Und tatsächlich: Bereits im November 1990 unterzeichnet Italien das Übereinkommen, um Mitglied des Schengen-Raums zu werden.
Rund 30 Jahre später steht Sofie Baum in Brig, einem kleinen Ort in der Schweiz. Die Schweiz gehört seit 2004 zum Schengen-Raum. Seit dem Start von Sofies Reise sind mehr als 24 Stunden vergangen. Und Turin ist noch lange nicht in Sicht. Es gibt drei Gleise. Zwei sind nahezu verwaist. Ein paar Schweizer stehen herum und warten – ohne Mundschutz, aber mit viel Sicherheitsabstand. Das dritte Gleis, am Ende des Bahnhofs, ist abgeschirmt mit Bauzäunen. Dahinter stehen etwa 70 Menschen dicht gedrängt, warten auf den Zug Richtung Italien. Keiner weiß so richtig, wann der kommt. Aber alle wissen: Auf den anderen Gleisen sind sie, die sie alle Mundschutz tragen, im Moment nicht willkommen. Von einem vereinten, grenzenlosen Europa ist auf diesem Bahnsteig und an diesem Tag nichts zu spüren.
Im Moment ist es kein Pass, der die Europäer trennt, sondern das Infektionsgeschehen in den jeweiligen Ländern. Über 230.000 Infektionen und mehr als 34.000 Tote – das ist Italiens Bilanz im Moment. Die viel kleinere Schweiz zählt etwas mehr als 31.000 Infektionen und knapp 2.000 Tote.
Schengen wird seit 2015 immer häufiger ausgesetzt
Schon einmal hat ein außergewöhnliches Ereignis die Schengen-Regeln für längere Zeit außer Kraft gesetzt. 2015, als innerhalb weniger Wochen, hunderttausende Geflüchtete um Einlass nach Europa bitten, führen sechs EU-Staaten die Passkontrollen wieder ein. Auch Deutschland kontrolliert an der Grenze zu Österreich wieder – und tut es bis heute.
Kritiker ärgert es, dass diese eigentlich zeitlich begrenzten Grenzkontrollen immer wieder verlängert werden. Diese Entwicklung sei auch für die aktuelle Situation kein guter Vorbote, sagt Yves Pascouau, Analyst für Europa-Politik bei der französischen Nichtregierungsorganisation " Res Publica": "Schengen wird Schritt für Schritt ausgehöhlt. Die Staaten finden seit 2015 immer mehr Gründe, vorübergehende Grenzkontrollen einzuführen. Früher wurde das nur gemacht bei großen Sport-Ereignissen oder Gipfeltreffen." Heute, so sagt Pascouau, habe Europa mit immer mehr populistischen Regierungen zu kämpfen, die den Nationalstaat preisen. Und der Schutz der eigenen Grenze habe einen großen psychologischen Effekt für die Menschen.
Auch Raphael Bossong sieht diese Gefahr, glaubt aber auch an die heilende Wirkung von Corona. "Schengen ist an sich eine Riesenerfolgsgeschichte in Europa. Und die Rettung Schengens hat in den vergangenen Monaten einen neuen symbolischen Wert bekommen. Vielen Regierungen und Menschen in Europa wurde ganz klar vor Augen geführt, welchen Preis es hat, wenn man die innereuropäischen Grenzen dicht macht." Kilometerlange LKW-Staus in Polen, Lieferengpässe in Frankreich, Personalknappheit auf beiden Seiten der Grenzen in vielen Ländern, weil Pendler festsaßen.
Viele Staaten erkennen schnell den Vorteil grenzenloser Bewegungsfreiheit
Dem Schengen-Abkommen wurden von Anfang an nicht viele Chancen eingeräumt. "Die Zeit" etwa schreibt 1992: "Die Vorstellung, pünktlich zum Jahreswechsel würden an den Grenzen zwischen den Zwölf die Schlagbäume fallen, ist illusorisch – mit oder ohne Schengen. Ein Europa ohne Grenzen wird noch geraume Zeit eine Vision bleiben." Sie hat sich geirrt. Denn immer mehr Staaten erkennen relativ schnell die Vorteile der grenzenlosen Bewegungsfreiheit. Mittlerweile umfasst der Schengen-Raum 26 Staaten, darunter 22 EU-Mitglieder.
Sofie Baum ist in Turin angekommen. Es ist der 8. Juni, 1 Uhr morgens. Sie hat unterwegs noch in einem kleinen italienischen Dorf einen Zwangshalt einlegen müssen, wurde von Wildfremden zum Essen eingeladen, zum Bahnhof gefahren und hat viele Fremde kennengelernt. "Insofern hat diese Art des Reisens auch etwas Gutes. Zu Fuß hätte ich übrigens acht Tage gebraucht. Auch nicht so viel länger." Galgenhumor. Denn eigentlich möchte Sofie, dass alles einfach wieder so wird wie vor Corona. Dass Landesgrenzen nur Linien auf Karten sind. Mehr nicht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 19. Juni 2020 | 17:45 Uhr