Kontroverse Impfpflicht Impfgegner - eine (ost-)deutsche Dauererscheinung?
Hauptinhalt
26. Januar 2022, 17:15 Uhr
Bereits Anfang des 19. Jahrhundert wird über eine Impfpflicht erbittert gerungen. Besonders in Sachsen kochen die Emotionen hoch. Hier ist der Widerstand gegen das Impfen bereits in den 1860ern enorm. Städte wie Leipzig, Chemnitz und der Zwickauer Raum waren Zentren des Impfwiderstands. Ab 1881 wartet man in Sachsen sogar mit einem eigenen Periodikum auf: dem Monatsblatt "Der Impfgegner".
Naturheilkundler, Lebensreformer, Vegetarier, Ärzte, Juristen, Pastoren, ebenso wie ärmstes Industrieproletariat: Wer die Bewegung der Impfgegner in der deutschen Geschichte zurückverfolgt, landet – zwangsläufig – in diversen Ecken. Territorial. Soziologisch. Ideologisch. Die einen lehnten ab, weil sie sich gegen das Einbringen tierischen Materials in den menschlichen Körper wehrten (Impflymphe aus Kuhpocken: Igitt!). Die anderen, weil sie generell einem Zugriff des Staates aufs Individuum (Stichwort: Freiheitsrechte) ablehnend gegenüberstanden.
Wenn an die Eltern die polizeiliche Aufforderung gerichtet wird, das Kind impfen zu lassen und die Betroffenen Gegner der Impfung sind, so ist das erste Gebot: Zeit gewinnen!
Bei staatlichem Druck kracht es
Konsistent ist aus Sicht des Züricher Kulturwissenschaftlers und Impfgeschichts-Experten Eberhard Wolff über die Jahrhunderte nur eines: der politische und der Ideen-Ort der Impfgegnerschaft wechselt fortlaufend. "Häufig gibt es schon eine kulturelle Bruchstelle oder eine politische Spannung. Wenn dann noch ein Impfzwang als starker staatlicher Druck hinzukommt, dann kracht es", so Eberhard Wolff.
Beobachten lässt sich dieser Mechanismus, seit es in Europa Impfungen und Impfkampagnen gibt. Denn bereits Anfang des 19. Jahrhundert wird über das Für und Wider einer Impfflicht erbittert gerungen. Das Überraschende beim Blick zurück: Dort, wo sich vor 150 Jahren schon territoriale Muster und Präferenzen einer Impf-Renitenz zeigten, tauchen sie heute wieder auf. Zufall?
Die erste Impf-Welle und ihre Widersacher
Es ist heute so gut wie vergessen, wie sehr Epidemien das Leben in Europa noch an der Schwelle zum Industriezeitalter prägten. In Schweden etwa entfielen zwischen 1750 und 1800 nachweislich jedes Jahr zwischen sieben und 15 Prozent aller Todesfälle auf die Blattern bzw. Pocken. Ein einziger Totentanz.
Vor diesem Hintergrund sollte man meinen, dass die um 1800 erstmals aufkommende Kunde: "Achtung, es gibt jetzt ein Mittel, das den tödlichen Ringelrein stoppt!" begeistert Aufnahme fand. Doch tatsächlich war der Weg zum großen Erfolg der Pockenimpfung steinig und lang. 1802 schon konstatierte der Schweizer Mediziner und Impfbefürworter Anton Canestrini ernüchtert:
Wahrscheinlich wird die Impfung der Schutzpocke gesetzlich eingeführt werden, und dann werden erst alle Vorurteile verschwinden und auch die hartnäckigsten Gegner derselben schweigen müssen.
Kalkuliertes Sterben
Canestrini, ebenso wie die lokalen Gesundheitsbehörden im restlichen deutschsprachigen Raum, sahen sich schnell mit einer deutlich komplexeren Lage konfrontiert als ursprünglich angenommen. Denn obwohl Infektionskrankheiten in vielen Gegenden bis zu 30 Prozent aller Kinder hinrafften, kam die Pocken-Heilsmeldung nur mäßig gut an. Familien und Dorfgemeinschaften, so stellte sich heraus, hatten den Tod der Jüngsten längst in ihre Lebenswelt integriert. Manche Familienväter überraschten die Impfärzte gar mit der Nachfrage: Wie sie denn künftig diesen nun überlebenden Nachwuchs ernähren und durchbringen sollten.
Impfschäden sind keine Seltenheit
Auch die religiöse Ablehnung der Impfung ("Man pfuscht Gott nicht ins Handwerk") ist Ausgangspunkt von Ab- und Gegenwehr. Und als würde das alles nicht schon reichen, zeigt sich schnell, dass die revolutionäre neue Methode zunächst alles andere als 100 Prozent zielgenau ist. Längst nicht alle Impfversuche klappen. Und Impfschäden sind beileibe keine Seltenheit. Viele Familien zeigen sich daher von den vorgetragenen medizinischen Risiko-Nutzen-Rechnungen komplett überfordert.
Österreich 1808: Nur geimpfte Kinder dürfen in die Schule
Die staatlichen Behörden, besonders im Alpenraum, reagieren auf diese nicht abflauende Skepsis mit der Anhäufung indirekter Zwangsmittel. In Österreich etwa wird 1808 festgeschrieben, dass nur mit Impfscheinen versehene Kinder in die Volksschule aufgenommen werden. Drei Jahre später werden die Namen jener Eltern, deren Kinder ungeimpft verstorben sind, in Zeitungen zur Schau gestellt.
Impfpflicht in Bayern
Diese Technik des öffentlichen Bloßstellens praktiziert auch der bayrische Staat. Bevor er sich entschließt – als erstes Land weltweit – noch einen Schritt weiter zu gehen: 1807 führt er die Pocken-Impfflicht ein. In den nächsten 50 Jahren folgen immer mehr Staaten dieser neuen Präventionspolitik und Logik. Nicht jedoch das Königreich Sachsen.
Druck und Widerstand wachsen in Sachsen
Gingen anfangs die wichtigsten Impulse der organisierten Impfgegnerschaft vom süddeutschen Raum aus, so wird Sachsen Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Dreh- und Angelpunkt der neuen Szene. Im Druck- und Verlagszentrum Leipzig rotieren die Pressen, denn die Impfgegner-Bewegung ist enorm mittelungsbedürftig. Bis 1910 gehen über 1.000 Publikationen in Druck. Ab 1881 wartet man sogar mit einem eigenen Periodikum auf: dem Monatsblatt "Der Impfgegner".
Unter denen, die früh eine tragende Rolle bei der deutschlandweiten Organisation des Widerstands ausüben, ist der württembergische Querdenker und "Naturarzt" Carl Georg Gottlob Nittinger. Seine Tiraden gegen den vermeintlichen Impf-Aberglauben, "dass ein dem menschlichen Körper eingeimpftes Thiergift, die Jauche aus der Eiterbeule des Kuheuters, ihn gesund, kräftig und blühend mache", verkaufen sich blendend und haben Wirkung. Bereits nach seiner ersten Vortragstour durch Sachsen, 1869, brechen die Impfquoten ein.
1871 gehen sie dann in einigen Regionen sogar noch weiter zurück. Im Stadtbezirk Leipzig etwa lassen sich plötzlich fast zwei Drittel weniger impfen. In den östlichen Vorstadtdörfern sinkt das Interesse sogar auf ganze 15 Prozent herab. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Als im gleichen Jahr die in Europa bereits heftig wütende Pockenepidemie auch Sachsen überrollt, sterben 15.000 Menschen im Königreich. Allein in Leipzig rafft es jeden 65. Kranken in den besonders impfskeptischen Arbeiter-Bezirken weg. Insgesamt lassen bei dieser letzten großen Pockenepidemie (1871-1873) im deutschen Kaiserreich über 180.000 Menschen ihr Leben.
Impfflicht für alle: Sachsen und das Reichsimpfgesetz
70 Jahre nach Einführung der Pockenimpfung ist das ein erschreckendes und erschreckend vermeidbares Desaster, auf das man in Berlin mit einem neuen Reichsimpfgesetz reagiert. Auch Sachsen muss die Impfpflicht nun konsequent umsetzen. Doch Gesetze sind das eine. Die Frage ihrer Durchsetzbarkeit steht auf einem ganz anderen Blatt.
Auf den ersten Blick, konstatiert der Züricher Kulturwissenschaftler Eberhard Wolff in seinen Untersuchungen zur Impfgegnerschaft im Kaiserreich, lassen sich in den penibel geführten sächsischen Akten jener Jahre wenige explizite Impf-Verweigerer ausmachen. Mehr noch: Die Quote der strammen Impfgegner sinkt kontinuierlich von zehn Prozent (1875) auf zwei bis drei Prozent in den Folgejahren.
Mit Attesten die Impfpflicht umgehen - schon damals beliebt
Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich "Rückzugsräume". Viele der Impfrenitenten entdecken nämlich das ärztliche Attest. So werden in einigen Regionen, wo sich zuvor die Impfgegner konzentrierten, plötzlich bis zu 16 Prozent der Impflinge zurückgestellt. Ein Muster, das Schule macht - und weiter wandert. Waren Mitte der 1870er-Jahre vor allem industrialisierte, städtische Bezirke wie Leipzig, Chemnitz und insbesondere der Zwickauer Raum Zentren des Impfwiderstands, so zeigen sich die Auffälligkeiten in den 1880er-Jahren insbesondere im ostsächsischen Raum. Zittau etwa "glänzt" dort über Jahre mit einer Impfentziehungsquote von bis zu 50 Prozent. Sanktionen, ausgelöst durch schärfere Kontrollen, hatte hier über längere Zeit offenbar niemand zu befürchten.
Damals wie heute: Die gespaltene Gesellschaft
Ein Problem, das auch die sächsische Landesregierung im Corona-Jahr 2021 wieder beschäftigt. Just in den Ecken des Landes, die schon Ende des 19. Jahrhunderts durch Impfrenitenz auffallen – darunter vor allem ostsächsische und erzgebirgische Landkreise – ist erneut die Ablehnung von Corona-Maßnahmen am stärksten ausgeprägt. Und auch die Kontrolle der geltenden Schutzmaßnahmen und Regeln scheint zwischen Zittau und Zwickau eher lax gehandhabt.
Per Erlass hat das Sozialministerium daher verfügt, dass Landräte und Bürgermeister mindestens drei Kontrollteams aufstellen müssen, um die Einhaltung der 2G-Regeln zu gewährleisten. Ob das ausreichen wird, die Widerspenstigen zu zähmen? Zweifel sind angebracht. Insbesondere weil die Konflikte weitaus tiefer gehen. Corona war da – so sieht es auch der Wissenschaftshistoriker Andreas Bernard – nur ein gewaltiger Katalysator:
Es könnte schon im Rückblick sein, dass man sagen wird: Corona war der Moment, als dieser Riss durch die Gemeinschaft sichtbar geworden ist und dann auch geblieben ist. Und mit diesem Riss muss man dann umgehen lernen.
Letztlich keine ganze neue Erfahrung. Denn schon in der Weimarer Republik reagierte man nach einem halben Jahrhundert heftigster Debatten, nach Prozessen, Inhaftierungen und Massensolidarisierungen der Impfgegner letztlich "pragmatisch paternalistisch". Heißt: Der Staat bestand weiterhin auf dem seit 1874 angeordneten Impfzwang, setzte ihn aber nicht mehr mit aller Gewalt durch. Allerdings musste sich diese Praxis auch in keiner Pandemie bewähren. Denn die war 1919 mit zig Millionen Toten infolge der Spanischen Grippe gerade erst durch.
(Quelle für die o.g. Zahlen: Eberhard Wolff "Medizinkritik der Impfgegner" in "Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich", Franz-Steiner-Verlag, 1996)