Gründung am 19. Oktober 1913 DLRG: Die Geschichte der Wasserretter
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20. Oktober 2020, 12:18 Uhr
Mehr als 72.000 Menschen haben die freiwilligen Helfer der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) seit ihrem Bestehen dem nassen Tod entrissen. Gegründet wurde die DLRG am 19. Oktober 1913 in Leipzig, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Der Auslöser war ein Unglück in Binz.
Die Geschichte der Lebensretter beginnt am 28. Juli 1912 auf der Ostseeinsel Rügen mit einer Tragödie: Es ist ein sonniger Sonntagabend. Das Binzer Pferderennen ist gerade zu Ende gegangen. Die Besucher machen sich auf den Heimweg. Viele wollen mit dem Dampfer zurück ins nahe gelegene Greifswald. Dicht an dicht drängen sie auf die 560 Meter lange Seebrücke. Sie mischen sich unter Badegäste und Schaulustige, die extra auf die Brücke gekommen sind, um ein Manöver der Kaiserlichen Marine zu verfolgen.
Hunderte Menschen tummeln sich nun auf der hölzernen Brücke. Unter ihnen die damals elfjährige Edith mit ihrer Familie. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder wartet sie eingezwängt zwischen Menschenmassen am Brückenkopf. Nach 18.00 Uhr trifft der Dampfer "Kronprinz Wilhelm" ein. Als die Passagiere ein- und aussteigen, kommt es zu dem tragischen Unglück. Unter der Last der Menschen stürzt die Brücke ein.*
Plötzlich ein berstendes Krachen. Und gleich darauf ein vielhundertstimmiges, schrilles, gellendes Aufschreien: Die Anlegestelle am Brückenkopf stürzte trichterförmig in sich zusammen und wir versanken in der Tiefe.
Bis zu 80 Menschen fallen ins tiefe Wasser. Sie kämpfen ums Überleben. Denn die meisten von ihnen sind Nichtschwimmer – genauso wie hunderte Augenzeugen, die nur hilflos zusehen können. Damals können nur zwei bis drei Prozent der Bevölkerung schwimmen. 16 Menschen sterben, darunter sieben Kinder. Edith, ihr sechsjährigen Bruder und ihre Eltern überleben. Das tragische Erlebnis jedoch wird sie ein Leben lang begleiten:
Das gurgelnde Versinken in die sieben Meter tiefe See, die angstverzerrten Gesichter, schreiende Menschen, die sich aneinanderklammerten und rücksichtslos in ihrer Not und Angst um sich schlugen und andere in die Tiefe zerrten oder traten.
Infolge des Seebrücken-Unglücks gründet sich ein Jahr später, am 19. Oktober 1913, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft im Leipziger "Hotel de Prusse".
Unglück in Binz: Auslöser zur Gründung der DLRG
5.000 Menschen ertrinken jährlich in Deutschland! [...] Retten lernen muss unser Hauptlosungswort werden. Wir müssen eine planvolle Ausbildung aller herbeiführen, auch der Frauen.
Nicht nur die vielen Toten, sondern auch die Tatsache, dass kaum jemand der vielen Zeugen in der Lage ist, Ertrinkenden zu helfen, bleibt im Bewusstsein der Öffentlichkeit und führt zur Gründung der DLRG. Denn so ein Unglück darf sich nicht wiederholen. Menschen vor dem Ertrinken zu retten, wird zur Hauptaufgabe der DLRG.
Ihr Vorbild ist die 1874 in London gegründete "Royal Life Saving Society". Die britische Vereinigung ist damals ein weltweites Erfolgsmodell von Australien bis nach Amerika.
Die Gründungsmitglieder der DLRG kommen aus Politik, Wissenschaft und Industrie. Mit Prof. Dr. Albrecht Fiedler wird ein Dresdner DLRG-Vorsitzender. Auch die erste Geschäftsstelle entsteht in der sächsischen Landeshauptstadt.
Belastungsproben der jungen Jahre
Zum Ende des Gründungsjahres 1913 zählt die junge Organisation 435 Mitglieder. Doch schon kurz darauf liegt das Vereinsleben an den meisten Orten brach. Im Ersten Weltkrieg fallen viele Mitglieder an der Front oder sterben durch Hunger, Kälte und Krankheit. Die massive Inflation 1923 bringt die DLRG erneut an den Rand ihrer Existenz.
Einen Aufschwung erlebt die DLRG erst ab Mitte der 1920er-Jahre. Der Rettungsgedanke hält Einzug in Sportvereinen, Schulen, bei der Polizei und Feuerwehr.
Gleichschaltung im Nationalsozialismus
Der aufkommende Nationalsozialismus hinterlässt seine Spuren auch in der DLRG. Im September 1933 wird die Organisation in das Fachamt Schwimmen im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen eingegliedert. Bereits in der neuen Satzung vom 8. Juni 1934 findet sich die Phrasenideologie der Nationalsozialisten wieder. Von nun an gilt auch in der DLRG das Führerprinzip.
In der Wohlfahrtseinrichtung steht zwar noch immer der Kampf gegen den Ertrinkungstod im Vordergrund, doch unter dem Vorzeichen die "deutsche Volkskraft und Wehrfähigkeit" zu erhalten und zu stärken. Entsprechend eng sind die Kontakte zur NSDAP, Hitlerjugend sowie zur SA und SS.
Von der "Gesellschaft" zur "Gemeinschaft"
Auf der Jubiläumstagung zum 25. Bestehen der DLRG in Jena 1938 wird die DLRG in Deutsche Lebens-Rettungs-Gemeinschaft umbenannt. Schließlich konnte es nur eine wahre Gesellschaft geben – und das war die nationalsozialistische. Ab 1944 wird der SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Franz Breithaupt neuer "DLRG-Führer". Die Umbenennung von 1938 wird nach dem Fall der Nationalsozialisten wieder rückgängig gemacht.
DDR: Anerkennung bleibt DLRG versagt
Mit der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 zerbricht die DLRG. Doch bereits 1946 nehmen die Mitglieder in der britischen und in der amerikanischen Besatzungszone ihre Arbeit wieder auf. Anders sieht es in der sowjetischen Zone und späteren DDR aus. Im Osten wird die DLRG nicht anerkannt.
Wir warten auf die Registrierung Berlins. Die Bezirke arbeiten noch nicht. Der Landesverband ist nicht registriert bzw. genehmigt.
In Thüringen noch keine Genehmigung. Teils ist das Material von der Gemeinde beschlagnahmt worden.
DRK statt DLRG
Die Aufgaben der DLRG übernimmt in der DDR der Wasserrettungsdienst. Er gehört ab 1952 zum Deutschen Roten Kreuz. Das DRK verfügt anfangs über einen Stamm von 2.351 ausgebildeten Rettungsschwimmern und wirbt an Schulen sowie Betrieben um Nachwuchs. Die Werbekampagnen und ganzjährige Bezahlung der hauptamtlichen Schwimmmeister zeigen Wirkung. 1957 gibt es in der DDR 12.700 Rettungsschwimmer. Während mehr als 313.000 Wachstunden werden in diesem Jahr 658 Menschenleben gerettet.
Mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche Ende der 1960er-Jahre nimmt die Zahl der Badegäste derart zu, dass es an der Ostsee nicht gelingt, die erforderlichen 350 Rettungsschwimmer zu stellen. Hinzu kommen Anfang der 1970er-Jahre immer mehr internationale Gäste. Das DRK muss handeln und nimmt die Ausbildung zum Rettungsschwimmer in die Prüfungsordnung für Sportlehrer auf. Auch Sportstudenten werden nun verstärkt geworben.
Im Westen hingegen müssen sich die Wasserretter keine Gedanken um Nachwuchs machen. Von 1960-1980 erlebt die DLRG einen rasanten Aufschwung. Ihre Mitgliederzahlen steigen von 138.627 auf 474.448. 1983 feiert die Organisation 70 Jahre Sicherheit im und am Wasser. Sie ist mittlerweile nicht nur die erste und größte Wasserrettungsorganisation Deutschlands, sondern der ganzen Welt.
Wiedervereinigung: DLRG nutzt Chance im Osten
Im Osten verschwindet die DLRG nie ganz aus den Köpfen. Mit der Wiedervereinigung 1990 erwacht die DLRG in den ostdeutschen Ländern, nach 45 Jahren Trennung, wieder zum Leben.
Durch zahlreiche Kontakte von West nach Ost ist der Name DLRG nie ganz vergessen worden und es war eine logische Folge, dass nach dem 9. November 1989 die größte Wasserrettungsorganisation der Welt auch schnell in den neuen Bundesländern Fuß fassen sollte.
Bereits am 5. Februar 1990 gründet sich in Stralsund die erste Ortsgruppe der DLRG. Mit zusätzlicher West-Ausrüstung ist man für den ersten grenzenlosen Sommer gerüstet. Im Herbst gründen sich Landesverbände in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.
DLRG: Ein weltweiter Erfolg
Heute zählt die gemeinnützige Organisation mehr als 560.000 Mitglieder, davon mehr als 32.700 in Ostdeutschland. Seit ihrer Gründung 1913 ist es der DLRG gelungen, die jährliche Ertrinkungszahl um mehr als 90 Prozent zu senken – ein beachtlicher Erfolg, der seinen traurigen Anfang auf Rügen nahm.
DLRG-Sommerbilanz, Stand: September 2020 Nach Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft sind in den ersten acht Monaten des Jahres 2020 mindestens 329 Menschen in deutschen Gewässern ertrunken. Das sind 20 weniger als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Allerdings lag die Zahl der Todesfälle durch Ertrinken im Sommermonat August mit 117 so hoch wie seit vielen Jahren nicht. Unfallschwerpunkte sind nach wie vor Seen und Flüsse.
*In Zeitzeugenberichten, Presseerzeugnissen und offiziellen Statements gibt es unterschiedliche Darstellungen über den genauen Unglückszeitpunkt und die -ursache von 1912. Offen bleibt bis heute, ob die Brücke der Last der Menschenmassen nicht standhalten konnte oder der Anleger beim Eintreffen des Dampfers "Kronprinz Wilhelm" beschädigt wurde.