"Wohnzimmer" mit großer Geschichte Der Leipziger Techno-Club Distillery muss umziehen
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29. Juli 2022, 05:00 Uhr
Seit 1992 ist die Distillery in der Leipziger Südvorstadt Dreh- und Angelpunkt der hiesigen Techno-Szene. Der Club ist eng mit der Nachwende-Geschichte der Stadt verwoben. Künstler wie Sven Väth, Paul Kalkbrenner, Jeff Mills und Matthew Herbert sind in der Distillery bereits aufgetreten. Doch die Tage des Clubs hier sind gezählt.
Friedlich liegt die Distillery in der warmen Nachmittagssonne, doch hinter dem hohen Holzzaun sieht man schicke Mehrfamilienhäuser in die Höhe wachsen. Auf dem einstigen Bahngelände am Rand der Leipziger Südvorstadt, wo es früher außer Gleisen nichts gab, soll ein neues Wohnviertel entstehen.
Distillery ist nicht an einen Ort gebunden
"Unsere rote Linie ist: Die Distillery muss bestehen bleiben, sie ist aber nicht an einen Ort gebunden", sagt Distillery-Betreiber Steffen Kache. Bis einschließlich Januar 2023 darf der Club an seinem bisherigen Standort in der Kurt-Eisner-Straße bleiben, darauf einigten sich die Stadt Leipzig, die Distillery und die BUWOG Bauträger GmbH im Frühjahr 2022. Anschließend soll die Distillery vorübergehend auf die Alte Messe umziehen, bevor eine neue dauerhafte Location gefunden wird. Hintergrund des Umzugs sind Baumaßnahmen rund um das Stadtquartier unterhalb des Bayerischen Bahnhofs und ein damit verbundenes Artenschutzprogramm für die bedrohte Wechselkröte. Es wird der zweite Umzug in der Club-Geschichte, die auch eng mit der Nachwende-Geschichte der Stadt verwoben ist.
Illegaler Techno-Club
1992 gründete Kache mit ein paar Freunden die Distillery im Keller der alten Kronenbrauerei im Leipziger Stadtteil Connewitz. Die Techno-Fans hatten es satt, immer nach Berlin fahren zu müssen, wenn sie eine Techno-Party besuchen wollten. "Deswegen sind wir damals auf die Idee gekommen, selber einen Club zu eröffnen", sagt Kache. Über Genehmigungen oder Brandschutzbestimmungen machte sich in der Nachwendezeit niemand Gedanken: "Die Behörden waren mit sich selbst beschäftigt. Und damals waren noch wahnsinnig viele Flächen frei. Man konnte sich im Prinzip aussuchen, wo man irgendwas beginnt. Und die Behörden haben ein ganzes Jahr lang unseren Club nicht einmal bemerkt."
Demonstration für den Erhalt der Distillery
Als im Rathaus dann doch jemand bemerkte, dass ein illegaler Techno-Club seine Pforten eröffnet hatte, wollte die Stadtverwaltung die Distillery sofort schließen. Doch Betreiber und Gäste demonstrierten für den Erhalt des Clubs, der daraufhin noch eine Weile geduldet wurde. Im Jahr 1995 erfolgte der Umzug auf das einstige Bahngelände am Rand der Südvorstadt. Damals war es noch unproblematisch, eine passende Immobile zu finden.
Der Club als "Wohnzimmer"
Einen guten Club machen nicht nur gute Musik, ein guter Sound und eine wohlsortierte Bar aus. Es gehe auch darum, einen geschützten Raum zu schaffen, sagt Kache: "Wir nennen diesen Club nicht ohne Grund unser Wohnzimmer, weil das für uns eine eigene Welt ist, wo die Leute so sein können, wie sie wollen."
Weltbekannte Künstler traten in der Distillery auf
Einer, der diese Welt kurz nach dem Umzug zu ersten Mal betrat, ist Matthias Tanzmann, der damals noch ein Teenager war: "Dem Laden eilte damals ein irrer Ruf voraus, der sich dann auch sofort bestätigte. Das war wirklich großartig", erinnert er sich. Heute ist Tanzmann ein weltweit gefragter DJ, Produzent und einer der Köpfe hinter dem Leipziger Label Moon Harbour Recordings. Die Distillery war und ist für ihn ein wichtiger Ort, weil dort auch weltweit gefragte Künstler auflegten - Sven Väth, Paul Kalkbrenner, Jeff Mills und Matthew Herbert sind in der Distillery bereits aufgetreten.
Eine Bühne auch für lokale Künstler
Doch die Distillery bot auch unbekannten Künstlern eine erste größere Bühne. Matthias Tanzmann etwa hatte Mitte der 1990er-Jahre mit einem Freund auf einer Gartenparty aufgespielt. "Und über diese Gartenparty und über ein Demotape sind wir dann in die Distillery zum Auflegen gekommen", erinnert er sich. "Damals war alles noch offline, da gab es noch Tapes. Und man hat sich tatsächlich über Gartenpartys qualifizieren können für einen großen Techno-Club", sagt er und lacht. Mehr als 20 Jahre später ist die Distillery für ihn und sein Label Moon Harbour Recordings immer noch so etwas wie ein Heimathafen.
Lebendige Techno-Szene in Leipzig
Inzwischen hat die Distillery über ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel, was in dieser Branche schon recht ungewöhnlich ist, und ist dabei einer der wichtigsten Techno-Clubs des Landes geblieben. Die Distillery ist sicherlich auch nicht ganz unschuldig daran, dass es in Leipzig eine lebendige Techno-Szene gibt. Steffen Kache freut es, dass es inzwischen weitere Clubs für elektronische Musik in der Messestadt gibt. "Ich bin der Meinung, dass eine Szene viel stabiler ist, wenn es mehrere Läden gibt. Eine Stadt wie Leipzig verträgt eigentlich sogar noch mehr Clubs, als es jetzt schon gibt."
Zuversichtlicher Blick in die Zukunft
In den vergangenen Jahren ist nicht nur die Techno-Szene gewachsen, sondern auch die ganze Stadt. Und ein Zeichen des Wachstums ist eben das neue Wohngebiet, das nun dem Club auf die Pelle rückt. Doch noch etwas anderes hat sich verändert: Anders als in den Anfangsjahren sitzen nun auch Leute im Stadtrat und in der Verwaltung, die selbst oft in der Distillery tanzen waren. "Dadurch ist es für uns einfacher, mit der Stadt oder mit der Politik ins Gespräch zu kommen", sagt Steffen Kache. Ein Grund mehr für die Distillery-Betreiber und ihre Gäste, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.
(Dieser Artikel wurde erstmals im März 2019 veröffentlicht und im Juli 2022 mit dem aktuellen Stand zum Umzug ergänzt.)
Dieses Thema im Programm: Das Erste | Techno House Deutschland | 31. Juli 2022 | 23:40 Uhr