Interview Filmemacherin Dr. Ute Gebhardt und ihre Begegnung mit Stefan Jerzy Zweig
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20. April 2020, 11:16 Uhr
In ihrer Fernsehdokumentation "Das Buchenwaldkind oder Was vom Antifaschismus bleibt" erzählt die Fernsehjournalistin Dr. Ute Gebhardt die tragische Geschichte des "Buchenwaldkinds" Stefan Jerzy Zweig. Ihr Fazit: "Es ist eine unendlich bittere Geschichte, mit der man sich nicht versöhnen kann."
Als der Roman "Nackt unter Wölfen" 1958 erschien, war das Vorbild des "Buchenwaldkindes", Stefan Jerzy Zweig, noch unentdeckt.
Ute Gebhardt: Es hatten sich nach Erscheinen des Romans andere überlebende Kinder gemeldet, die Geschichten passten aber nie ganz zusammen. 1963 wurde die Verfilmung des Romans auf dem Moskauer Filmfestival präsentiert. Der Film galt als Favorit für den Hauptpreis, aber es gewann Fellinis "8 ½". Der Einwand der Jury gegen "Nackt unter Wölfen" war, dass es sich um eine Heroisierung der Deutschen im Widerstand handelt. Auch wurde angezweifelt, dass die Geschichte sich tatsächlich so zugetragen habe.
Einen unerwarteten Erfolg hatte das Moskauer Filmfest aber immerhin …
In Moskau meldete sich eine Familie bei der DDR-Delegation, die sagte, uns kommt die Geschichte bekannt vor und wir kennen da jemanden, der in Tel Aviv lebt. Und sie gaben ihnen die Adresse des Vaters, Zacharias Zweig. Eine Mitarbeiterin der "BZ am Abend" hatte damals ein Israel-Visum und fuhr hin. Sie traf Zacharias Zweig, gab ihm das Buch von Apitz und Zacharias Zweig soll gesagt haben: "Ja, so war es gewesen." Obwohl es schwerwiegende Unterschiede zwischen Apitz' Roman und der tatsächlichen Geschichte gab, war man sich einig – Stefan Jerzy Zweig ist das "Buchenwaldkind".
Stefan Jerzy Zweig wurde zu einem Besuch in die DDR eingeladen. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf seinen Besuch?
"Das Buchenwaldkind kommt!", "Jerzy kommt in die DDR", "Jerzy trifft seine Retter in Buchenwald" – das waren damals die Titel in den Zeitungen. Gisela Karau, damals Reporterin bei der "BZ am Abend", sagt: "Es war wirklich eine ehrliche Freude, da war nichts verordnet, und es schien allen wie ein wahr gewordenes Märchen, dass dieses Kind doch noch gefunden worden war."
1964 siedelte Stefan Jerzy Zweig dann nach Ost-Berlin über …
Er wurde eingeladen, in der DDR zu studieren. Er hatte zunächst gezögert und sich mit seinem Vater beraten. Der war sich der Risiken bewusst, eine solche Einladung anzunehmen. Er sah vor allem die Gefahr, dass sein Sohn auf ein Podest gestellt wird, von dem er nicht mehr herunter kommt. Aber Stefan Jerzy Zweig entschloss sich trotz allem für die DDR. Er war damals unzufrieden mit seinem Mathematik-Studium, dass er in Lyon absolvierte, und hatte auch keine anderen konkreten Pläne.
Zweig studierte an der Filmhochschule und wurde Kameramann. Doch eigentlich verblieb er in der Rolle des "Buchenwaldkindes"…
Die Versuche, ihn aufs Podest zu stellen, ihn in die Rolle einer lebendig gewordenen Romanfigur zu nötigen und als lebendigen Beweis für den heldenhaften Widerstand im KZ zu instrumentalisieren, die gab’s unentwegt. Und er war natürlich in einer sehr verzweifelten Situation, einerseits seine Retter nicht zu brüskieren, sie nicht zu beleidigen, sie nicht zurückzuweisen, doch natürlich kann kein Mensch eine Romanfigur werden. Also er befand sich in einer ganz zwiespältigen, hochkomplizierten Lage, aus der er sich oft durch eine gewisse Bockigkeit befreit hatte. 1972 verließ er schließlich die DDR.
Die Versuche, ihn aufs Podest zu stellen, ihn in die Rolle einer lebendig gewordenen Romanfigur zu nötigen und als lebendigen Beweis für den heldenhaften Widerstand im KZ zu instrumentalisieren, die gab’s unentwegt.
Seit dem Ende der DDR schwelt ein Konflikt zwischen den Verantwortlichen der Gedenkstätte Buchenwald und Stefan Jerzy Zweig. Wo liegt die Ursache dafür?
1999 hatte das Kuratorium der Gedenkstätte Buchenwald/Dora beschlossen, die in heroisierenden Ton gehaltenen DDR-Erinnerungstafeln abzumontieren. Man wollte stattdessen lediglich Informationstafeln aufstellen. Und so hat man auch die Gedenktafel für Stefan Jerzy Zweig vom Effektengebäude abmontiert, auf der die Rettungstat der Häftlinge der Effektenkammer beschrieben war. Für ihn war das ein unglaublicher Affront. Im Nachwort zu Stefan Jerzy Zweigs Buch "Tränen allein genügen nicht" (Zweigs Biographie, Anm. d. Red.) schrieb Elfriede Jelinek: "Wenn man einem Menschen seinen Namen nimmt, löscht man ihn ein zweites Mal aus." Die Gedenkstätte rechtfertigte sich mit der Anbringung einer Informationstafel, auf der von der Rettung von insgesamt 900 Kindern und Jugendlichen im KZ Buchenwald die Rede ist. Aber Stefan Jerzy Zweig kann nicht verwinden, dass sein Name getilgt wurde.
Ein Jahr zuvor war zudem ein Dokument entdeckt worden, dass die Rettungsgeschichte Stefan Jerzy Zweigs vollends zu einer Tragödie umkehrte ...
Zweig kannte das Dokument nicht und es muss für ihn auch ein Schock gewesen sein. Obwohl es bereits im Bericht seines Vaters aus dem Jahre 1964 Hinweise darauf gibt, dass sein Sohn nur gerettet werden konnte, indem die Transportliste durch einen anderen Namen ergänzt wurde. Das mündete damals in einigen Publikationen in der Frage: Was soll das für eine Rettung gewesen sein, wenn dafür ein anderes Kind sterben musste?
Wie hat sich die Rettung Stefan Jerzy Zweigs abgespielt?
Die SS hatte befohlen, das Lager von "arbeitsunfähigen Elementen" zu "säubern" und einen Kindertransport zusammengestellt. An 200. Stelle auf der Transportliste stand Stefan Jerzy Zweig. Wie die Rettung sich im Einzelnen abspielte, ist nicht überliefert. Aber den Häftlingen gelang es irgendwie, einen SS-Arzt im Krankenbau zu bestechen. Dort bekam der kleine Stefan Jerzy eine Fieber auslösende Spritze – fiebernde Häftlinge wurden nicht auf Transport geschickt. Doch der Transport, darauf bestand die SS, musste vollzählig sein. Es wurde eine Ergänzungsliste geschrieben, und darauf steht an letzter Stelle der Name Willy Blum. Willy Blum war ein 16-jähriger Sinto-Junge aus Sachsen.
Diese Aktion ist von den Historikern 1998 als "Opfertausch" bezeichnet worden. Auf diesen Begriff reagierte Stefan Jerzy Zweig allergisch, weil es für ihn impliziert, dass ihn Schuld am Tod von Willy Blum trifft. Natürlich ist das eine Überinterpretation - wie kann ein dreijähriges Kind Schuld an einer solchen Tragödie sein?
Es ist eine unendlich bittere Geschichte, mit der man sich nicht versöhnen kann.
Die aber auch verdeutlicht, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt …
Die Geschichte Stefan Jerzy Zweigs zeigt, dass Rettungsversuche im KZ oft einen schrecklichen Preis hatten. Vielleicht erzählt sie auch etwas über die Naivität von uns Nachgeborenen. Wir wollten natürlich gern glauben, dass es unter den unmenschlichen Bedingungen des Lagers moralische Sieger gab ...
Dr. Ute Gebhardt
1963 in Weimar geboren, studierte Kunst und Germanistik. Von 1992 bis 1996 war sie Mitarbeiterin des MDR, seither ist sie freie Fernsehjournalistin.
Sie hat u.a. an dem mit dem Adolf-Grimme-Preis gewürdigten Multimediaprojekt "Damals in der DDR" mitgewirkt.
2006 wurde sie für ihre Dokumentation "Die Kinder von Buchenwald" mit dem Thüringer Journalistenpreis ausgezeichnet.
Buchtipp:
Zacharias Zweig (posthum) und Stefan Jerzy Zweig: Tränen allein genügen nicht
mit einem Nachwort von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, herausgegeben im Eigenverlag: Wien 2005; 34 Euro
Bill Niven: Das Buchenwaldkind.
Wahrheit, Fiktion und Propaganda. Mitteldeutscher Verlag, 2009, Hardcover, 327 Seiten, ISBN: 978-3-89812-566-6
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Fernsehen: Thüringenjournal | 08.05.2018 | 19:00 Uhr